Dragon Endurance an ISS

ISS

Crew-7 members joined the seven-member Exp 69 crew aboard the space station today, expanding its population to 11.

Was gäbe ich darum, da mal mitfliegen zu können! Der Weltraum! Unendliche Weiten!

Die Mission besteht aus der NASA-Astronautin Jasmin Moghbeli, dem dänischen ESA-Raumfahrer Andreas Mogensen, dem JAXA-Astronauten Satoshi Furukawa und dem russischen Kosmonauten Konstantin Borissow. Voraussichtlich wird die Crew ein halbes Jahr lang auf der ISS verbringen. Derzeit sind auf dem Außenposten der Menschheit die russischen Kosmonauten Sergei Prokopjew, Dmitri Petelin und Andrei Fedjajew, die US-Astronauten Frank Rubio, Stephen Bowen und Warren Hoburg sowie der Raumfahrer Sultan al-Nejadi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig. (Russische Propaganda, daher automatisch voll gelogen. Ich empfehle übrigens zu schreiben: „Zur Zeit arbeiten auf dem Außenposten der Menschheit die Kosmonauten… usw.“)

Da so viele sowjetische Kosmonauten Russen dabei sind, berichten die Qualitätsmedien nur sehr verhalten oder lassen diese störende Tatsache unter den Tisch fallen.

Aus der Perspektive der ISS sehen manche Dinge vermutlich anders aus…

ISS

Mehr- und Minderleister

indian space mission
Credits: Indian Space Research Organisation

Die Inder sind auf dem Mond gelandet. Virtuell war ich da schon 2007. By the way: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat Indien im vergangenen Jahr Mittel der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Höhe von 987,52 Millionen Euro zugesagt. Da schreiben sich die Kommentare wie von selbst. Sollte das nicht eher umgekehrt sein? Indien ist auf dem Mond, und wir schaffen es noch nicht mal nach Australien?

Aber so ist es in Germanistan: „In einem Land, in dem Minderleister wie Claudia Roth, Frank-Walter Steinmeier und Manuela Schwesig politische Karrieren machen konnten, Richard David Precht als Philosoph gilt und Robert Habeck den Ludwig-Börne-Preis bekommt, in einem solchen Land ist etwas schiefgelaufen, irreversibel.“

Unter Noceboiker

klima

Massenhysterie bezeichnet eine starke emotionale Erregung in großen Menschenmengen. Die Ursache ist pathogenetisch betrachtet eine psychische Störung. Die kollektive Angst vor etwas wird durch psychologische und nicht-medizinische Faktoren, vor allem durch die öffentliche Aufmerksamkeit der Massenmedien, beeinflusst, wie etwa bei der Arjenyattah-Epidemie oder der Tanganjika-Lachepidemie. Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt sorgt der Nocebo-Effekt – allein die Erwartung negativer Folgen – dafür, dass diese tatsächlich zu spüren sind.

Religion ist Wahrheit

Jesus
Jesus und Jünger, zeitgenössische Wandmalerei des Famulus, ca. 64 n. Christus, zur Zeit Kaiser Neros, Domus Aurea

„Ihr habt eine törichte Lehre angenommen, macht euch selbst einen Christus und geht darum jetzt in eurem Leichtsinn zugrunde.“ (Justin der Märtyrer († um 165) – Dialog mit dem Juden Tryphon)

Hier also das schon angekündigte Wort zum Sonntag. Um mich meditativ zu versenken und mental darauf vorzubereiten, las ich, wie zu erkennen war, Rudolf Augsteins „Jesus Menschensohn“, dessen erste Auflange schon 1972 erschien. Ein Rezensent schrieb im Vorwort der US-amerikanischen Ausgabe: „In Jesus Menschensohn sind viele schlechte Nachrichten, die aus der guten Nachricht aus Galiläa resultierten, mit kühler Eleganz beschrieben. Vor drei Jahrhunderten hätten sie dem Autor den Scheiterhaufen auf dem Campo dei Fiori in Rom beschert.“

Das ist eine grandiose Empfehlung, die ich für meine Bücher auch gern bekommen hätte. Ich will das Buch nicht besprechen. Nur so viel: Jesus von Nazareth hat es gar nicht gegeben, und aus Nazareth war er auch nicht (sondern Nazoräer aka nasiräer oder nazrájja aka „die Bewahrer“- aber was kümmert die Religioten, wenn etwas falsch aus dem Aramäischen, Griechischen oder Hebräischen übersetzt wurde.) Herodes hat auch keine Babys ermorden lassen, und Bethlehem war nicht der Geburtsort des Messias. Wenn ich jetzt aufzählte, was noch alles im so genannten Neues Testament erlogen, erfunden oder falsch übersetzt wurde, wäre das Traktat so lang wie die Bibel selbst. Viele Theologen wissen das, aber wenn sie es sagten, wäre ihre berufliche Laufbahn ruiniert, so meint Augstein und zitiert viele Quellen dazu.

jesus
„Christus et discipuli eius“, unbekannter Künstler zur Zeit Kaiser Neros, Fresko im Casa dell’Ara massima, Pompeji

Es gibt nicht nur keine validen Quellen, sondern diejenigen, die Jesus erwähnen, widersprechen sich ständig. Eigentlich stimmt gar nichts an der angeblichen historischen Figur. Sobald die Katze aus dem Sack war, also die frommen Märchen später, oftmals Jahrhunderte später, wiedergekäut wurden, redigierten und retuschierten die Kirchenväter und ihre Epigonen viele Details, die nicht in den Kram passten. Oder die Theologen „einigten sich mehrheitlich“ auf irgendetwas, weil es keine Fakten gab, Christus „der Erlöser“ aber dringend existent sein musste.

Oder, wie Gerhard Möbus in seinem Buch »Die Christus-Frage in Goethes Leben und Werk« befand: »Die Mehrdeutigkeit seiner Äußerungen über das Christsein« ändert nichts daran, daß Goethes Grundüberzeugung (Möbus nennt es seine »Vorentscheidung«,) feststeht: »Daß das Christsein ein Irrtum ist, der mit Gewissen, Vernunft und Wirklichkeit unverträglich ist und der seine Anhänger in den Zustand der Lügenhaftigkeit und Unredlichkeit versetzt, wenn sie auf einer höheren Bewußtseinsstufe stehen.«

Jesus
Wandmalerei in Pompeji, Macellum, Tempera-Stil, Künstler unbekannt, Kopie einer Wandmalerei samt Inschrift auf einer Mauer in Galiläa: המשיח מנצרת, הנקרא כריסטוס

Wie kommt man gegen Mythen dieser Art an? Gar nicht. Man sollte auch nicht die Religion an sich beschimpfen, weil sie ein falsches Bewusstsein der Realität ist, eben ein „Seufzer der bedrängten Kreatur“, wie jemand mal sagte. „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“

Angesichts der spärlichen Belege kann man fragen, ob denn der ganze Jesus nicht eine aus mehreren Figuren und Strömungen synthetisch in eins geflossene Erscheinung sei, in der Phantasie hellenistisch gebildeter Juden als eine personifizierte Heilserwartung des jüdischen Volkes unbewußt erschaffen.“ (Rudolf Augstein)

Full ack, Euer Ehren, aber wir ruinierten auch die Tourismusindustrie in Israel, insbesondere in Jerusalem. Bethlehem, Nazareth. Nur Potemkinsche Dörfer. Sagte da jemand Jericho?

Vor 13 Jahren schrieb ich: Ich wette, dass in deutschen Schulklassen immer noch die fromme Legende erzählt wird, es habe einen „Auszug Israels“ aus Ägypten oder gar die sprichwörtlichen „Posaunen vor Jericho“ gegeben. Seit Israel Finkelsteins (…) Buch „Keine Posaunen vor Jericho: Die archäologische Wahrheit über die Bibel“ wissen wir, dass alles das ein gut erfundenes Propaganda-Märchen ist. Das ist nicht Geschichte und Realität, sondern ein Mythos!

exodus
Auszug der Israeliten aus Ägypten, Öl auf Leinwand, Jacques-Louis David im Auftrag Napoleons, heute im Louvee. Das Gemälde ist eine Kopie einer verloren gegangenen Wandmalerei aus der Zeit des Neuen Reiches (18. bis 20. Dynastie, etwa 1500–1000 v. Chr.. Die ursprüngliche Beschriftung war in Hieratisch.)

Die religiösen Zionisten Israels und andere Orthodoxe warten bekanntlich auch auf den Messias. Ob der jemals kommt? Man könnte das beschleunigen, indem man den Felsendom schon mal in die Luft sprengt, um Platz für den dritten Tempel zu schaffen, der dort stehen soll. Leider gibt es für den ersten Tempel keine archäologischen oder sonstigen überprüfbaren Quellen, nur fromme Geschichten, so dass man über die Zählung eins, zwei, drei trefflich streiten kann. Der Felsendom ist übrigens auch nicht die drittheiligste Stätte des Islam, auch das ist Bullshit-Bingo. Im 19. Jahrhundert war das Gebäude in einem jämmerlichen Zustand, und niemand kümmerte es.

exodus
wie oben, aber Vatikanisches Geheimarchiv

Mohammed
Die Himmelfahrt Mohammeds, gemalt nach Augenzeugenberichten, frühes 8. Jahrhundert (Kopie). Titel auf dem verloren gegangenen Original: araǧa bi-rasūli ʾllāh ilā ʾs-samāʾ as-sābiʿa.

Kosmonautische Spezialoperation

Sojus-2.1b

Russland hat eine kosmonautische Spezialoperation zum Mond gestartet. Glückwunsch!

Roskosmos

roskosmos
Credits: Roskosmos

Die Russen fliegen nicht nur in die Ukraine, sondern auch auf den Mond, melden die Qualitätsmedien, die Franzosen, Novosti und andere russischen Medien (also automatisch voll gelogen).

Russia said Monday it plans to launch a lunar lander this week after multiple delays, hoping to return to the Moon for the first time in nearly fifty years.

By the way: Bei mir ist die Website von Roskosmos down bzw. error 303 und nur noch bei archive.org erreichbar. Dort scheint man seit dem Einmarsch in die Ukraine die russische Weltraumorganisation nicht mehr indiziert, aber sich dann nach ein paar Monaten anders entschieden zu haben. (Oder sehe ich etwas falsch?)

kosmonaut
Kosmonaut (!) -(Symboldbild made by Midjourney/Burks)

Projekt Sirius

projekt Sirius

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, als die Russen noch keinen Krieg angefangen hatten und Wissenschaftler noch kooperierten, berichtete IFLScience (aus dem sie das fucking gestrichen haben wegen der Werbekunden) über das russische Projekt Sirius (Scientific International Research In Unique terrestrial Station).

Scientists Are Testing Astronauts In Long Mars Simulations, And The Results Are Worrying. Das ist natürlich spannend, und auch eine gute Gelegenheit, die KI auf das Thema loszulassen.

Die Russen titeln: Das 120-tägige Isolationsexperiment reproduziert die Hauptmerkmale eines echten Raumflugs zum Mond und umfasst die folgenden Phasen: Flug zum Satelliten, gefolgt von einem Vorbeiflug zur Suche nach einem Landeplatz, Landung von vier Besatzungsmitgliedern für Operationen an der Oberfläche, Aufenthalt in der Mondumlaufbahn und Fernsteuerung des Mondrovers zur Vorbereitung der Basis, Rückkehr zur Erde.

KI
genesis evolution artificial intelligence –chaos 100 –s 750

ChatGPT übersetzt: „Sie begannen mit einem Startvorgang, bevor sie auf der unwirtlichen Umgebung eines spezialisierten Bereichs innerhalb der Trainingsanlage landeten. Die Besatzung wurde dann gemeinsam in Kapseln eingesperrt, erhielt minimale Rationen und Vorräte und war der vollständigen Isolation der tatsächlichen Mission ausgesetzt.“

„Die Analyse der Experimente ergab mehrere Schlussfolgerungen, einige positiv, während andere problematischer waren. Die Besatzung erhöhte tatsächlich ihre Kommunikation mit dem Missionskontrollzentrum (MCC) in der Mitte der Simulation, die die Marslandung beinhaltete, wurde dann aber später distanzierter und reduzierte die Kommunikation mit dem MCC. Sie verließen sich weniger auf die Empfehlungen des MCC und wurden autonomer, da sie sich an ihre Mission anpassten.“

„Obwohl es positiv ist, dass die Besatzung in der Lage war, eigenständig zu handeln und autonom zu leben, ist eine Entfremdung vom MCC ein besorgniserregendes Phänomen.“

Das ist der Plot in zahllosen Science-Fiction-Roman und -filmen. Das hätte ich ihnen auch vorher verraten können.

KI
Research::3 on the psychology and human performance for female astronauts in prolonged isolation on space exploration missions, cinematic light, Clear face and features, no smudging, insanely detailed and intricate, hypermaximalist, hyper realistic, super detailed –ar 16:9 –s 750

„Die negative Seite ist, dass das Missionskontrollzentrum die Möglichkeit verliert, die Bedürfnisse und Probleme der Besatzung zu verstehen, was folglich die Fähigkeit des Missionskontrollzentrums einschränkt, Unterstützung zu bieten“, sagte Co-Autor Dmitry Shved von der Russischen Akademie der Wissenschaften und dem Moskauer Luftfahrtinstitut in einer Erklärung gegenüber CNET.“ [Warum können die alle keine Links setzen?]

„Es gab auch eine interessante Korrelation zwischen den männlichen und weiblichen Besatzungsmitgliedern. Ähnlich wie bei früheren Experimenten berichteten Frauen häufiger über Probleme an das MCC und äußerten ihre Unterstützung, wobei ihre Kommunikationsstile emotionaler waren. Die Männer hingegen waren weniger geneigt, dem MCC Bericht zu erstatten. Interessanterweise hatten sich Männer und Frauen bis zum Ende der Simulation an die Kommunikationsstile des jeweils anderen angepasst und zeigten ein ähnliches Maß an Emotionen und Regelmäßigkeit der Kommunikation.“

Überraschung! Frauen sind im Durchschnitt emotionaler, Männer weniger. Wenn man aufeinander angewiesen ist, ändert sich das. Auch das kennt man aus der Vorurteilsforschung und auf dem Arbeitsleben.

KI
Research on the psychology and human performance of astronauts in prolonged isolation on space exploration missions, cinematic light, Clear face and features, no smudging, insanely detailed and intricate, hypermaximalist, hyper realistic, super detailed –ar 16:9 –s 750

„Natürlich ist es aufgrund der Teilnahme von nur 12 Personen an den Simulationen auch möglich, dass Abweichungen zwischen Gruppen und Einzelpersonen rein auf individuelle Unterschiede zurückzuführen sind, sodass keine Verallgemeinerungen gezogen werden können, bevor weitere Forschung durchgeführt wird.“

Wer hätte das gedacht. Das Ergebnis:

It should be generally noted that while the male and female parts of the SIRIUS-19 crew showed significant differences in the style and content of their communication with the control center in the first month of isolation; then, during the experiment, these differences were smoothed out.

It is quite interesting that similar tendencies were also noted according to the data of sociopsychological studies. In the course of isolation, the sociometric cohesion increased and the structure of the group consolidated for the situation associated with participation in the isolation experiment (work activity). The sociometric structure according to the criterion of „joint leisure activities“ from the very beginning reflected a very high level of cohesion of the crew..

Wisst ihr Bescheid, wenn ihr mal rausfliegt.

KI
Research on the psychology and human performance of astronauts in prolonged isolation on space exploration missions, cinematic light, Clear face and features, no smudging, insanely detailed and intricate, hypermaximalist, hyper realistic, super detailed –ar 16:9 –s 750

Drogen gegen Drogen


drugs
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– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Das englische Modell – Heroin auf Krankenschein

In England verschreiben Ärzte ihren drogenabhängigen Patienten Heroin auf Krankenschein. In Deutschland ist das zur Zeit ein Ding der Unmöglichkeit. Das Betäubungsmittelgesetz nämlich ordnet Heroin unter die «nicht verkehrsfähigen Substanzen» ein. Auf deutsch: Der Stoff ist absolut verboten, er darf auch nicht als Medikament eingesetzt werden.

Ein vergleichbares Gesetz gibt es jenseits des Ärmelkanals nicht. Zwar hat England sich schon vor langer Zeit in einem internationalen Übereinkommen verpflichtet, die Versorgung mit Psychopharmaka «zu regeln», man überließ es aber den Medizinern, wie mit dieser Bestimmung umzugehen sei. Eine Kommission von neun Ärzten – benannt nach ihrem Vorsitzenden Humphrey Rolleston – definierte schon 1926 die Opiat-Abhängigkeit als Krankheit, zu deren Behandlung auch die zeitweilige Versorgung der Patienten mit ihrer Droge durch den Arzt gehörte — mit dem Ziel, sie entweder, nach einer gewissen Zeit, abstinent zu machen, oder, wenn die Entzüge scheiterten, langfristig zu substituieren.

Im Gegensatz zu Deutschland hielten sich die staatlichen Behörden zurück: Sie schrieben – und schreiben – den Ärzten nicht vor, wie sie in einem bestimmten Fall zu praktizieren hätten. Schon 1858 hatte ein Ärztegesetz bestimmt, dass sich «keine Orthodoxie» bilden dürfe. Das heißt: Keine Institution darf den Medizinern eine einzige, «alleinseligmachende» Behandlungsmethode für eine Krankheit auf zwingen. Über die Einhaltung des Gesetzes wacht eine Gruppe von Ärzten, die von ihren Kollegen gewählt wird. Die englische ÄrzteLobby vereitelte auch den Versuch des Innenministeriums im Jahre 1955, der pharmazeutischen Industrie die Herstellung von Heroin zu untersagen.

Lange Zeit lag die Zahl der Opiat-Süchtigen in England relativ konstant bei rund 500. Diese «Junkies» waren vorwiegend Angehörige der Mittelschicht, die aus gesundheitlichen Gründen mit Morphium oder Heroin versorgt wurden oder die – wie nach dem Krieg in Deutschland das medizinische Personal – aus beruflichen Gründen leicht an die Droge herankamen. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren. Zwischen 1964 und 1968 stieg die Zahl der Heroin-Konsumenten rapide an, allein in zwei Jahren – 1968/69 verdoppelte sie sich.

Die Gründe dafür lagen allerdings weder in einer wachsenden Zahl von «Suchtpersönlichkeiten» noch im «ideologischen Hintergrund der Hippie-Kultur», wie es einige Theoretiker gern sähen. Schuld war vielmehr ein halbes Dutzend Ärzte, vor allem in London, die gegen Bezahlung Privatrezepte über große Mengen ausstellten und damit indirekt auch die Nachfrage nordamerikanischer Touristen befriedigten. So hatte ein einziger Arzt 1962 sechs Kilogramm (!) Heroin ausgegeben – mehr als die Hälfte der Menge, die seine Kollegen insgesamt verordnet hatten. (1)

Vergleichbar ist diese Entwicklung mit der heutigen Situation in Deutschland, wo die Medikamentenabhängigkeit, vor allem von Benzodiazepinen, durch die unverantwortliche Verschreibungspraxis vieler Ärzte gefördert wird.

Aufgrund dieses Missstands änderte die englische Regierung das System: Den Hausärzten wurde in der Regel verboten, Heroin zu verschreiben. An ihre Stelle traten die «Drug Dependence Clinics» (Drogenpolikliniken), die die Substitution Drogenabhängiger übernahmen. Diese mussten sich registrieren lassen, um Mehrfachverschreibungen zu verhindern. Nur einige, speziell ausgebildete Allgemeinmediziner behielten die Lizenz, um Kokain, Cannabinol, Morphin, Methadon und andere Rauschstoffe abzugeben. Für die ausschließlich medizinische Indikation, etwa bei Herzanfällen, durften und dürfen aber alle englischen Ärzte nach wie vor auch Heroin verschreiben. (2)

Eine Tradition des «englischen Modells» blieb erhalten: Jedes Ärzte-Team in den Drogenpolikliniken — unter Leitung eines verantwortlichen Psychiaters – wählte die Behandlungsmethode, die es für richtig hielt. Deshalb gibt es kein allgemeinverbindliches Modell. Die «englische Methode» besteht darin, dass jeder seine eigene wählt: entweder die stationäre Entgiftung, Heroin-Erhaltungsprogramme mit oder ohne Betreuung oder die Substitution mit Methadon. Ein Parlamentarier hatte 1971, während der Beratungen zu der veränderten Gesetzgebung, den bemerkenswerten Satz geprägt: «Wir wissen zwar nicht, was wir mit den Süchtigen anfangen sollen, aber die Ärzte sollten etwas darüber wissen.» (3) In Deutschland ist es genau umgekehrt: Die Ärzte haben keine Ahnung und verlassen sich auf die Vorgaben der nicht besser informierten Politiker.

Das Resultat der geänderten Praxis war zunächst enttäuschend. Ein Jahr nach Gründung der Drogenpolikliniken waren die meisten derjenigen, die mit Heroin substituiert wurden, ihrem Leben in der illegalen Szene treu geblieben. Nur der Beschaffungsdruck hatte abgenommen. Nach zehn Jahren allerdings sah die Situation anders aus: Ein Drittel der Kontrollgruppe lebte mittlerweile drogenfrei, knapp 40 Prozent waren noch in Behandlung – entweder mit Heroin oder mit Methadon -, und 15 Prozent waren gestorben. Die Drogenpolikliniken gingen immer mehr dazu über, statt Heroin die «Ersatzdroge» Methadon zu verschreiben. Diese hat den Vorteil, nicht so stark zu euphorisieren und länger im Körper zu bleiben – die Abhängigen müssen also nicht mehr so häufig zum Arzt.


drugs

Die Kritiker des englischen Modells – vor allem aus Deutschland – bemängeln, dass die Verschreibung von Heroin und Methadon nicht zum Entzug und zur Abstinenz motiviere und in der Regel «suchtverlängernd» wirke. Die «süchtige Fehlhaltung» ändere sich nicht. (4)

Offenbar sind diese Kritiker nicht bereit, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich zeigte die Zehnjahresuntersuchung, dass drei Viertel aller Patienten entweder noch in Obhut der Ärzte waren oder drogenfrei lebten. Die letztere Gruppe – immerhin ein Drittel -, das können selbst die Abstinenz-Verfechter nicht leugnen, «zeigte in ihrem Verhalten keinen Unterschied mehr zur Normalbevölkerung».5 Was nicht erreicht wurde ist, dass die überwiegende Anzahl der Süchtigen «genesen» war. Wenn man dieses Ergebnis jedoch mit der Erfolgsquote der Drogentherapie in Deutschland vergleicht, die selbst wohlmeinende Fachleute unter der Zehn-Prozent-Marke ansiedeln, wird die ideologische Verbohrtheit der Kritiker deutlich.

Schadensverhütung scheint für die orthodoxen Vertreter der Drogenpolitik in Deutschland irrelevant zu sein. Vielmehr kommt es auf die richtige Weltanschauung an: Der Mensch hat einen Bogen um die Drogen zu machen, egal, um welchen Preis. Wer Drogen konsumiert, auch wenn er in sozial stabilen Verhältnissen lebt, einer Arbeit nachgeht und seinen Mitmenschen nicht über Gebühr schadet, macht sich des «süchtigen Fehlverhaltens» schuldig. Dieses kann nur dadurch bekämpft werden, «dass die Konsequenzen der Sucht negativ erlebt und bewusst wahrgenommen werden». (5)

Damit nehmen die Abstinenz-Philosophen in Kauf, dass Drogenabhängige für Jahre ins Gefängnis wandern oder sich aus Verzweiflung selbst töten – ein beispielloser Zynismus, der aber so tief in irrationalen Ängsten verwurzelt ist, dass Argumente nichts fruchten.

Bezeichnend ist auch das Fazit, das ein Hardliner der deutschen Drogenpolitik – der Leiter einer Münchener Drogenberatung – zieht: «Trotzdem bleibt die Frage offen, was mit chronischen, depravierten Opiatabhängigen geschehen sollte.» (6) In der Tat, diese Frage können die Verfechter einer «drogenfreien» Gesellschaft nicht beantworten. Unterderhand suggeriert ihre eingestandene Hilflosigkeit, dass bei den «Unwilligen» ohnehin alle Bemühungen vergeblich seien und man diese der Justiz oder ärztlichen Zwangsmaßnahmen überlassen könne.


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(1) Vgl. S. Kappel: Aspekte der Entwicklung des «Britischen Systems» der Behandlung Opiatabhängiger. In: In:Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 1980, S. 33ff
(2) Dr. John Marks aus Widnes bei Liverpool schätzt, daß ca. 10% der Psychiater «schon immer» Heroin verschrieben hätten, jetzt seien es «wahrscheinlich über 25 % » (briefliche Mitteilung), vgl. J. Marks: Das englische System in Widnes, Merseyside (fotokop. Manuskript o.J.), S.3
(3) So R. Wille in: D. Kleiner (1987), S. 206

Der Arzt der Geächteten


drugs
diacetylmorphine –chaos 100 –s 750 –s 750

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Selbst der friedfertigste Mensch wird, wenn er die Praxis des Dr. med. Gorm Grimm in Kiel verlässt, sein Bedürfnis nach Harmonie und seine Abneigung gegen Streit überdenken. Ein Gespräch mit dem bundesweit bekannten «Drogenarzt» provoziert eine klare Stellungnahme, für oder gegen, schwarz oder weiß, ja oder nein. Entweder ist dieser schmächtige, weißhaarige Mann mit zarten Händen und leiser Stimme ein Scharlatan, dem sofort das Handwerk gelegt werden muss, oder die Verfechter der traditionellen deutschen Drogenpolitik sind allesamt inkompetent oder nicht ganz bei Trost.

Die Gegner des Gorm Grimm – Ärztekammern, eine Heerschar von hochqualifizierten «Suchtexperten», Politiker, Richter, Staatsanwälte, Krankenkassen, Drogenberater und Kollegen der medizinischen Zunft – verzichten auf vornehme Zurückhaltung, wenn sie auf das Thema angesprochen werden. Von «Monsterpraxis» ist die Rede, oder: «Das ist ein Psychopath.» Seine Anhänger, die Patienten, sind anderer Meinung. Auch ihre Stellungnahmen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Der einzige, der mir geholfen hat», «Er hat mich vor dem Selbstmord bewahrt», oder: «Ich liebe diesen Mann.» Gorm Grimm dürfte der einzige deutsche Arzt sein, dessen Patienten für ihn auf die Straße gegangen sind: Im Frühjahr 1992 formierten sich rund hundert Drogenabhängige zu einem Demonstrationszug durch die Kieler Innenstadt, um ihren Doktor zu unterstützen.

Was macht Gorm Grimm, dass die Krankenkassen eine Lawine von Prozessen gegen ihn losgetreten haben, dass er wegen «fahrlässiger Tötung» und «Körperverletzung» angezeigt und dass seine Praxis von Kriminalbeamten durchsucht wurde, daß ihm mehrfach die Zulassung entzogen werden sollte? Gorm Grimm lächelt auf diese Frage nur schwach, als sei er müde, gewisse Dinge immer und immer wiederholen zu müssen. «Ich nehme den hippokratischen Eid ernst.» Dort sei davon die Rede, der Arzt müsse «die Gesundheit schützen und wiederherstellen, Leid verhindern und lindern». Aber dagegen könne doch niemand etwas sagen? «Da täuschen Sie sich. Ich praktiziere unter kriegsähnlichen Bedingungen.»

Das scheint ein wenig übertrieben, aber dennoch: Die Vehemenz und Hartnäckigkeit, mit der seine Gegner ihn mit juristischen Mitteln bekämpfen, lässt sich mit rationalen Argumenten kaum erklären. Gorm Grimm substituiert mehrere hundert HeroinAbhängige zum Teil seit über zehn Jahren mit Codein-Präparaten, die nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen und die in jeder Apotheke verkauft werden: Mit Remedacen, einem Hustenmittel, mit Codein-Kompretten (Markenname: Codeinum phosphoricum [forte] Compretten) oder Dihydrocodein-Saft. Dihydrocodein ist ein chemisch verändertes Derivat des Codein, das in geringen Mengen in Opium enthalten ist. Codein wird im menschlichen Körper, wie Heroin, zu Morphium umgewandelt und hat auch dessen Wirkung.

Drogen gegen Drogen? Codein ist ein Opioid und macht abhängig – genauso wie Methadon bzw. Polamidon. Eine Abhängigkeit werde durch eine andere ersetzt, die «Sucht» also verlängert, meinen die, die jegliche Ersatzdrogen ablehnen. Die erste Behauptung der Substitutions-Gegner ist richtig, die zweite nicht unbedingt.


drugs
make a scientific representation of the chemical structure diacetylmorphine and Codeine symbolic:: molecular::1 quantum dot display::1 macro lens::1 –v 4 –chaos 50 –s 750

Die Substitution hat nicht das Ziel – wie irrigerweise immer wieder behauptet wird -, eine illegale Droge nur durch eine legale zu ersetzen. Ganz im Gegenteil. Langfristig sollen die Drogensüchtigen «clean» werden. Nur, um diesen Schritt wagen zu können, müssen die psychischen und sozialen Voraussetzungen stimmen. Daher geht die «maintenance-to abstinence»-Therapie (von der Erhaltung zur Abstinenz) schrittweise vor. Die extrem euphorisierende Droge Heroin wird durch ein schwächeres Opiat ersetzt – wie Codein. Der Effekt: Abhängige, die substituiert werden, beginnen nach einer Eingewöhnungsphase, sozial unauffällig und «normal» zu leben, ihr Umfeld stabilisiert sich in der Regel, sie können einem Beruf nachgehen. Erst dann kann der Schritt zur Abstinenz mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden.

Dagegen ließe sich kaum etwas sagen. Und die positiven Erfahrungen etwa in den USA seit 1982, wo 85.000 Drogensüchtige Methadon erhalten[1993], sollten eigentlich für sich sprechen. Die Verfechter der klassischen Abstinenz-Therapie, des «Alles oder Nichts», können nur deshalb von ihrem völligen Scheitern ablenken, weil die Öffentlichkeit so gut wie nichts über Substitution weiß – und ebensowenig über Opiate.

«Drogenabhängige gelten als psychisch krank», sagt Gorm Grimm, «als hemmungslos, gefühllos, bindungslos, verwahrlost, asozial, kriminell und gefährlich, sogar als antisozial und staatsfeindlich. Ihre psychische Krankheit mache sie unzurechnungsfähig, was sich z. B. in ihrer Uneinsichtigkeit in die Behandlungsbedürftigkeit äußere. Von ihnen gehe eine Art Ansteckungsgefahr aus, ihre Sucht sei eine der schwersten bekannten Krankheiten, deren Ausbreitung mit allen Mitteln verhindert werden müsste.» (1)

So sieht das ideologische Fundament aus, auf das die Abstinenz-Philosophen bauen können. Ihre Antwort auf «Verwahrlosung» und «Suchtcharakter» ist immer noch dieselbe, die der deutsche Ärztetag in Danzig schon 1928 formuliert hat: Die «einzig richtige Behandlung eines Süchtigen», hieß es schon damals, sei «die sofortige Entziehung und anschließende langfristige Entwöhnung», in der eine «Persönlichkeitsveränderung» erreicht werden müsse. Die Behandlung sei «nur stationär» durchführbar.

Immerhin hat einer der Väter der «Suchtbekämpfung» durch Abstinenz, Prof. Wolfram Keup, zugegeben, dass die Praxis dieser Art der «Entwöhnung» ein Desaster ist: «In der Bundesrepublik Deutschland mögen derzeit etwa fünf Prozent der Abhängigen motiviert sein. Von ihnen scheinen nur etwa 30 Prozent, also 1,5 Prozent aller Fixer, ein Entwöhnungsprogramm erfolgreich zu durchlaufen.» (2) Keup spricht von einer «katastrophalen Situation in der Motivation Heroinabhängiger zur Therapie». Doch woran liegt das? Ist der Käufer schuld, wenn ihm das Produkt nicht gefällt? Oder sollte man über eine Verbesserung des Angebots nachdenken? Gorm Grimm kommentiert Keups Äußerung mit dem schlichten Fazit: «Also: 98,5 Prozent aller Drogensüchtigen verbleiben in der kriminellen Drogenszene oder zeitweise im Gefängnis.» (3)

Das weiß auch die Abstinenz-Lobby, und deshalb wagt es auch niemand, dem Kieler «Drogenarzt» Misserfolge oder das Scheitern seiner Therapie vorzuwerfen. Schließlich sprechen die Fakten für ihn: Ein großer Teil seiner heroinabhängigen Patienten, die mit schweren Verwahrlosungserscheinungen zu ihm kamen, war nach einer gewissen Zeit psychisch und sozial stabilisiert, trotz ihrer Abhängigkeit von Ersatzdrogen. Das gilt sogar für Alkoholiker und Medikamentenabhängige, die auch zu Grimms Klientel gehören.

Die Vorwürfe, die gegen Gorm Grimm erhoben werden, sind heute eher Rückzugsgefechte, mit denen man wenigstens das Gesicht wahren will. Grimm verschreibe «indikationswidrige Mengen» und kontrolliere nicht die Einnahme durch die Patienten.

In einem Verfahren, das die Ärztekammer Schleswig-Holstein gegen ihn anstrengte – mit dem Ziel der «Feststellung, dass der Beschuldigte zeitweilig oder dauernd berufsunwürdig ist» – wurden Vorfälle aus fünf Jahren penibel aufgelistet. Das Berufsgericht, bestehend aus drei hochrangigen Medizinern, sprach ihn frei und erlegte der Ärztekammer die Kosten auf. In der Begründung hieß es — ein sarkastischer Unterton ist unüberhörbar: Es sei bewusst auf die Befragung von Experten verzichtet worden, «weil der wissenschaftliche Streit um die Ersatzdrogentherapie Heroinsüchtiger weithin einem Glaubenskrieg gleicht und von Sachverständigen über das in bisherigen Veröffentlichungen und Anhörungen hinaus Gesagte nichts Neues mehr zu erwarten war».


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Aus der «Fülle der bisherigen Meinungsäußerungen» ergäbe sich nur zweierlei, so das Gericht, «nämlich dass es weder einen eindeutig festmachbaren Grund für das Entstehen der Sucht beim einzelnen Abhängigen gibt, noch eine einzelne Behandlungsmethode, die den Erfolg auch nur andeutungsweise garantiert». Die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit sei «ein derzeit noch ungelöstes medizinisches Problem». Deshalb, so folgerten die Richter erstaunlich konsequent, gebe es auch bei der Behandlung von Heroinabhängigen «keine anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft, von denen abzuweichen einen ärztlichen Kunstfehler bedeutet».

Doch halt: Wenn das so ist, warum verschreiben nur ein paar Dutzend Ärzte in Deutschland Codein? Warum ist diese Methode der Substitution bisher nur in Hamburg offiziell anerkannt? Warum informieren die meisten Drogenberatungsstellen nicht über diese Möglichkeit, obwohl der Kieler Arzt eine erstaunliche Erfolgsquote vorweisen kann? Warum weigern sich die Therapie-Einrichtungen und die Drogenexperten standhaft, das Thema auch nur zu diskutieren?

Ganz einfach: Wir sind in Deutschland, und da geht es ums Prinzip. Und das heißt: Abstinenz. Dazu kommt, dass sich die Ärzte auf staatliche Stellen, Polizei, Justiz, Gesundheits- und Sozialbehörden und die Berufsgruppen verlassen können, die vom Abstinenz-Dogma profitieren. Die Junkies werden der Abstinenz-Therapie mit allen Mitteln «zugeführt». Für Gorm Grimm fußt der ärztliche Umgang mit Drogenabhängigen in Deutschland auf der «gelungenen Einschüchterung (fast) aller Mediziner», er ist «das Ergebnis» einer «im internationalen Vergleich beispiellosen deutschen Ärzte-Disziplinierung».

In dem Bescheid eines Gerichtes, das am 30.10.1985 ein Verfahren gegen Gorm Grimm einstellte, heißt es: «Auch der Hinweis des Beschuldigten, dass die ‘Substitutionstherapie’ in der internationalen Literatur positiv beurteilt werde, kann nicht dazu führen, die Behandlungsmethode des Dr. Grimm nicht als Verstoß gegen die ärztliche Heilkunst anzusehen.» (4) Und: Es könne den Beschuldigten nicht entlasten, wenn in der internationalen Literatur Reduktionsprogramme und Erhaltungsprogramme diskutiert würden. Mit anderen Worten: Wenn in anderen Ländern gute Erfahrungen mit der Substitution gemacht werden, heißt das noch lange nicht, dass deutsche Ärzte und Juristen deshalb auf ausländische Experten hören müssten.

Trotz dieser seltsamen Logik: Das Verfahren wurde eingestellt. Juristisch haben sich die Gegner Gorm Grimms bisher nicht ein einziges Mal durchsetzen können. Er gewinnt alle Prozesse.

Die offenen Anfeindungen, deren er sich seit Jahren erwehren muss, haben ihre Spuren hinterlassen. Der «Drogenarzt» teilt so kräftig und grob aus, wie er einstecken musste. Er schätzt auch das «Suchtpotential» des christlichen Glaubens relativ hoch ein: Die durch ekstatische religiöse Erlebnisse bewirkte Euphorie sei «nicht empfehlenswert» und der Droge Crack gleichzusetzen. «Wenig empfehlenswert» sei auch die «Droge Macht». Auf nur knapp zwanzig Seiten eines seiner Bücher kreiert er eine «Theorie der Drogensucht», die beinahe alle Fragen meint klären zu können, um deren Beantwortung sich Generationen von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten bemühen. So schafft man sich nicht viele Freunde.

Zur Zeit wollen die Krankenkassen dem Drogendoktor an den Kragen. Sie wollen die Substitution mit Codein nicht bezahlen. Den Apotheken ersetzen sie zwar die Kosten für die «Remmis», die Kompretten und den Saft, fordern aber von Grimm mehrere Millionen Mark zurück. Die Angelegenheit ist zunächst – bis zu einem Musterprozess -aufgeschoben. «Ich habe mir Narrenfreiheit erkämpft», sagt Gorm Grimm grimmig.


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Der Kieler Arzt hat einige Briefe, die er erhielt, in einem Buch veröffentlicht. Sie sagen mehr aus als alle Reportagen und theoretischen Erörterungen über das «Drogenproblem». So schreibt eine Mutter, deren Sohn seit fünfzehn Jahren heroinabhängig war: «Ich habe mit ihm alle Stadien durchlebt und durchlitten, die in der Bundesrepublik im Lebenslauf eines Süchtigen fast unausweichlich vorgegeben sind: eineinhalb Jahre Jugendstrafanstalt wegen Besitz von einem halben Gramm Heroin, elf Langzeit-Therapien, zwei davon bis zum Ende durchgestanden, sechzehnmal Unterbringung in psychiatrischen Anstalten, davon mehrmals über längere Zeiträume hinweg, zwei Pflegschaften, etwa dreißig kalte Entzüge und immer wieder auch ambulante Therapie und Beratung. Ich weiß nicht, wie mein Sohn das ertragen konnte, ich weiß nicht, wie ich es ertragen habe. Mein Mann ist darüber gestorben.

Auch ich habe mich offenbar vor dem Gesetz schuldig gemacht, indem ich meinen Sohn mit Geld unterstützte (was das Gesetz andererseits von mir verlangt). Es wurde deswegen eine Geldstrafe von eintausendfünf-hundert DM über mich verhängt…
Aber ein solcher Bericht wird Sie, die Sie zumeist mit Süchtigen arbeiten, nicht überraschen, stellt er doch absolut kein Einzelschicksal dar. Das Besondere daran ist, dass sich für meinen Sohn wirksame Hilfe abzeichnete, zum erstenmal nach vierzehn Jahren: Er wurde in eine Methadon-Behandlung aufgenommen. Die Erleichterung war unvorstellbar. Von Straffälligwerden konnte keine Rede mehr sein, der Gesundheitszustand verbesserte sich erstaunlich, er hatte wieder Hoffnungen und Pläne, machte die ersten Schritte, um eine Ausbildung nachzuholen und was eben sonst zu einem normalen Leben gehört…

Dann, nach einer für meinen Sohn und mich recht kurzen Zeit des hoffnungsvollen Neubeginns, kam die Katastrophe: Der Arzt wurde verhaftet, (5) die Praxis geschlossen und einige hundert Patienten zurückgestoßen in Elend, Not und Verzweiflung. Nun sah mein Sohn keinen anderen Ausweg mehr, er strangulierte sich mit einem Kabel. Ich fand ihn, baumelnd, und konnte ihn noch rechtzeitig abschneiden. Erneut Einweisung in die Psychiatrie, wiederum Pflegschaft und Androhung einer Unterbringung auf Dauer. Davongekommen nur durch die Bereitschaftserklärung für eine neuerliche Langzeittherapie…

Ich klage an – im Namen Tausender von Süchtigen und ihren Angehörigen wegen Körperverletzung durch unterlassene Hilfeleistung und wegen der Verweigerung einer Behandlungsmöglichkeit. Ich klage an -wegen Duldung und Erzeugung unsagbaren Elends und Schädigungen an Körper und Seele bei Tausenden von Süchtigen, ihren Angehörigen und den ihrer Verantwortung folgenden Ärzten. Ich zögere nicht, dies alles als inhuman zu bezeichnen. Heute, am 2.6.1988, will ich diesen meinen ‘Bericht einer Mutten endgültig zum Abschluss bringen. Mein Sohn, seit 15 Jahren gehetzt und gejagt, sah keinen anderen Ausweg mehr und machte seinem verzweiflungsvollen Leben ein Ende.»


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Das alles kann einen gestandenen deutschen Drogenexperten nicht erschüttern. Nehmen wir zum Beispiel den Leiter einer Kieler Drogenberatungsstelle, ehemals Kampfschwimmer der Bundeswehr, seit 20 Jahren im Geschäft. Bei meinem Besuch ist die Beratungsstelle gähnend leer: Es werden ausschließlich Therapie-Plätze angeboten, die auf Abstinenz setzen. «Wir kriegen unser Geld», sagt der Mann, «egal, ob wir das oder das machen.» Man müsse sich eben entscheiden, welche Möglichkeit der «Behandlung» der Junkies man wähle. In einem Leserbrief an ein Nachrichtenmagazin hat er eine Reportage über Gorm Grimm als «Lore-Roman» abgetan. Die Substitution sei die «Endlösung des Drogenproblems» und tauge «nicht zur ernsthaften Diskussion».

Nur wenige hundert Meter weiter, in der Praxis von Gorm Grimm, drängeln sich die Patienten. Ein Soldat der Bundeswehr – er kommt mit Marschbefehl des Truppenarztes – holt sich seine Codein-Dosis für mehrere Wochen. Sein Vorgesetzter, der ihn vor kurzem belobigt hat, weiß nicht von der «Sucht» des Untergebenen, der Truppenarzt hält auf seine Schweigepflicht.

Ein Leiter eines Heimes für Behinderte schluckt täglich achtzig Remedacen. «Wenn das jemand in meinem Heimatort erfahren würde, wäre ich unten durch», sagt der Patient. Er war noch vor zehn Jahren heroinabhängig. Durch die Codein-Substitution hat er den Absprung geschafft, kann aber von der Ersatzdroge nicht lassen. «Ohne Codein würde ich wahrscheinlich wieder rückfällig.» Er hat sich seinen Camping-Bus umgebaut. Wenn er in den Urlaub fährt, stopft er sich mehrere tausend Remedacen-Jabletten unters Dach. Der Vorrat hält mehrere Wochen.

Ein Tischlermeister, er ist Innungsmeister in Norddeutschland und war bis vor vier Jahren noch heroinabhängig, substituiert sich mit Codein-Kompretten. Ein Werftarbeiter aus Hamburg kommt in die Praxis. Die Kollegen ahnen nichts von seiner «Sucht». Der Chef weiß Bescheid: Sein Arbeiter beichtete ihm das «Suchtproblem» erst, als er mehrere Monate unter härtesten Bedingungen geschuftet hatte. Der Boss entgegnete lapidar: «Wenn du drei Monate mit dem Sandstrahl gearbeitet hast, kann ich ja wohl nichts dagegen haben, dass du drogenabhängig bist.» Der Patient süffelt jeden Tag vier Flaschen des Schmerzmittels Valoron IV auf ex. Das Medikament enthält das Opiat Tilidin. Die Herstellerfirma hat Valoren seit einigen Jahren mit einem Opiat-Antagonisten versetzt. Deshalb fällt es nicht unter das Betäubungsmittelgesetz und heißt jetzt «N» wie «neu». Der Wirkstoff ist der alte, man muss nur wissen, wie man es einnimmt, damit der Brechreiz und der «Turkey» — als Folge des Antagonisten – nicht zu spüren sind.

Eine junge Türkin, ehemals heroinabhängige Prostituierte, kommt mit ihrer Mutter zu Gorm Grimm. Sie ist HIV-positiv und hat nur noch kurze Zeit zu leben. Sie wird — wahrscheinlich zum letzten Mal – in ihre Heimat reisen und braucht dazu mehrere hundert Remedacen. Beim Abschied bricht sie in Tränen aus und fällt ihrem Doktor um den Hals. «Ich liebe Sie», ruft die schwer gezeichnete junge Frau immer wieder.

Beispiele dieser Art gibt es genug. Die Gegner der CodeinSubstitution können den Effekt der «medikamentengestützten Therapie der Drogensucht» (MTD), wie sie Gorm Grimm nennt, kaum bestreiten: Die Mehrzahl der Patienten hat sich von der kriminellen Drogensubkultur distanziert, geht einem Beruf oder einer Ausbildung nach und hat sich ein neues soziales Umfeld geschaffen. So bezieht sich die stark emotional gefärbte Kritik eher auf die Vergabepraxis der «Ersatzdroge». Codein hat für die Abhängigen den Vorteil, dass es nicht unter Aufsicht des Arztes eingenommen werden muss – wie etwa Methadon. Ein Arztbesuch ist nur einmal pro Woche oder noch seltener nötig.

Patienten, die längere Zeit in Behandlung sind, kommen nur alle paar Monate.
Damit hat sich Grimm den Vorwurf eingehandelt, er verzichte auf die obligatorische psychosoziale Betreuung. Der Ärger der orthodoxen Drogenexperten ist verständlich, würde doch die Methode des Dr. Grimm in erheblichem Maße Arbeitsplätze überflüssig machen – in den Drogenberatungsstellen, die in der Regel die psychosoziale Betreuung übernehmen, und in therapeutischen Einrichtungen.

Deshalb pflegt man die Fälle in der Öffentlichkeit zu zitieren, in denen Patienten des Kieler Arztes an den Folgen des Drogenmissbrauchs gestorben sind. Prof. Dr. Wolfram Keup, ein Gegner der Substitution à la Grimm, wies als Sachverständiger in einem Prozeß darauf hin, dass der Arzt kontrollieren müsse, dass und wie das Ersatzmittel eingenommen werde. Es bestünde die Gefahr, dass der Süchtige die Substitution nur als bequeme Möglichkeit ansehe, zu seinem Stoff zu kommen. «Der Süchtige» sei außerstande, das Suchtmittel selbst zu dosieren.


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Die Gerichte sehen das anders: In einem Prozess wegen «fahrlässiger Tötung» gegen Gorm Grimm – einer seiner Patienten war an Tabletten gestorben, die ihm der Arzt verschrieben hatte stellte das Gericht fest: Eine «Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit» sei «bei einem Süchtigen nicht generell gegeben». Merkmal der Sucht sei zwar ein Kontrollverlust, diese «suchtbedingte Einengung der Willensfreiheit» reiche jedoch nicht generell so weit, dass ein Süchtiger «nicht oder nur erheblich eingeschränkt in der Lage ist, das Risiko einer Überdosis zu verstehen, zu erkennen und diesem Risiko Widerstand entgegenzusetzen». Gorm Grimm habe den Patienten über die tödlichen Risiken eines Medikamentenmissbrauchs aufgeklärt. Außerdem, so folgerte das Gericht, werde ja auch die «strafrechtliche Verantwortlichkeit Süchtiger bei Beschaffungsdelikten in der Regel ohne Einschränkung bejaht».

Da die Justiz immer noch davon ausgeht, dass Drogenabhängige zu bestrafen seien, also den freien Willen zu kriminellen Delikten voraussetzt und nicht etwa verminderte Zurechnungsfähigkeit — wie häufig bei Alkoholikern -, kann man schwerlich argumentieren, dass ein Süchtiger nicht weiß, was er tut. Gorm Grimm wurde freigesprochen. Schließlich ist bisher auch niemand auf die Idee gekommen, einen Arzt zu verklagen, der seinem Patienten Barbiturate verschrieben hat, mit denen man sich ebensogut umbringen kann.

Natürlich hat die Methode des Doktor Grimm, seinen langjährigen Patienten zu vertrauen und ihnen die Mengen zu verschreiben, die sie vorgeben zu brauchen, einen Nebeneffekt: In Hamburg und Schleswig-Holstein gibt es einen ausgedehnten Schwarzmarkt für Codein. Nur hinter vorgehaltener Hand munkeln die Junkies, dieses Codein stamme aus der Praxis des Kieler Arztes. Es geht sogar das Gerücht, dass ehemalige Heroinabhängige, die mittlerweile mit Polamidon substituiert würden, sich weiterhin ihr Codein in Kiel abholten und das dann an Junkies verkauften, die sonst keine Möglichkeit hätten, sich zu substituieren. Zu beweisen ist das nicht.

Es ist kaum anzunehmen, dass sich Gorm Grimm über dieses Problem nicht seine Gedanken gemacht hat. Er kann den Überblick darüber behalten, ob seine Patienten plötzlich nach mehr verlangen. Diesen Wunsch wird er ablehnen. Er kann jedoch nicht kontrollieren, ob sich einer der Drogenabhängigen herunterdosiert und das überschüssige Codein an andere Bedürftige abgibt. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Jeder Abstinenz-Theoretiker müsste doch erfreut sein, wenn ein Süchtiger plötzlich weniger Suchtmittel konsumiert. Und wenn Fixer, die nicht ärztlich betreut werden, Codein statt Heroin bevorzugen, was das Risiko einer letalen Dosis verringert, ist das ebensowenig zu verurteilen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof urteilt zum Problem des Schwarzmarktes: «Gesundheitliche Schäden durch Einverleibung von
Betäubungsmitteln, die sich Patienten auf dem schwarzen Markt besorgen, sind dem behandelnden Arzt ebensowenig anzulasten wie den Personen, die Langzeittherapien durchführen. Derartige Schädigungen sind nicht vermeidbar.» (6)


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Aber sollte ein Arzt nicht darauf dringen, dass ein drogensüchtiger Patient möglichst bald versucht, sich aus seiner Abhängigkeit zu befreien? «Niemand sollte den Vormund spielen», antwortet Gorm Grimm. Man müsse realistisch denken. Immerhin lebe ein Drittel seiner Patienten nach sieben Jahren SubstitutionsTherapie völlig opiatfrei. Und auch den meisten anderen habe kontrollierte Abhängigkeit ein besseres Leben ermöglicht. «Besser ist es», sagt der «Drogenarzt», «sie holen sich regelmäßig ihren Suchtstoff bei mir ab, als wenn sie als Junkie verelenden.»

Vielleicht brauchen manche Menschen aus unterschiedlichen Gründen künstlich erzeugte Lustgefühle, um ihr Leben meistern zu können. Sie nehmen dafür die Abhängigkeit und Nebenwirkungen in Kauf. Was allein zählen sollte, ist der gesellschaftliche Schaden, den sie anrichten. Und der ist bei den Opiat-Abhängigen, die sich in die Behandlung des Kieler Arztes begeben, ohne Bedeutung. Der Zwang im Gefolge ihrer Abhängigkeit, jeden Tag Drogen zu konsumieren, ist vergleichbar mit dem von Zuckerkranken, die darauf angewiesen sind, jeden Tag Insulin spritzen zu müssen. Mehr Unheil richten ganz andere Dinge an. «Alles, was Euphorie auslösen kann, ist eine Droge», sagt Gorm Grimm. «Die Nebenwirkung extremer Formen der christlichen Religion ist Paranoia.»
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(1) G. Grimm (1992), S. 196
(2) W. Keup (1983), S. 26
(3) G. Grimm (1992), S. 198
(4) G. Grimm (1992), S. 349
(5) Der Arzt Dr. Johannes Kapuste wurde ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten, zwangsweise einer psychiatrischen Behandlung zugeführt, für unzurechnungsfähig erklärt und mit einem Berufsverbot für die Behandlung Drogensüchtiger belegt.
(6) zit. nach G. Grimm (1992), S. 238

Bedeutende Faktoren, eng verbunden

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male workers overseer holding a whip, in front of a farmhouse of the Roman Republic, villa rustica, several of male and female workers, amphoras, agricultural implements, fresco style, wall painting from Pompeji, environment landscape like Tuscany, natural lighting, –v 4 –ar 5:3 –s 750
„Slave“ und „slaves“ sind verboten, man kann sich denken, warum. Bescheuert ist es trotzdem. Bei Tieren versagt die Künstliche Intelligenz übrigens (noch) total. Bei mehreren Versuchen bekam ich zweiköpfige und fünfbeinige Fabelwesen, und der Unterschied zwischen Ochsen und Pferden schien der KI nicht bekannt zu sein. Der Stil der Bilder ist zwar korrekt, aber jeder vorchristliche Freskenmaler und jede Wandmalerei in Pompeji hätte sich mit Entsetzen abgewandt.

Frage: War die Ökonomie die Sklavenhaltergesellschaft im antiken Rom eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus in Mitteleuropa?

aiart
acient roman farmhouse, villa rustica, style of Pompeji wall fresco, male and female workers::3, clothing of 2nd century BC, chicken, ducks, amphoras, agricultural implements, environment landscape like Tuscany::3, natural lighting, –v 4 –ar 5:3 –s 750 –s 750. Erst diese Version ergab ein einigermaßen akzeptables Ergebnis, obwohl die Römer die Hühner (?) nicht einfach so im Bild hätten herumschweben lassen. Vor 2000 Jahren war der künstlerische Homo sapiens um Klassen besser.

ChatGPT : Die Sklavenhaltergesellschaft im antiken Rom kann als ein bedeutender Faktor für die spätere Entwicklung des Kapitalismus in Mitteleuropa betrachtet werden. Die römische Wirtschaft war stark auf die Ausbeutung von Sklavenarbeit ausgerichtet, die für die Produktion von Waren und den Betrieb der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Dies führte zu einer Akkumulation von Reichtum und Kapital bei den römischen Eliten.

Die Antwort könnte auch aus dem Bertelsmann Volkslexikon stammen. Sie ist nicht wirklich falsch, beantwortet jedoch die Frage nicht. Es ist ohnehin schwer, die Frage überhaupt sinnvoll zu formulieren. „Hätte man die Sklavenhaltergesellschaft auch weglassen können?“ Wer ist dann „man“? Man erkennt, dass Künstliche Intelligenz maximal das vorhandene Wissen aufgreift und eventuell sogar sich widersprechende Theorien referiert, aber niemals selbst entscheidet bzw. eine Position einnimmt. Erst dann würde es mir unheimlich.

aiart
Hier verschwimmt mir der Stil zu sehr, als hätte die KI heimlich aus dem so genannten Frühmittelalter geklaut. Die Figuren könnten auch einen Heiligenschein tragen.

Die Nachwirkungen des römischen Sklavenhandels und der wirtschaftlichen Strukturen waren auch nach dem Untergang des Römischen Reiches spürbar. Insbesondere im Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelten sich in Mitteleuropa zunehmend kapitalistische Wirtschaftsformen. Die Expansion des Handels, die Entwicklung von Manufakturen und später von Fabriken waren eng mit der Akkumulation von Kapital und der Ausbeutung von Arbeitskräften verbunden.

Auch das ist Gelaber. Es fehlt die Position, die von einigen Forschern mit durchaus starken Argumenten vertreten wird, es habe keinen „Untergang“ gegeben, und das sei ein irreführender Begriff.

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Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Mitteleuropa ein komplexer Prozess war, der von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wurde. Neben der römischen Sklavenhaltergesellschaft spielten auch andere Faktoren wie technologische Fortschritte, politische Rahmenbedingungen, soziale Veränderungen und kulturelle Einflüsse eine Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus. Es wäre daher zu vereinfacht, die römische Sklavenhaltergesellschaft als die alleinige oder hauptsächliche Ursache für die Entwicklung des Kapitalismus in Mitteleuropa anzusehen.

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„Vielzahl von Faktoren“ – das hätte ich auch schon vorher gewusst. Also müsst ihr weiterhin dieses Blog lesen. Die Fortsetzung meiner Feudalismus-Serie ist in Arbeit.

Unter automatisierten Ausgesetzten

chatgpt war

Ich lase gerade den Heise-Artikel über eine erneute Revolution der Produktivkräfte über „Wie KI den Arbeitsmarkt verändern wird: Neue Jobs, bedrohte Jobs“.

Generative KI könne in den USA bis zu einem Viertel der derzeit von Menschen geleisteten Arbeit übernehmen. „Rechnet man unsere Schätzungen auf die ganze Welt hoch, so könnte generative KI das Äquivalent von 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen der Automatisierung aussetzen“, schreiben die Wissenschaftler. („Eine Studie der Investmentbank Goldman Sachs“ har har.)

Da fiel mir die Frage ein: Was machen jetzt eigentlich die „Web-Designer“? Das habe ich gleich ausprobiert…

By the way: Sagte ich schon, dass wir gerade bei einer Revolution zusehen? Unter uns Marx-Gelehrten: „Revolution“ meint mitnichten einen Umsturz des Wesentlichen, also der Produktionsverhältnisse (hier: der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus), sondern zum Beispiel so etwas wie die Green Revolution in China während der Song-Dynastie oder die Agrarrevolution im so genannten Frühmittelalter in Mitteleuropa. Nur eben im Zeitraffer. Also haltet Schritt!

Designed and programmed by humans

artificial intelligence chatgpt
/imagine beautiful female roboter::3 artificial intelligence thinking::3 about a mathematical::3 problem, background matrix, ultrarealistic (von mir, gemeinfrei)

Maariv hat den AI Chatbot interviewt, die Jerusalem Post hat das „Gespräch“ ins Englische übertragen:

How do you explain the number of Jews who have received Nobel prizes, relative to their share of the world’s population?
The share of Jewish Nobel Prize winners is disproportionately high compared to their share of the world’s population. Jews are only 0.2% of the world’s population and still make up about 25% of Nobel Prize winners. This fact is due to a combination of several reasons, including the historical emphasis placed on the education, creativity and intellectuality of their community and the fact that Jews were disproportionately represented in fields such as science, literature and economics.

Sehr weise und eine Stanislaw Lem würdig ist die Antwort auf die Frage (Lem hätte das lustiger formuliert):
Many people fear artificial intelligence and call for limiting its development. Can you assuage their concerns in 100 words?
The fears that artificial intelligence will get out of control are understandable, but it is important to note that all systems are designed and programmed by humans according to fixed parameters and limitations.

Unter künstlichen Intelligenzen

artificial intelligence
Portrait erzeugt von Stable Diffusion via prodia

Vor ein paar Tagen habe ich mir einen Vortrag (live!) über künstliche Intelligenz und deren Folgen für den Journalismus angehört. Leider war der Referent Rechtsanwalt (mit dem ich mich schon vor Gericht herumgestritten hatte, zum Glück erfolgreich, weil die Gegenseite den Schwanz einkniff die Klage zurücknahm) und fokussierte sich mehr auf das Thema Urheberrecht als auf die technischen Implikationen. Trotzdem war es spannend. Ich erfuhr aus dem Publikum, das mehrheitlich aus Journalistinnen bestand, dass in vielen Redaktionen, auch im Hörfunk (gibt es das noch?), künstliche Intelligenz schon eingesetzt wird, um zum Beispiel „vorzuformulieren“.

Aufhänger war ein Bild Boris Eldagsens. Der hatte den Sony World Photography Award 2023 gewonnen hatte, aber sich weigerte, den Preis anzunehmen, weil er sein Foto mit Künstlicher Intelligenz (AI) erzeugt hatte.

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Bild erzeugt von Stable Diffusion via prodia, Suchworte vintage like photo from macchu pichu peru

Die Diskussion um AI erinnert mich start an eine Mischung aus Don Quichote und Sisyphos. Der Kampf ist schon verloren, bevor er begonnen hat. Ein Nebenkriegsschauplatz sind die Quellen, wie zum Beispiel LAION, ein Verein, dessen Website Bilder anbietet, die irgendwoher stammen. Leider habe ich nichts über die Logik bzw. die Boolsche Algebra gefunden. Die Ergebnisse diverser Suchanfragen waren bei mir eher suboptimal und nicht befriedigend.

„LAION fordert Superrechner zur Entwicklung von Open-Source-KI, um große Modelle wie GPT-4 zu replizieren und als Community gemeinsam zu erforschen“, schreibt Heise. Wie in den Urzeiten des Internet: Alle bekunden, lieb und nett zueinander sein und das gemeine Wohl fördern zu wollen. Aber die Realität sieht natürlich anders aus: Es werden schon die ersten anwaltlichen Schreiben hin- und hergeschickt.

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Bild erzeugt von Stable Diffusion via prodia, Suchworte analog style portrait of a cute young naked woman with brunette hair and tiny tits and visible nipples

Zur Auswahl stehen zum Beispiel noch Dall-E 2, das bekannte Midjourney, für das man einen Discord-Account benötigt, und – für Bildquellen – Deviant Art.

Man kann also urheberrechtlich geschützte Bilder hochladen und die künstliche Intelligenz bitten, daraus etwas anderes zu machen. Ich gehe davon aus, dass eventuell vorhandene Wasserzeichen dabei geschreddert werden. Was, wenn der Fotograf meint, das Ergebnis sei immer noch ein nicht zulässiges Großzitat? Und wie will er das beweisen?

Ergo: Der Kommunismus der Daten kommt – auf technischer Basis -, und niemand kann ihn aufhalten. Nur dass die Chinesen hier nicht an vorderster Stelle stehen. Aber man wird sehen. Für Blogger ist das alles natürlich paradiesisch, da man zu jedem Thema irgendetwas Schönes erzeugen kann, wenn man gerade nichts zur Hand hat, und kein Abmahnanwalt etwas dagegen haben kann.

Der Nachteil ist, dass man jetzt schon wieder zahllose fucking manuals lesen muss… Und ich bin noch nicht einmal mit denen zum Bearbeiten von Videos fertig.

Balkonien, zwangsläufig revisited

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Ich habe zwar eine Woche Urlaub, aber das Programm ist dennoch straff. In Wahrheit habe ich gar keinen Tag frei, sondern muss immer etwas erledigen, wie heute noch Leibesübungen und hebräische Verben pauken, weil ich morgen wieder Unterricht habe.

Ich plane, meine Feudalismus-Serie, an der ich, wie das Stammpublikum weiß, schon seit 2015 schreibe, alsbald fortzusetzen mit dem dritten Teil der Rezension Parzingers. Wer vergessen hat, worum es eigentlich geht, kann sich schon mal mit der vorläufigen Zusammenfassung warmlesen. Wir wollen doch alle wissen, ob der Kommunismus zwangsläufig kommt oder nicht.

Zwei Sippen

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Scrollen, scrollen und immer an die Wissenschaft denken!

Irgendwann vor langer, langer Zeit, als Studenten noch wissbegierig waren und lernen wollten, und zwar möglichst viel und alles, sagten sich zwei marxistisch denkende Altgermanistik-Dozenten, von denen beide, die mich damals für das Thema begeisterten, schon gestorben sind (einer von ihnen taucht im weltweiten Internet überhaupt nicht auf), man müsse da etwas anbieten, jenseits des normalen Angebots an Seminaren, weil das die besagten Studenten unterfordere, was in der Tat der Fall war. Und es begab sich, dass ein Oberseminar veranstaltet wurde für diese beiden Dozenten und ein halbes Dutzend Studenten (darunter nur eine Frau, aber eine ausnehmend attraktive, von der ich noch ein winziges Andenken irgendwo habe, was sie mir zugesteckt hatte – wir saßen in den Veranstaltungen nebeneinander).

Das Thema war gesetzt: Wir waren die Elite, besuchten notfalls auch Seminare von 20 bis 22 Uhr (in so einem – freiwilligen! – Seminar lernte ich Ludwig Feuerbach kennen und lieben), und hochmotiviert im Superlativ. Also musste es das schwierigste und anspruchsvollste altgermanistische Thema sein, das es gibt – den Parzival von Wolfram von Eschenbach, dergestalt, dass wir das Epos, welchselbiges die bürgerliche Literaturwissenschaft rein überhaupt nicht in den Griff bekommen hatte, marxistisch analysieren wollten, was wir schon bei anderen Werken – wie dem Herzog Ernst, dem Rolandslied und vor allem dem Helmbrecht – unseres Wissen nach erfolgreich getan hatten, mit enormem Erkenntnisgewinn, und was uns in der Meinung bestärkte, die bisherige Forschung sei in Gänze dem Inhalt nicht gerecht geworden, sondern – wir vermaßen uns das zu behaupten! – irre vollständig und sei komplett auf dem Holzweg.

Die Notiz – teilweise mit einer Schreibmaschine geschrieben! – ist mir von diesem Seminar geblieben: Wir mussten die tribalistischen Verwandtschaftsbeziehungen auseinanderdröseln, um einen Überblick zu bekommen, wer warum auftauchte und in welcher Funktion. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Wolfram das alles im Kopf hatte und das Epos natürlich mündlich vorgetragen wurde.

Das würde alles zu weit führen. Mittelhochdeutsche Literatur darf man nicht wie heutige Romane rezipieren. Feudalismus, wie die Stammleser schon wissen, unterscheidet sich fundamental vom Kapitalismus, eine orale und magische Gesellschaft, die sich komplett anders konstituiert und auch darstellt. Die Handlung ist weitaus weniger wichtig als in moderner Literatur. Sie ist eher mit der „Handlung“ einer katholischen Messe vergleichbar, die man nicht verstehen würde, wenn man nur fragte, warum der Kerl wo und wie schnell am Altar herumlaufe.

Aber wir geraten ins Plaudern. Das Stammpublikum weiß, wie das alles endete.

Therapie – eine unendliche Geschichte II

– Aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg? (1993)

[Fortsetzung von Therapie – eine unendliche Geschichte I]

Doch was ist das Fazit? Die Diskussion um Drogen und Therapie krankt daran, dass sie in der Regel den bloßen Konsum, die körperliche Abhängigkeit und unkontrolliertes Suchtverhalten auf eine Stufe stellt. Niemand wird bestreiten, dass Heroin-Abhängige oft therapiebedürftig sind. Das ist häufig eine Folge der desolaten Situation, in die sie nicht zuletzt die Kriminalisierung der Droge gebracht hat. Die repressive Drogenpolitik in der Bundesrepublik habe, sagt Jan Heudtlass von der Klinik für Psychiatrie und Neurologie in Lengerich, «in den vergangenen Jahren die Entwicklung einer zunehmenden Verelendung begünstigt und gefördert, was möglicherweise von ihren Erfindern nicht beabsichtigt gewesen ist». (1) Die Folgen: Ausweitung der Aids-Infektionen in der Drogen-Subkultur und die «Erreichung der westeuropäischen Spitzenstellung für die Bundesrepublik bei der Anzahl der Drogentoten».

drug addiction
Credits: Association of American Universities: „Study reveals how drug abstinence changes gene expression, making relapse more likely“

Die Einrichtung CLEANOK in Lengerich praktiziert ein Konzept, das in Deutschland bis jetzt einmalig ist. Motto: «Warmer Entzug in warmer Atmosphäre.» Es geht primär nicht um das hehre, aber zunächst unerreichbar scheinende Ziel der Abstinenz, sondern um pragmatische Schadensminimierung und akute Krisenintervention. Die Junkies können mit Polamidon «ausschleichen». (2) Der zweite Teil der fünfwöchigen Therapie, nach dem Entzug, besteht in der Wiederherstellung der Gesundheit durch Behandlung der Folgeschäden des Konsums und der Lebensbedingungen der HeroinAbhängigen wie Infektionen und anderen Krankheiten. Jan Heudtlass: «Wir verzichten in diesem Rahmen auf konfrontativ-aufdeckende psychotherapeutische Verfahren. Vielmehr stehen begleitende, stützende Verfahren im Kontext des Entzugsprogramms: Akupunktur, Hydrotherapie, Massage, Bewegungstherapie, ein ergotherapeutisches Angebot.» Einige Angebote sind freiwillig, andere obligatorisch. Daneben gibt es geschlechtsspezifische Angebote in Gruppen- und Einzelform.

Der zeitweilige Ausstieg aus der Drogenkarriere soll eine Initialwirkung haben und die Resignation aufbrechen, die bei vielen Junkies nach gescheiterten Therapien und einer Vielzahl von Entzügen in Eigenregie vorherrscht. Man müsse sich wundern, sagt Heudtlass, wie «gern» die Therapeuten die häufigen Selbstmordversuche mit einer Überdosis übersähen – «im Rahmen von Verdrängungsmechanismen». Der überwiegende Anteil der Klienten verfüge jedoch «über einen mehr oder weniger . stark ausgeprägten Gesundungs- und Genesungswillen». Das Konzept setze «eher mittelfristig» darauf, dass sich der Ausstiegswunsch verstärkt – aber ohne angedrohten Zwang. Man verzichtet auf «gebetsmühlenartige Appelle an die Willenskraft». CLEANOK erfreut sich mittlerweile einer so hohen Akzeptanz, dass die Warteliste mehrere Monate beträgt, vor allem bei denen, die noch nie bei einer Drogenberatungsstelle aufgetaucht sind.

Die Frage ist also, was therapiert werden soll: Der Drogengebrauch selbst?

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Credits: Deccan Chronicle

Die Frage ist also, was therapiert werden soll: Der Drogengebrauch selbst? Oder muss man versuchen, ein risikobewusstes und kontrolliertes Verhalten zu erreichen – und ist das überhaupt möglich?

Heroinabhängigkeit läuft nicht «natürlich» in Richtung Verelendung oder Abstinenz.

Neben der Gruppe von Junkies, die sich in bestimmten Phasen «zuknallen», also alles konsumieren, was irgendein euphorisches Gefühl bewirkt, gibt es die gelegentlichen Konsumenten von Heroin, die nur in bestimmten Situationen und kontrolliert die Droge benutzen. «Kontrolliert» heißt, dass sie eine physische Abhängigkeit, die sich in Entzugssymptomen äußert, vermeiden. «Kontrollierter» Umgang kann auch heißen, zwar abhängig und deshalb gezwungen zu sein, regelmäßig Heroin zu rauchen, zu sniefen oder zu injizieren, aber sozial unauffällig zu leben. Das ist eine finanzielle Frage, aber auch eine der intakten sozialen Situation: Ob man die Distanz zur kriminalisierten Szene wahren kann, ob man sein Geld rational einteilt, ob man andere Dinge wie Arbeit oder Freizeitgestaltung für wichtiger hält, ob man die Droge nicht zur Krisenbewältigung oder zur Selbstbelohnung benutzt. Es gibt eine große Anzahl von Personen – die berühmte «Dunkelziffer» -, die es geschafft haben, «den Drogengebrauch in konventionelle Lebenskontexte zu integrieren und ihren Opiat/Kokaingebrauch auf einem Level zu verwalten, der in der Regel weit unterhalb einer physischen Abhängigkeitsschwelle liegt.» (3)

Heroinabhängigkeit laufe nicht «natürlich» in Richtung Verelendung oder Abstinenz. Drogengebraucher seien, so eine neue Untersuchung, «nicht generell behandlungsbedürftig und handlungsunfähig. Die Chancen zum selbstorganisierten Ausstieg sowie zur Etablierung regelorientierter, nicht dysfunktionaler Gebrauchsmuster werden von nicht wenigen selbst unter kriminalisierten Lebensbedingungen genutzt.» (4)

So gut wie nie gelingt es aber zu Beginn der Drogenkarriere, mit einer stark euphorisierend wirkenden Substanz wie Heroin so umzugehen, dass der Abstieg in die «Szene» vermieden wird. Das Einstiegsalter liegt in der Regel um zwanzig, wenn nicht erheblich darunter. Nur sehr wenige Fixer haben erst später mit der Droge begonnen, die meisten der Älteren sind von Alkohol auf Heroin umgestiegen. Wie jemand eine Droge gebraucht, ist offenbar abhängig von seiner persönlichen Entwicklung und Situation.

Opiatabhängigkeit ist eine vorübergehende Störung, die sich selbst begrenzt.

US-amerikanische Forschungen, zu denen es in Deutschland kaum Parallelen gibt, bestätigen, dass sich die Abhängigkeit von Heroin nach einem Zeitraum von gut zehn Jahren von selbst erledigt in der Regel am Ende des dritten oder zu Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Dieser Prozess wurde unter dem Begriff «maturing out» («Herauswachsen») in die Forschung eingeführt. Der Berliner Gerichtsmediziner Prof. Friedrich Bschor hat als einer der ersten Wissenschaftler Langzeitbeobachtungen von Heroin-Konsumenten angestellt. Sein Fazit: Es handele sich bei der Opiat-Abhängigkeit um eine «passagere [vorübergehende] Störung», die sich selbst begrenze.

Die Sterblichkeit sei bei ungefähr zwei Prozent im Jahr anzusetzen und «vergleichbar Herzkranker im mittleren Lebensalter». (4) «Die in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellung eines extremen Ausmaßes der Sterblichkeit Drogenabhängiger trifft nicht zu.» Die Störung sei zwar langwierig, doch das von amerikanischen Autoren beschriebene «maturing out» «lässt sich auch bei uns bestätigen».

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Credits: The National Council on Drug Abuse (NCDA) in Jamaica

Diese These wird durch neueste Forschungen auch in Deutschland untermauert. Ein wissenschaftliches Projekt der Universität Münster hat die Bedingungen untersucht, unter denen Drogenabhängige sich selbst heilen. Zwang- oder Strafandrohung wirken offenbar wenig, selbst der Druck durch das soziale Umfeld wie Freunde oder die Eltern – «spielen eine untergeordnete Rolle». (5)

Wenn eine Therapie nicht akzeptiert werde – was bei der heute gängigen Alternative «Gefängnis oder Therapie» die Regel sein dürfte, sei ohnehin, so die Untersuchung, der Rückfall vorprogrammiert. Einer der wichtigsten Faktoren, die zum Ausstieg motivieren, ist die Veränderung der Selbstwahrnehmung. Der oder die Abhängige sehen sich selbst und die Folgen der Abhängigkeit realistischer. Dieser Moment wird in der US-amerikanischen Forschung als «Naked-Lunch-Erfahrung» bezeichnet. Der oder die Abhängige wollen ihr Leben bewusst gestalten und kontrollieren, sehen aber ihren Drogenkonsum als Hindernis dafür. Sie setzen sich mit ihrer Situation auseinander: Ein sogenannter «retroaktiver Sozialisationsprozess» kommt in Gang. Entschluss und Ausstieg erfolgen nicht spontan und plötzlich, sondern sind ein Prozess. In vielen Fällen spielen Personen, denen der oder die Heroinabhängige vertrauen und die sie unterstützen, eine ausschlaggebende Rolle.

Die Folgen der geplanten Abstinenz müssen einen hohen Wert haben, damit sich die Anstrengung lohnt.

Die Folgen der geplanten Abstinenz müssen einen hohen Wert haben, damit sich die Anstrengung lohnt: Prestigegewinn, eine höhere Selbstachtung und -bewertung sowie materielle Perspektiven. «Die Übernahme sozialer Etikettierungen wie einmal süchtig – immer süchtig blockiert in einigen Fällen sogar selbstorganisierte Ausstiegsprozesse und deren Stabilisierungen gravierend.“ Ein Fazit, das den «Laientherapeuten» à la Synanon gar nicht gefallen wird.

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(1) Jan Heudtlass: Zwischen Abstinenz und Akzeptanz – Versuch einer neuen Funktionsbestimmung der Drogenentzugsbehandlung, unveröffentl. Manuskript, Lengerich 1992, S. 3 (im Besitz des Autors)
(2) «Ausschleichen»: Heroin wird durch Polamidon ersetzt, das Medikament dann langsam herunterdosiert.
(3) G. Weber/W. Schneider (1992), Manuskript, S. 22
(4) Bschor, F.: Langzeitbeobachtungen bei jungen Drogenabhängigen
vom Opiattyp. In: Die Berliner Ärztekammer, [heute: Berliner Ärzte] 20. Jg., Heft 11/83, S. 749 (1983)
(5) Weber, G. /Schneider, W.: Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen. Selbstheilung, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg – ein Resümee, Münster 1992 (Forschungsprojekt der Westf. Wilhelms-Universität Münster, Institut für Soziologie/Sozialpädagogik), Manuskript, S. 26 (im Besitz des Autors)

Therapie – eine unendliche Geschichte I

– Aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg? (1993)

Das deutsche System der Drogenberatung hat eine merkwürdige Eigenart: Es erreicht nur einen geringen Prozentsatz der Adressaten. Nur ein knappes Viertel aller Heroin-Abhängigen, von den gelegentlichen Konsumenten ganz zu schweigen, taucht freiwillig in einer Drogenberatungsstelle auf. Die Klienten sind nicht selten enttäuscht von dem, was ihnen geboten wird: Die meisten kommen einmal, dann nie wieder. Offenbar nicht zufällig gibt es kaum Untersuchungen, die sich damit beschäftigen, ob Heroin-Abhängige die gängige Beratung akzeptieren. Trotzdem behaupten gutmeinende Drogenexperten immer wieder, das Beratungsangebot sei unzureichend und müsse ausgebaut werden.

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Credit: File:Microcosm of London Plate 096 – Workhouse, St James’s Parish.jpg | Thomas Rowlandson (1756–1827) and Augustus Charles Pugin (1762–1832) (after) John Bluck (fl. 1791–1819), Joseph Constantine Stadler (fl. 1780–1812), Thomas Sutherland (1785–1838), J. Hill, and Harraden (aquatint engravers)

Nur einzelne Stimmen werden laut, die das System als Ganzes in Frage stellen. Der Kieler Arzt Gorm Grimm: «Insgesamt gesehen schaden die Drogenberatungsstellen mehr, als dass sie nützen.» Grimm hat anhand der Zahlen des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München errechnet – dort melden die meisten Drogenberatungsstellen, wie viele Klienten sie hatten und was mit denen geschehen ist -, dass die «Erfolgsquote» bei maximal 0,5 Prozent liege.

Insgesamt gesehen schaden die Drogenberatungsstellen mehr, als dass sie nützen.

Das hat seine Gründe, die zwar alle kennen, über die aber ungern geredet wird. Die ersten Drogenberatungsstellen richteten die freien Wohlfahrtsverbände in den siebziger Jahren ein, analog zu den Alkoholberatungsstellen. Die Behandlung der Sucht war bis dato Aufgabe der Mediziner oder der Psychiater gewesen. Die jedoch hatten kläglich versagt: Die Skepsis der Ärzte gegenüber der Drogensubkultur und deren Selbstverständnis führte eher dazu, dass die jugendlichen Konsumenten einen großen Bogen um Krankenhäuser und psychiatrische Kliniken machten, die eine «Entgiftung» anboten. Selbst einer der deutschen Abstinenz-Päpste, der ehemalige Berliner Landesdrogenbeauftragte Wolfgang Heckmann, gab zu, dass «spätestens ab 1973 die Bankrotterklärung für die Behandlungen in [psychiatrischen] Einrichtungen jedenfalls fachöffentlich war». (1)

Drogenabhängigkeit, so urteilten Fachleute Anfang der achtziger Jahre, sei nämlich nicht nur ein rein medizinisches Problem, sondern «in nahezu allen Fällen» die Folge von «subjektiver, sozialer und psychischer Misere», wobei «die soziale Misere die psychische Misere bedingt und nicht umgekehrt». Deshalb wurden für die Rehabilitation zusätzlich andere Berufsgruppen eingespannt. Das Bundessozialgericht urteilte 1982: «Die Begriffe der medizinischen Rehabilitation und der Krankenhilfe erfassen auch die Leistungen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik», die «ärztliche Behandlung ist nur ein Unterfall des Hauptfalles medizinischer Leistung. Diese erfordert jedoch nicht die stetige Mitwirkung des Arztes.»

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Arbeitshaus in Mitcham/London, 19. oder frühes 20. Jh.

Die einzigen, die immer in direktem Kontakt mit der Drogen-Subkultur gestanden hatten, waren die Fürsorger, eine Bezeichnung, die heute fast verschwunden ist. Dieser Berufsstand hatte sich seit 1970 gewandelt: Voraussetzung war jetzt Abitur oder Fachabitur, die Absolventen der Ausbildung nannten sich Sozialarbeiter.

Damit gerieten sie in Konkurrenz zu anderen Gruppen, die sich auch für die Behandlung von Drogenabhängigen zuständig fühlten, den Soziologen, Psychologen und Pädagogen. Jede dieser Expertengruppen trug ihr Scherflein dazu bei, warum und wie man der «Drogenwelle» begegnen könne. Die Sozialarbeiter fühlten sich als die, die die «Dreckarbeit» machten. Diese unbequeme Tätigkeit war aber meistens die eigentliche Hilfe für die Klienten. Viele Sozialarbeiter bildeten sich fort, um einen «therapeutenähnlichen Status» zu erlangen. Die Kompetenz für eine Drogenberatung konnte, genau wie heute, nicht durch eine Ausbildung erworben werden, sondern nur durch die Praxis: learning by doing. Es gibt keinen Beruf «Drogenberater». Auf diesem Feld konkurrieren und profilieren sich allerlei Berufsgruppen, von denen jede einzelne genau zu wissen vorgibt, wie man mit Drogenabhängigen zu verfahren habe. Dementsprechend waren und sind die Ergebnisse.

Es gibt keinen Beruf «Drogenberater.

Schon vor zwanzig Jahren klagten alle, die sich mit Drogenkonsumenten plagen mussten, über deren mangelnde Motivation. Die Bereitschaft zu einer Therapie, an deren Ende die Drogenfreiheit stehen sollte, war gleich null. Da niemand wusste, wo die auslösenden Faktoren für die «Sucht» zu suchen waren und worin sie bestanden, kam man auf den Gedanken, vorbeugend zu arbeiten. Je früher man «den Gefährdeten» aufspüre, desto eher könne man ihm helfen, so die Idee. Die Drogenberater wurden angewiesen, die potentiellen Klienten, die vielleicht irgendwann einmal Drogen probieren würden, dort aufzusuchen, wo sie sich «außerhalb der Familie» aufhielten. Auch das ging schief. Die Jugendlichen – auch die ohne Drogenprobleme – hatten Jugend-, Sozial- und Gesundheitsämter eher als repressive Behörden erlebt und weigerten sich standhaft, mit diesen Institutionen zu kooperieren.

Noch bis 1972 waren die Drogenberater von den Klienten äußerlich nur wenig zu unterscheiden: Das Mobiliar der Beratungsstellen entstammte häufig dem Sperrmüll, und theoretische Grundlagen der Arbeit waren so gut wie nicht vorhanden. Jeder wurschtelte vor sich hin, so gut es ging. Das sollte sich ändern – was das äußere Erscheinungsbild betraf -, als Geld ins Spiel kam.

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Arbeitshaus in Irland, 19. oder frühes 20. Jh.

1973 vergab der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit ein Forschungsprojekt an das Max-Planck-Institut für soziale Psychiatrie in München. Die Experten sollten herausfinden, welchen Mindestanforderungen eine Drogenberatungsstelle zu genügen hatte, um in den Genuss öffentlicher Gelder zu kommen. Diese Kriterien bezogen sich sowohl auf die Inhalte der Arbeit als auch auf die formale Struktur. Vorschrift wurden: schriftliche Unterlagen über das Konzept und periodische Berichte, Dokumentation der Maßnahmen (u. a. die sogenannten «Krankengeschichten»), tägliche Öffnung, zwei anwesende Mitarbeiter, von denen’einer hauptamtlich Arzt, Psychologe oder Sozialarbeiter sein musste, ein «Therapieraum», mindestens eine Fallbesprechung pro Woche und gelegentliche externe Kontrolle. Diese Vorschriften wurden bis heute mehrfach modifiziert, im Kern sind sie jedoch noch gültig. Offiziell hießen die Drogenberatungsstellen jetzt «Psychosoziale Beratungs- und ambulante Behandlungseinrichtung für Suchtkranke und Suchtgefährdete».

Wer sich dem alleinseligmachenden Glaubenssatz, dass nur die Abstinenz anzustreben sei, widersetzte, bekam Ärger. Man ging für das Dogma über Leichen.

Wer sich diesen Kriterien verweigerte, wurde finanziell ausgeblutet. Durch die Konkurrenz um die Staatsknete gingen diejenigen Einrichtungen als Sieger hervor, die sich, was den Inhalt ihrer Arbeit anging, gefügig zeigten. In vielen Städten kam es zu Konflikten zwischen den Behörden und den Beratungsstellen, die andere Vorstellungen über ihre Aufgaben hatten. In Berlin zum Beispiel schlossen Mitte der achtziger Jahre mehrere Einrichtungen aus Protest gegen die staatliche Einflussnahme ihre Pforten. Wer sich dem alleinseligmachenden Glaubenssatz, dass nur die Abstinenz anzustreben sei, widersetzte, bekam Ärger. Die Behörden scheuten sich zum Teil nicht, Mitarbeitern von niedrigschwelligen Angeboten per Dienstanweisung zu verbieten, sterile Einwegspritzen an die Junkies zu verteilen – das sei «suchtverlängernd» -, obwohl die Gefahr, sich mit dem HIV-Virus zu infizieren, immer größer wurde. Man ging für das Dogma über Leichen.

Wenige Jahre, nachdem die Mindestanforderungen formuliert worden waren, war genau das eingetreten, was die Gründer der Drogenberatungsstellen ursprünglich verhindern wollten; es hatten sich Institutionen entwickelt, die in den Augen der Junkies mit Behörden gleichgesetzt und daher auch nicht akzeptiert wurden.

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Die Gartenlaube, 1857

Die wesentliche Aufgabe der Drogenberatungsstellen sollte sein (und ist es noch), den Drogenabhängigen entweder einen Platz im Krankenhaus zu vermitteln, wo sie entziehen können, oder/und sie einer Therapie-Einrichtung zuzuführen. Beides dauert in der Regel mehrere Wochen – bis ein Platz gefunden ist. Kompliziert ist auch die finanzielle Frage, da die «Entgiftung» normalerweise von den Krankenkassen bezahlt wird, die Rehabilitation, also die Therapie, jedoch von den Rentenversicherungen. Viele der verelendeten Junkies sind überhaupt nicht versichert, daher muss das Sozialamt einspringen. Heute [1993] kommt hinzu, dass auch die obligatorische «psychosoziale Betreuung» von Polamidon-Substituierten übernommen werden soll. Viele Einrichtungen sind zwar plötzlich gut besucht, aber mit dieser Aufgabe überlastet und weigern sich, Junkies neu aufzunehmen, was die von einigen wenigen einsichtigen Politikern geforderte Ausweitung der Polamidon-Programme konterkariert.

In Nordrhein-Westfalen hatte man das Dilemma erkannt, dass sich bei mehrmonatigen Wartezeiten die Motivation der Fixer, sich um einen Therapieplatz zu bemühen, nicht gerade erhöht. Deshalb initiierte man 1992 das Programm «Therapie sofort»: Jeder Heroinabhängige sollte innerhalb einer Woche eingewiesen werden können, falls er das wünschte. Zunächst war der Andrang stark. Die Medien berichteten mit großem Getöse über die Junkies, die doch bisher als behandlungsunwillig galten. Mittlerweile ist die Resonanz in der Szene abgeflacht. Die Suchtexperten sind kleinlaut geworden. Man hatte nämlich das wesentliche Problem nicht bedacht: Therapie-Einrichtungen haben keinen oder nur sehr geringen Erfolg.

Therapie-Einrichtungen haben keinen oder nur sehr geringen Erfolg.

Kaum jemand hat bisher den Mut gefunden, das offen auszusprechen. Journalisten, die zum Thema recherchierten, ließen und lassen – sich in der Regel von der Selbstdarstellung der betreffenden Einrichtung blenden. Kritische Stimmen wurden seitens der Betreiber der Drogentherapien eingeschüchtert, ja mit Klagen bedroht. Nur im «Spiegel-Spezial Rauschgift» aus dem Jahr 1989 war zu lesen: «Es gibt keine Drogentherapie, die diesen Namen verdient – sie taugen alle gleichermaßen wenig (oder nichts).»

Das war zwar schon immer so, Drogentherapie gilt jedoch in der öffentlichen Meinung als die einzige Methode, mit dem Problem fertig zu werden. Die Junkies, die schon einmal das zweifelhafte Vergnügen hatten, mit therapeutischen Maßnahmen beglückt zu werden, die ein drogenfreies Leben zum Ziel hatten, wussten das besser. Warum sollte ein Heroin-Abhängiger also freiwillig etwas aufsuchen, was nichts nützt?

Die Hälfte aller Junkies, die eine Therapie-Einrichtung von innen gesehen haben, leugnen deren Einfluss auf ihren persönlichen Umgang mit Drogen; nur zehn Prozent der anderen Hälfte (also fünf Prozent von allen) gaben bei Umfragen an, ihr Drogenverhalten habe sich durch eine Therapie geändert. Ähnlich, wenn nicht gar noch schlechter, sieht die Erfolgsquote der Therapien insgesamt aus. Nur gut ein (!) Prozent aller Fixer wird in stationären Einrichtungen «erfolgreich im Sinne dauerhafter Drogenabstinenz und gelungener Reintegration behandelt». (2)

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Gruppentherapie (Symbolbild)

Natürlich lässt sich über diese Zahl streiten. Die Diskussion wird aber durch zwei Dinge erschwert: Niemand weiß, was als «Erfolg» zu werten ist, und keine der deutschen Drogentherapie-Einrichtungen hat bisher zugelassen, dass die hausgemachte Statistik extern von unabhängigen Fachleuten überprüft werden konnte — ein Zufall?

Kriterium für Drogenfreiheit ist, so der offizielle Konsens: Nur einmal in drei Monaten Konsum illegaler Drogen, also auch von Haschisch, pro Monat höchstens dreimal stärkerer Alkoholkonsum, keinerlei Kontakte zur Szene. (3) Dieses Prinzip ist selbst für diejenigen, die dem Konzept einer Therapie wohlwollend gegenüberstehen, abstrus und absurd. Da ein relevanter Teil der Bevölkerung zumindest gelegentlich Cannabis-Produkte konsumiert — in den deutschen Großstädten ist Haschisch faktisch legalisiert—, erfüllt diese hohen Voraussetzungen kaum jemand, den Autor eingeschlossen.

Fast alle Heroinabhängigen werden nach einer Therapie wieder rückfällig.

Fast alle Heroinabhängigen werden nach einer Therapie wieder rückfällig. Die Therapeuten mussten diese Tatsache zumindest in ihr Denksystem integrieren. Man durfte Drogentherapie nicht an sich in Frage stellen, weil das ja gleichzeitig den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge gehabt hätte. Deshalb wurde die Devise ausgegeben, Abbruche seien «normal» und auch zu erwarten. Drogenabhängigkeit sei «von vielen Brüchen, Rückschlägen, erneuten Anläufen und erneuten Rückschlägen gekennzeichnet». (4) Aber je häufiger ein Junkie in einer Drogentherapie verweile, um so wahrscheinlicher werde, dass das Ziel – die völlige Drogenfreiheit – am Horizont auftauche. Diese kühne Theorie wird leider durch die Realität nicht bestätigt. Die Zahl der Entzüge in Eigenregie nimmt auffällig zu, die Therapiebereitschaft ab.

Deshalb operiert die Abstinenz- und Therapie-Lobby mit einem Verbundsystem, das alle Institutionen umfasst, die Druck auf die Drogenkonsumenten ausüben können: Drogenberatungsstellen, Polizei, Justiz und nicht zuletzt die Therapie-Einrichtungen. Der Drogenabhängige soll den helfenden Maßnahmen und dem Quasi-Monopol der Abstinenz-Therapien nicht entwischen können. «Wichtig ist bei allen Hilfsmaßnahmen, dass immer dann, wenn eine Maßnahme auf einer höheren Stufe fehlschlägt, der betreffende Abhängige auf der niedrigeren Stufe der Rehabilitation und Motivation wieder aufgefangen wird, dem Netz der Hilfsmaßnahmen, dem Verbundsystem folglich nicht völlig entgleitet.» (5) Der Süchtige ist nämlich gefährdet – sprich: süchtig -, solange er lebt, und muss, so er nicht willig ist, Drogen und die Szene zu meiden, lebenslang therapiert werden, ob er will oder nicht.

Ein großer Teil der Therapie-Insassen, in manchen Einrichtungen mehr als die Hälfte, ist nicht freiwillig dort, sondern nach einer Verhaftung wegen Vergehens gegen das
Betäubungsmittelgesetz – durch den Richter vor die Alternative gestellt worden: Therapie oder Gefängnis (nach dem berüchtigten Paragraphen 35 im Betäubungsmittelgesetz). Da Drogenabhängige scheinbar nicht motiviert seien, müsse «sanfter» Zwang ausgeübt werden, um die Bereitschaft zur Therapie zu erhöhen. Der sieht in der Realität so aus, dass bei Bewährungsstrafen unter einem Jahr mit der Auflage, sich einer Abstinenz-Therapie zu unterziehen, die Bewährung häufig genug widerrufen wird, weil es den Junkies nicht gelingt, clean zu bleiben. Strafen über einem Jahr werden ohnehin nur sehr selten auf Bewährung ausgesprochen. Gorm Grimm behauptet sogar: «Ohne Strafandrohungen für Therapie-Abbruche würden diesen deutschen Einrichtungen nahezu 100% der Klienten davonlaufen.» (6)

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Zuchthäuslerinnen bei der Hanf-Verarbeitung im Bridewell Prison in London (William Hogarth, 1732)

Bricht ein Junkie eine Zwangstherapie ab, muss die Einrichtung das an die Justiz melden, deren Mühlen beim Thema Drogen in der Regel recht zügig mahlen – es wird dann ein Haftbefehl ausgestellt. Die Einrichtungen haben sogar das Recht, ihre Insassen bei Fehlverhalten jederzeit auf die Straße zu setzen, was dazu führt, dass die entweder freiwillig ins Gefängnis gehen oder warten, bis die Polizei sie wieder aufgreift.

Sebastian Scheerer will die gängige Praxis der deutschen Justiz, den Grundsatz des Gesetzes «Therapie vor Strafe» (7) möglichst zu verhindern und nur in – geschätzt – einem knappen Drittel aller Fälle überhaupt eine Therapie zu ermöglichen, nur deshalb nicht einen «Skandal» nennen, weil er um die «Trostlosigkeit der tatsächlich angebotenen ‘Therapien’ und ihre möglicherweise noch schädlicheren Auswirkungen» weiß.

Kritiker der Drogentherapien halten diese für «totalitäre Institutionen», die «einige unübersehbare Ähnlichkeiten mit Konzentrationslagern und politischen Umerziehungsanstalten aufweisen». (8) Die Insassen haben weniger Rechte als in Gefängnissen, Postzensur, Verbot jeglicher Außenkontakte in der Anfangszeit und demütigende Rituale der Entmündigung sind an der Tagesordnung. Ein kompliziertes Strafsystem sorgt für Ordnung, willige Ex-Junkies werden als «Kapos» eingesetzt und wachen über die Einhaltung der Anstaltsregeln. Für die Junkies, so die Kritik, gehe es nur ums Überleben, ihre Mitarbeit sei «reine Heuchelei».

Arbeit macht drogenfrei.

Wenn man den – in der Regel wissenschaftlich nicht begründeten – gruppendynamischen Firlefanz außer acht lässt, bleibt von der Praxis der «Drogentherapie» ein Skelett von Maßnahmen übrig, das sich nur unwesentlich vom klassischen «Arbeitshaus» unterscheidet: Arbeit macht drogenfrei.

Das gilt häufig auch für die Einrichtungen, die sich als «Selbsthilfeprojekte», manchmal verschämt, aber treffender als «Laientherapie» deklarieren. So auch für den Prototyp «Synanon», der auf den Anspruch, eine Therapie zu sein, ganz verzichtet hat und sich selbst – weit umfassender -eine «Lebensform» nennt. Dabei klingt der Grundgedanke der Einrichtung zunächst plausibel: Die Gründer von Synanon weigerten sich, ihre Drogenabhängigkeit als Krankheit zu sehen, die nur mit fremder Hilfe zu bewältigen sei. Von der klassischen Medizin erwarteten sie nicht viel. Trotzdem wollten sie sich mit ihrer Lage nicht abfinden.

So gründete sich schon 1958 in den USA eine Selbsthilfegruppe nach dem Vorbild der «Anonymen Alkoholiker». Ihr Initiator, Chuck Dederich, schuf Wohngemeinschaften, die ohne Suchtmittel, ohne Gewalt, ohne Profit und ohne Privateigentum auskommen wollten. Heutige AbstinenzPhilosophen sprechen schwärmerisch davon, dass in diesen USamerikanischen Synanon-Häusern «das frühere Leben auf der Scene keine Bedeutung» mehr hatte, «sondern nur die Gegenwart des Lebens und Arbeitens in der Gemeinschaft». (9) Nach diesem Vorbild gründete sich 1964 «Day-Top», 1967 das Projekt «Phoenix House». Im gleichen Jahr entstand in England die «Release»-Bewegung, die sich ähnlichen Zielen verschrieb.

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Synanon (1965)

Der US-amerikanische Zweig von Synanon geriet bald in die Schlagzeilen der Presse. Chuck Dederich entwickelte sich zu einem größenwahnsinnigen Guru, der seine «Drogentherapie» zu einer sektenähnlichen Organisation ausbaute. Erst als sich ein Gericht für seine Praktiken interessierte, wurde ihm das Handwerk gelegt. Dederich wurde verurteilt, weil er versucht hatte, einen Rechtsanwalt mit einer Klapperschlange zu ermorden. Der deutsche Zweig von Synanon distanzierte sich von der Mutterorganisation. Ingo Warnke, einer der Gründer von Synanon in Deutschland, über Dederich: «Ich habe viel von ihm gelernt. Doch heute dreht er durch.»

Anfang der siebziger Jahre gab es ein breites Angebot von «therapeutischen Wohngemeinschaften», deren soziologisches Outfit sich kaum von dem der Drogenszene unterschied. Die Ex-Junkies wurden kaum betreut, die Fluktuation war hoch, und eine große Anzahl der Gruppen stand permanent vor der Auflösung. Der Trend ging daher in die Richtung, die heute vor allem Synanon und Day-Top verkörpern: Härte, Härte und nochmals Härte, Arbeit und radikale Ablehnung der gesamten Lebensverhältnisse und der Subkultur der Abhängigen. Die eher libertinär ausgerichtete «Release»-Bewegung ist so gut wie verschwunden.

Übriggeblieben sind die Einrichtungen, die sich an den Idealen der protestantischen Arbeitsethik orientieren und Disziplin, Selbstbeherrschung und Askese propagieren. Diese Ziele finden in Deutschland selbstredend eine starke Lobby, schon aus Gründen der kulturellen Tradition. Die drogenfreien Selbsthilfe-Therapien bewirken aber kaum mehr als die klassische, psychotherapeutisch ausgerichtete Drogentherapie, als deren Kritiker sie ursprünglich angetreten waren.

Kern der Synanon-Methode ist eine verbale «Angriffstherapie», die verniedlichend das «Spiel» oder «game» genannt wird. Die Junkies müssen ihren Charakter, ihr Verhalten und ihr bisheriges Leben radikal in Frage stellen lassen. Jeder bekennt sich, dass er sein Leben lang «süchtig» sein wird, also gezeichnet ist. Durch diese Gehirnwäsche soll die «wahre Person» zum Vorschein kommen, die «Maske», hinter der sich ein Drogen-Konsument verberge, zerstört werden. Das Gefühl, allein nichts zuwege zu bringen, wird durch die Identifikation mit der Gruppe ersetzt.

Selbst Wissenschaftler, die diesem Experiment neutral gegenüberstehen, urteilen: Entsprechend dieser Gruppenidentität wird das Mitglied von Synanon nach seiner erfolgreichen Umfunktionierung die Gemeinschaft von Synanon nur ungern verlassen, da er Befriedigung und Sicherheit ausschließlich in dieser Gemeinschaft findet.» Ein Motiv für den Junkie, bei Synanon zu bleiben, liege darin, dass er nur dort Status und Einkommen bekomme, was ihm in der «anderen Welt» wegen «deren Vorurteile, seiner kriminellen Vorgeschichte und auch wegen seiner mangelnden Qualifikation» nicht möglich sei. Synanon demonstriere, dass die Therapie in geschlossenen Einrichtungen häufig nur zum Leben in diesem geschützten Milieu befähige. (10)

Wissenschaftliche Erhebungen, ob dieser Ansatz den Drogenabhängigen helfen könnte, wurden von Synanon mit der Begründung abgelehnt, «die Patienten würden sich durch Erhebungen als Anstaltsinsassen fühlen». (11) Die Hälfte der Insassen verlässt in den ersten drei Monaten die Einrichtung. Ehemalige Mitglieder von Synanon schätzen, dass von den rund 1000 Aufnahmen pro Jahr nur ein Dutzend Drogenabhängige mehr als zwei Jahre durchhält. Synanon selbst kann einen «Erfolg» — die dauerhafte Abstinenz nicht mit Zahlen belegen – oder will es nicht.

Die therapeutischen Wohngemeinschaften, die sich heute zu rigide organisierten und finanzkräftigen Institutionen entwickelt haben, sind ein uneheliches Kind der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre. «Der theoretische Ausgangspunkt der Selbsthilfe», schreibt Horst Brömer, «ist die These der gesellschaftlichen Determination der Persönlichkeit des Jugendlichen.» (12) Die Umwelt sei an der Drogensucht schuld, und wenn man nur wolle, könne man das ändern. Konsequent wird das «süchtige» Verhalten von der Subkultur und deren Werten abgeleitet, die die Drogen-Konsumenten prägten. Eine Prägung durch charakterliche Defekte, wie sie die Psychiatrie bei der Drogensucht annahm, lehnt man ab. Jeder fühlt sich sowohl als Therapeut wie als Patient.

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AntiDrogen-Therapie in China, credits: China Daily

Diese Prämissen entsprechen ungefähr denen des lerntheoretischen Ansatzes zur Erklärung der Drogensucht. Nicht der Konsum einer Droge sei das Wesentliche, sondern die Subkultur, in der es soziales Prestige bringt, «cool» zu sein und mit dem gefährlichen Stoff umgehen zu können. Deshalb müsse die Subkultur durch etwas anderes ersetzt werden. «Die strukturierende Kraft der Drogenszene», die den Fixer entweder cool oder hilfsbedürftig erscheinen lasse, werde «durch die strukturierende Kraft der Wohngruppe ersetzt».

Ein Mittel dieser «Kraft» ist zum Beispiel der Initiationsritus der Aufnahme, der häufig an exorzistische Rituale erinnert: Der Neuankömmling muss alle Dinge, die an die Szene erinnern – wie Kleidung, Schmuck usw. – ablegen, bekennen wie ein reuiger Sünder, dass er schuldig und sein bisheriges Leben verfehlt ist, und Besserung und Mitarbeit schwören. Wie absurd diese Praxis ist, wenn jemand nur vor den Toren einer Drogentherapie erscheint, um dem Gefängnis zu entgehen, scheint einleuchtend. Drogentherapien, die ursprünglich die «Sucht» in Selbsthilfe bekämpfen wollten, indem sie auf lebenslange Abstinenz setzten, können zwar bei denen etwas bewirken, die sich freiwillig dieser Tortur unterziehen, in dem Wissen um das, was sie erwartet. Als allgemeingültiges Modell, wie man Abhängigkeit von psychothropen Substanzen «heilen» könnte, sind sie jedoch genauso gescheitert wie diejenigen Einrichtungen, die immer noch davon ausgehen, der Patient müsse von charakterlichen Defiziten befreit werden.

Das deutsche System der Zwangstherapie steht in Europa beinahe einzigartig da.

Das deutsche System der Zwangstherapie steht in Europa beinahe einzigartig da. In fast allen anderen europäischen Ländern ist Freiwilligkeit oberster Grundsatz bei der Behandlung OpiatAbhängiger. Erschwert wird die Situation der Junkies in Deutschland noch dadurch, dass medika-mentengestützte Therapien, wie zum Beispiel die Substitution mit Codein oder Polamidon, viel seltener angeboten werden. Der Berliner Gerichtsmediziner Prof. Friedrich Bschor: «Der Gedanke liegt nahe, das deutsche Drogenfreiheits-Paradigma eher in der Nähe sybillinischer Kultvorschriften denn im Bereich empirischer Wissenschaft zu vermuten.» (13) Der einzige Erfolg dieser Kultvorschrift: Ein großer Teil der jugendlichen Drogenkonsumenten kommt mit dem Gesetz in Konflikt, wird vorbestraft und hat sich die Zukunft verbaut. Ein gegen die Jugend ist in vollem Gange, aber schon verloren: Die Zahl der Heroin-Abhängigen steigt immer mehr an, trotz aller repressiver Maßnahmen.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einer Justizvollzugsanstalt wandten sich 1992 mit einem verzweifelten Brief an die Öffentlichkeit: «Die vergangenen zwanzig Jahre des Vorrangs der Abstinenztherapie haben im Ergebnis dazu geführt, dass die Zahl der Drogenabhängigen weiter steigt, die Therapieeinrichtungen eine extrem niedrige Erfolgsquote aufweisen, die Verelendung in der Drogenszene weiter zunimmt und sich die Justizvollzugsanstalten zunehmend mit Drogenabhängigen füllen. In Vollzugsanstalten niedriger Sicherheitsstufe sitzen heute bereits mehr Drogenkonsumenten ein als wegen klassischer Eigentumsdelikte (wie Diebstahl) Verurteilte. Rechnet man hinzu, dass sich hinter vielen Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten Beschaffungskriminalität von Drogengebrauchern verbirgt, dann gibt es bereits jetzt Anstalten, in denen mehrheitlich Drogenkonsumenten ‘zwischengeparkt’ werden.» (14)

(Fortsetzung: Therapie – eine unendliche Geschichte II

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(1) Zit. nach G. Grimm (1985), S. 57
(2) ebd., S. 60f, dort auch andere Literatur
(3) G. Bühringer: Standards für die Durchführung von Katamnesen bei Abhängigen: Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, S. 9: in: D. Kleiner (1987)
(4) W. Heckmann, zit. nach G. Grimm (1985), S. 50
(5) ebd, S. 51
(6) G. Grimm (1985), S. 90
(7) Die Fassung des Betäubungsmittelgesetzes vom 1.1.82
(8) Zit. nach G. Grimm (1985), S. 22
(9) W. Heckmann: Therapeutische Gemeinschaften für Drogenabhängige. Geschichte-Gegenwärtige Praxis – Zukunftsprobleme, in: ders. (1980), S. 10f
(10) W. Burian/I. Eisenbach-Stangl (1980), S. 13
(11) Zit. nach Kury, H. /Dittmar, W. /Rink, M.: Zur Resozialisierung Drogenabhängiger — Diskussion bisheriger Behandlungsansätze. In:Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 1980, S. 135ff (1980), S. 142
(12) H. Brömer: Pioniere ohne Auftrag, in: W. Heckmann (1980), S. 76
(13) F. Bschor (1983), S. 749 f
(14) «Die Tageszeitung», 02.10.92

Bullshit ist ein Feature, kein Bug

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„Ein Beispiel dafür wäre etwas, was in der Biologie fast immer hilfreich ist: mehr Energie zu erhalten. „Das erste, was passieren könnte, ist also, dass ein solches System sagt: ‚Wir brauchen mehr Energie. Lasst uns den ganzen Strom zu meinen Prozessoren umleiten.‘ Ein weiteres großes Unterziel wäre dann, mehr Kopien von sich selbst zu machen. Hört sich das für Sie gut an?“ (aus William Hertling: Singularity – via Heise-Forum)

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Ich darf das roboteraffine Publikum auf einen Heise-Artikel über Geoffrey Hinton aufmerksam machen (leider Paywall). „Warnt vor Gefahren“ ist natürlich langweilig, das hat schon Stanislaw Lem getan, vor allem in Ananke, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die „Gefahr“ ist eher, so Lem, dass die Geschöpfe der Robotik uns ähnlicher sind bzw. sein werden als zu wünschen wäre. (Was sagt KI zum Ukraine-Krieg?)

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Geoffrey Hinton, credits: playgroundai.com

Hintons Sicht der Dinge wurde maßgeblich von der neuen Generation großer Sprachmodelle verändert, insbesondere GPT-4 von OpenAI, das im März heraus kam. Es habe ihm klar gemacht, dass Maschinen auf dem Weg sind, viel schlauer zu werden, als er dachte, sagt er. Es beunruhigt ihn, wie sich das entwickeln könnte. „Diese Dinger sind völlig anders als wir“, sagt er.“

Das wage ich aus philosophischer Sicht zu bezweifeln. Der Mensch hätte, wenn KI – in welcher Form auch immer – so anders wäre als er selbst, unbewusst etwas geschaffen, dass er dann auch nicht verstehen könnte. (Darüber muss ich noch nachdenken. Was sagt Hegel?)

Das Ziel sind selbst lernende neuronale Netze. Die sind aber nicht anders als das menschliche Gehirn, nur ausgelagert, wie jedes andere Werkzeug auch.

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„Unsere Gehirne haben 100 Billionen Verbindungen“, sagt Hinton. „Große Sprachmodelle haben bis zu einer halben Billion, höchstens eine Billion.“ Doch GPT-4 wisse Hunderte Male mehr als jeder Mensch.“

„Wissen“ ist aber nur ein technisches Problem. Hätte ein Mensch in einer Nanosekunde alles im Internet vorhandene Wissen zur Hand, wäre er genau so schlau. Das Problem ist doch eher, wie man damit umgeht und wie man es einordnet.

Hal, stelle mir alle verfügbaren Quellen zusammen, die den Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus ökonomisch erklären, insbesondere die Spezifik, warum ein Zusammenhang bestehen könnte zur Herausbildung des spezifische Kapitalismus in Nordwesteuropa. Oder: Hal, gibt es Klassenkampf im 中国特色社会主义)?

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Bullshitting sei ein Feature, kein Bug. „Menschen konfabulieren immer“, sagt er. Halbwahrheiten und falsch erinnerte Details seien Kennzeichen der menschlichen Konversation: „Konfabulation ist ein Merkmal des menschlichen Gedächtnisses.“ Diese Modelle machten damit, sagt Hinton, etwas genauso wie Menschen. Der Unterschied bestehe darin, dass Menschen normalerweise mehr oder weniger korrekt konfabulieren. Das Erfinden sei nicht das Problem. Computer brauchen einfach ein bisschen mehr Übung.

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Meine zwei Cents dazu: KI wird den Kapitalismus revolutionieren wie schon das Internet, ihn aber nicht abschaffen. Roboter sind Teil der Produktivkräfte, nicht mehr. Aber vielleicht gibt es ja doch eine Überraschung, wenn der erste Roboter anfängt, Karl Marx zu lesen…

Das Kreuz mit der Sucht IV

Wer wird süchtig?

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Wer immer Drogenabhängige therapieren will, hat auch eine Theorie über die «Sucht», um seine Maßnahmen zu rechtfertigen. Dabei ist es mehr als merkwürdig, dass die schwache Basis, auf der diese Theorien stehen, kaum jemals einer radikalen Kritik unterzogen wurde. Wer sollte das aber tun, wenn nicht die Ärzte und Therapeuten, deren Arbeitsplätze gerade von der Definition des Drogengebrauchs als «Krankheit» abhängen!

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Credits: DrugAbuse.com

Dabei zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die theoretischen Voraussetzungen, dass das, was die Suchtexperten über die Persönlichkeit bzw. den Charakter der Drogen-Konsumenten zu wissen glauben, auch auf einen großen Teil der Bevölkerung zutrifft, der relativ «drogenfrei» lebt. «Psychisch Schwache» greifen zu Drogen: Heißt das, dass der Rest «psychisch stark» ist? Gilt diese «Schwäche» nicht auch als Merkmal derjenigen, die in Sekten und ähnlichen Organisationen landen; kann man totalitäre religiöse oder politische Vereinigungen dann als «Droge» verstehen? Selbst wenn wir dem orthodoxen psychiatrischen Ansatz, dem Christiane Schmerl diese Ansichten zuschreibt (1), zubilligen, Symptome von Persönlichkeitsstörung bei Heroinabhängigen manchmal richtig beobachtet zu haben, heißt das noch lange nicht, dass diese Symptome zum Drogenmissbrauch geführt haben.

Die Frage bleibt offen, warum seelisch Kranke viele Verhaltensauffälligkeiten zeigen, darunter aber kaum jemals Drogenmissbrauch.

Unlogisch ist auch der Schluss, dass eine Behandlung dieser Störungen zur Abstinenz führen könnte oder sollte. Wenn die Drogeneinnahme «primär Symptom eines psychischen Konflikts» sei, garantiert das nicht — wenn der Konflikt nicht mehr vorliegt -, dass der Patient Drogen in Zukunft nicht auch aus anderen Gründen nimmt. Diese Ansätze könnten nicht erklären, folgert Schmerl kritisch, «wieso es eigentlich zu bestimmten Zeiten zu einem epidemischen Anstieg von Drogengebrauch und -abhängigkeit kommt». Die beobachteten frühkindlichen Störungen und negativen Erfahrungen, die angeblich zum Drogenmissbrauch disponieren, seien «keineswegs spezifisch für Drogenabhängige, sondern finden sich bei anderen ‘unangepassten’ ebenso und – nicht zu vergessen – auch bei unauffälligen, als ‘normal’ klassifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen». (2) Außerdem bleibt die Frage offen, warum «wirklich seelisch Kranke viele Verhaltensauffälligkeiten zeigen, darunter aber kaum jemals Drogenmissbrauch». (3)

Sollte die Opiat-Abhängigkeit eine eigenständige psychische Krankheit sein? Zu dieser These hat sich bisher noch niemand durchgerungen. Angesichts der zweifelhaften empirischen Basis der meisten Untersuchungen über Drogensucht wäre sie aber auch sehr gewagt: Die Drogenabhängigen in Kliniken, Gefängnissen oder Therapie-Einrichtungen, die zum Thema befragt und untersucht werden, sind schlicht für Konsumenten nicht repräsentativ. Und selbst gravierende methodische Fehler, die in jedem anderen Wissenschaftszweig den Vorwurf der Unseriösität nach sich zögen, werden bei den Theorien über Sucht schweigend entschuldigt. «Die meisten Untersuchungen arbeiten zwar mit Kontrollgruppen, diese müssten sich aber nur im Merkmal der Drogenabhängigkeit unterscheiden.» (4)

Das führt zu so obskuren Vergleichen wie dem zwischen drogenabhängigen Jugendlichen aus der Unterschicht mit drogenfrei lebenden aus der Mittelschicht. Schmerl führt das Beispiel an, dass sich die Merkmale Jugendlicher, die ohne Drogen auskamen und sich freiwillig für eine Befragung zur Verfügung gestellt hatten, und Drogenabhängiger, die ebenfalls freiwillig Auskunft gaben, mehr glichen als die zweier Kontrollgruppen – drogenfrei lebend oder drogenabhängig – von straffälligen und internierten Jugendlichen.

Therapeutischen Maßnahmen gegen die «Drogensucht» sollte mit erheblichem Misstrauen begegnet werden.

Da die psychiatrischen und psychoanalytischen Ansätze einer Sucht-Theorie ohnehin weder zwischen verschiedenen Drogen noch zwischen Abhängigen und gelegentlichen Konsumenten unterscheiden, sollte, so Schmerl, den therapeutischen Maßnahmen gegen die «Drogensucht» mit erheblichem Misstrauen begegnet werden. Bei Heroin komme noch hinzu, dass es «viel eindeutiger eine geschlechtsspezifische Ungleichverteilung zugunsten männlicher Adepten» gebe, «ein Verhältnis, das noch keinen Drogenforscher zu der Behauptung hingerissen hat, Männer seien eher neurotisch prädisponierte Drogenpersönlichkeiten». (5)

Die eher sozialisationstheoretischen Ansätze, die das Umfeld oder, noch grober: die Gesellschaft für Drogenmissbrauch verantwortlich machen, erfreuen sich vor allem deshalb großer Beliebtheit, weil sie sich durch populäre Stammtisch-Theorien bestätigt wissen und durch die Medien relativ simpel darzustellen sind. Die klassische Heroin-Story ist so einfach gestrickt, dass sie ein journalistischer Anfänger als Gesellenstück vorlegen könnte, ohne jemals einen Junkie zu Gesicht bekommen zu haben: Ein armes Mädchen aus chaotischen Familienverhältnissen (mangelnde Liebe usw.) gerät auf die schiefe Bahn, hängt an der Nadel und klopft endlich, nach mancherlei schlimmen Erfahrungen, an die Tür einer Therapie-Einrichtung, wo sie gerichtet, nein, gerettet wird? (6)

Auch in dieser Argumentation ist keinerlei zwingende Logik zu erkennen. Die statistische Häufigkeit von Merkmalen, die angeblich den Drogenkonsum fördern, wie sexueller Missbrauch in der Kindheit, mangelnde Zuwendung, «broken home», gestörtes Verhältnis zum Vater, wahlweise zur Mutter, Pubertätsprobleme, verzögerter Reifungsprozess, grassierende Arbeitslosigkeit usw. bedeutet noch keinen kausalen Zusammenhang. Bestätigt wird diese Kritik auch durch die schlichte Tatsache, dass 40 Prozent der Drogenabhängigen die «suchtfördernden» Merkmale – aus sozialisationstheoretischer Sicht — nicht haben, sich aber die gleiche Anzahl von Nichtabhängigen mit diesen negativen Voraussetzungen plagen muss.

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Credits: DrugAbuse.com

Wenn zwei Dinge gleichzeitig auftreten, etwa – wie in Schleswig-Holstein – die höchste Geburtenrate und die größte Anzahl von Storchen-Populationen, heißt das nicht, dass eines die Ursache des anderen ist. Detaillierte Untersuchungen in England ergaben, dass zwar ein Zusammenhang zwischen der Verschlechterung der sozialen Situation insgesamt und dem Anstieg des Heroin-Konsums bestehe, dass der Schluss aber falsch sei, die ökonomische Lage mit ihren Folgen für die Familien bewirke eine Zunahme von «Sucht-Persönlichkeiten». (7)

Auslöser für den (ersten) Drogenkonsum sei keine psychische Störung, sondern eine jedem Menschen mehr oder weniger stark immanente Neugier.

Ein dritter Ansatz für die Erklärung des Drogen-Konsums – vor allem im anglo-amerikanischen Raum verbreitet – baut auf den Prämissen der Lerntheorie auf. Es sei nachgewiesen, so Schmerl, dass «bei Beginn, Beibehaltung und Rückfall im Heroin-Gebrauch sich das Wirken klassischer Lernprinzipien beobachten und mit Erfolg zur Erklärung von Drogenverhalten heranziehen lässt». (8) Diese Lernprozesse seien bei jedem Menschen gleich, wenn er in eine dementsprechende Situation gerate, es bedürfe daher zur «Entwicklung einer Abhängigkeit keiner persönlichkeitsspezifischer Zusatzannahmen». Ähnlich argumentiert auch der Kieler Arzt Gorm Grimm: Auslöser für den (ersten) Drogenkonsum sei keine psychische Störung, «sondern eine jedem Menschen mehr oder weniger stark immanente Neugier, ein Erlebnisdrang, der zwar fatale Folgen haben kann, aber doch für sich gesehen eine ganz normale menschliche Motivation darstellt».

Die wissenschaftliche Diskussion in den USA war in den sechziger Jahren noch von der Voraussetzung ausgegangen, Drogenkonsum sei ein Quasi-Rückzug aus der Gesellschaft. Den Street-Gangs, die sich mehr auf kriminelle Aktionen spezialisierten, und den Jugendbanden, die mehr auf «action» aus waren und nur ihr Territorium verteidigten, stellte man diejenigen sozialen Abweichler gegenüber, die sich in die Traumwelt der Drogen zurückzogen («retreatist adaptation»). Deren Motto: «A flight into inactive phantasy in the face of a harsh world.»

Ende der sechziger Jahre wandelte sich das Bild, somit auch die Theorie. Nicht mehr der abgedriftete, passive «freak» galt als der Drogenkonsument an sich, sondern der Straßenjunkie als «resourceful entrepreneur», der ständig aktiv sein musste, alert, flexibel, und der in der Lage war, seinen «Beruf» erfolgreich auszuüben. Nicht der kranke, zurückgezogene oder lernunfähige Straßenjunge probiert zuerst Heroin, sondern derjenige, der abgebrüht, schlau ist und respektiert wird, vor allem die Anführer der Straßengangs. HeroinKonsum gilt als Beweis der Männlichkeit: Bist du Manns genug, es zu nehmen? Kannst du damit umgehen, oder kontrolliert es dich? (9)

Im lerntheoretischen Ansatz zur Sucht spielen diese Beobachtungen eine wichtige Rolle. Positive Verstärker der Gruppe, in der man sich bewegt, können den Wunsch erzeugen, durch die Droge Anerkennung und Geltung in der Clique zu bekommen. Was positiv empfunden wird, führt in der Regel zur Wiederholung des Verhaltens. Dabei ist die real erlebte Wirkung der Droge weniger bedeutsam: Dass der Erst-Konsument von Heroin sich körperlich schlecht fühlt, kann durch die positive Verstärkung der Gruppe überlagert werden.

Die Droge ist Teil des sozialen Status, ja kann sogar, wie in England untersucht, für diejenigen ein wichtiges Element des «lifestyle» werden, denen der traditionelle soziale Aufstieg durch Arbeit verwehrt bleibt. Der hier eingeführte Begriff der «sozialen Ansteckung» besagt, dass Neulinge von erfahrenen Drogengebrauchern initiiert werden, dass die Meinungsführer in einer Gruppe eine wichtige Rolle spielen, ob jemand eine Droge probiert oder nicht – ungeachtet seiner Persönlichkeit.

War noch in den sechziger Jahren der Anführer in subkulturellen Gruppen «tough», zeichnete sich also vorwiegend durch körperliche Stärke und Fitness aus, wandelte sich das Bild: Jetzt musste man «cool» sein – eine Aussage über eine bestimmte psychische Qualität, deren Vorhandensein insbesondere durch Heroin suggeriert wird.

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Credits: Crest View Recovery Center

Die positiven sozialen und, bei erfolgter Gewöhnung, auch psychischen Verstärker werden ihrerseits ergänzt durch negative Verstärker: Wenn man die Entzugssymptome der Droge vermieden hat, ist das ein Erfolg. Die Assoziationen «Droge – positive Sensation» und «Droge -Beendigung negativer Sensationen», so Christiane Schmerl, bekämen selbst psychische Qualität. Der Nachweis dieser These werde auch dadurch geführt, dass durch medizinische Opiatgaben abhängig gewordene Personen — trotz gleicher psychischer Konstellation – sich nicht zu Heroin-Abhängigen entwickelten, «solange sie nicht lernten, ihre körperlichen Beschwerden auf die Abwesenheit von Opiaten zurückzuführen, das blitzartige Verschwinden der Beschwerden nicht mit einer erneuten Dosis assoziierten». (10)

Einige Lerntheoretiker sprechen sogar von einem «künstlich» erzeugten Trieb — eine sprachliche Anleihe aus der klassischen Psychoanalyse: Die Drogenabhängigkeit sei ein «Zustand eigengesetzlicher Art», der aufgrund «der ihm innewohnenden Konditionierungsmechanismen nicht mehr als ‘Symptom’ für irgendeine ‘primäre’ Krankheit, Neurose usw. angesprochen werden kann, weil er unabhängig von ehemaligen Motiven oder Gründen seine Eigendynamik entwickelt habe».

Aufklärung, da sind sich die meisten Fachleute einig, schützt nicht vor Drogenkonsum.

Dieser Ansatz zur Erklärung, was Sucht sei, gibt keinen Anlass zu Optimismus. Gerade das «aufregende» Erleben in der illegalen Drogenszene führe zu Verhaltensgewohnheiten, die kaum zu verändern seien, da sie nach dem Prinzip der «unregelmäßigen (intermittierenden) Verstärkung» aufgebaut seien. Heroin-Abhängige müssen eine Reihe von Fertigkeiten entwickeln, um sich den Stoff zu beschaffen. Sie sind in der Regel in ihrem «Metier» recht erfolgreich. Diese Flexibilität, auf die unterschiedlichsten Situationen angemessen zu reagieren – die unregelmäßige Verstärkung —, erzeuge aber weitaus festere und schwerer zu lösende Muster als regelmäßige Verstärker (wie etwa im Schulunterricht). Als Konsequenz des lerntheoretischen Ansatzes steht daher eher die Prävention im Vordergrund, nicht aber die Rehabilitation Drogenabhängiger.

Doch ist damit etwas gewonnen? Was kann Prävention anderes sein als die Vermittlung von Verhaltensnormen? Die hehre Absicht, Menschen zu veranlassen, das Böse zu meiden und das Gute zu tun, scheitert auch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Aufklärung, da sind sich die meisten Fachleute einig, schützt nicht vor Drogenkonsum. Ohnehin lässt sich der Nutzen von Einrichtungen, die um Prophylaxe bemüht sind, nicht messen: Wie soll man kontrollieren, ob jemand durch eine Beratung vor Drogenmissbrauch geschützt wurde? Prävention, so kann man vermuten, dient vor allem der moralischen Beruhigung derer, die mit dem Thema Drogen befasst sind. Man hat getan, was man konnte. Wer dennoch uneinsichtig ist, dem ist nur begrenzt zu helfen.

Die Gründe, warum Menschen Drogen nehmen, sind so vielfältig, dass man sie nicht in einen Begriff wie «Sucht» pressen und diese dann pauschal zur Krankheit erklären kann.

Die Gründe, warum Menschen Drogen nehmen, sind so vielfältig, dass man sie nicht in einen Begriff wie «Sucht» pressen und diese dann pauschal zur Krankheit erklären kann. Was in der einen Gesellschaft als «Abhängigkeit» von psychothrophen Substanzen und als «unkontrolliertes» Verhalten gilt, ist in der anderen ein wenig beachteter Teil des alltäglichen Lebens. Natürlich muss der Staat die Bürger und Bürgerinnen davor schützen, andere und sich selbst in Gefahr zu bringen – aber um welchen Preis? Die Definition dessen, was wir als «Sucht» verstehen, beantwortet immer auch die Frage, wie weit wir unsere eigene Verantwortung selbst in die Hand nehmen wollen oder das anderen überlassen.

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(1) Ch. Schmerl (1984), S. 48 ff
(2) ebd., S. 55
(3) G. Grimm, (1985), S. 77
(4) Ch. Schmerl (1984), S. 66
(5) ebd., S. 77
(6) Bei allem Respekt für die brillante journalistische Leistung Marie-Luise Scherers, die für ihre Reportage über einen Fixer «Auf deutsch gesagt: gestrauchelt» mit dem Kisch-Preis ausgezeichnet wurde: Auch der Junkie und Held «Manni» endet in der «Therapie» Synanon, was den Leser zu der verfrühten Annahme verleitet, damit sei ihm geholfen. [Einer der besten Reportagen, die ich jemals gelesen habe! Die eindeutig beste Geschichte ist auch von ihr: Der unheimliche Ort Berlin über eine Leiche im Kreuzberg der 80er-Jahre. Jeder Satz wie gemeißelt, und kein Wort überflüssig. („Eine Frau darf scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt.“) Man muss abwechselnd schallend lachen, oder es stehen einem die Haare zu Berge. Ich habe die Scherer damals bei ihren Recherchen persönlich kennengelernt. Sie war oft im legendären Slainte in der Oranienstrasse. Meine damalige Freundin wohnte in der Naunynstrasse. Ich war damals noch kein Journalist, kannte aber einige der Protagonisten ihrer Reportage, zum Beispiel „Schmutzfuß“, „Pille“. Santana“ und „Chaota“.]
(7) So J. v. Scheidt, der in seinem Buch «Der falsche Weg zum Selbst. Studien zur Drogenkarriere» (1976) behauptet, die Schädigung der Drogen-Konsumenten durch die Eltern werde «auf seiten der Frau natürlich noch durch den allgemeinen Drang nach Emanzipation» vorangetrieben. Vgl. Geoffrey Pearson: Social deprivation, unemployment and patterns of herein use, in: N. Dorn/N. South (1987): Zwischen 1979 und 1981 stieg die Arbeitslosigkeit in England von 1,5 Mio. auf 3 Mio., die parallele Zunahme des Rauschgiftkonsums war aber nicht der ökonomischen Entwicklung geschuldet, sondern hing mit ganz anderen Faktoren zusammen.
(8) Ch. Schmerl (1984), S. 110
(9) G. Pearson, in: N. Dorn/N. South (1987), S. 80
(10) Ch. Schmerl (1984), S. 112

Das Kreuz mit der Sucht III

Der Zwang zur Heilung

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Die Theorie der «Suchttherapie» hat eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie die staatlichen Maßnahmen gegen Rauschmittel: Sie hat ihren Geltungsbereich immer weiter ausgedehnt. Das ursprüngliche Problem geriet dabei zunehmend aus dem Blickfeld: Nicht der Missbrauch von Drogen muss bekämpft werden, sondern das angeblich sozial auffällige Verhalten der Süchtigen.

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Da es den Medizinern und Therapeuten nicht gelingt, des «Problems» Herr zu werden, verlagern sich auch ihre Anstrengungen: Dem «Suchtcharakter» der Opiatabhängigen kommt man nicht so leicht bei, und deshalb muss man mit «sanfter» Gewalt nachhelfen, um die Einsicht des Drogen-Konsumenten in sein «Problem» zu fördern.

Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Fälle von «Morphinismus» (1) beschrieben wurden, dauerte es nicht lange, bis die Therapeuten auf den Plan traten. Ein Handbuch der Psychiatrie aus dem Jahre 1912 beschreibt das, was auch heute noch in manchen Drogentherapien gültig ist: «Die Energie zur Selbstentwöhnung besitzen nur wenige Morphinisten, meist ist Zwang nötig; selbst wenn die Kranken ihr Einverständnis für die Einleitung der Entziehungskur gegeben haben, suchen sie sich häufig, sobald die Beschwerden der Abstinenzperiode einsetzen, zu entziehen.» Deshalb empfiehlt man: «Bei Aufnahme in die Anstalt ist, vor allem bei uneinsichtigen, widerstrebenden Kranken, genaue körperliche Visitation nach mitgebrachten Morphiumvorräten erforderlich; sie hat sich gegebenenfalls auch auf die Körperöffnungen zu erstrecken.» (2) Für die Kranken sei «eine solche strenge Beaufsichtigung ein Halt und eine Stütze» in «ihrem» Kampf gegen den Rückfall. Während die ersten Vertreter der therapeutischen Zunft noch zwischen «willigen» und «unbehandelbaren» Drogen-Konsumenten unterscheiden, setzt sich in wenigen Jahrzehnten die auch heute noch von den meisten Ärzten und Therapeuten gebilligte Meinung fest, gegen «Sucht» helfe nur Zwang.

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Seit knapp hundert Jahren hat sich offenbar nicht viel geändert. Die Theorien darüber, was als Ziel der Behandlungen von Opiatabhängigen erreicht werden soll und wie das zu geschehen habe, sind vage. Es werden nur Teilziele benannt. «Entwöhnung» meint den Prozess, die Droge abzusetzen, also den Entzug überhaupt erst einmal durchzuhalten. Die «Gewöhnung», von der man lassen soll, differenziert nicht zwischen der körperlichen Abhängigkeit und dem psychischen Verlangen, das auch nach dem Absetzen des Rauschmittels fortbesteht. Heute spricht man im engen Sinne von «Entgiftung»: Der Körper soll vom «Rauschgift» befreit werden, wobei «Gift» klammheimlich suggeriert, hierbei handele es sich um eine gefährliche und schädliche Substanz – was bei Opiaten zumindest fragwürdig ist.

Leider verhalten sich die Kranken uneinsichtig. Auch das ist gleich geblieben. Sie bringen nicht genug «Energie» auf. Um die Behandlung zu verlängern oder zu wiederholen, muss der Begriff «Sucht» herhalten. Die Abhängigkeit von einer Droge wird zu einem «strukturellen» Problem gemacht, das tief in der Psyche des Kranken verborgen sei. Das ständige Auf und Ab zwischen Entgiftung und Rückfall wird zu einer Selbstverständlichkeit, wobei das Ziel in immer weitere Ferne rückt. Der Kranke hat falsch gelebt und bringt nicht genug Energie auf, ein besseres Leben zu führen. Deshalb muss er «Leben neu lernen» (3). Das kann dauern und sichert die Arbeitsplätze der Therapeuten.

Die deutsche Therapie-Lobby geht mittlerweile schon so weit, dass sie die «Entwöhnung» bzw. Entgiftung anderen oder dem Patienten selbst überlässt. Voraussetzung, um einen Therapie-Platz zu ergattern, ist, dass der oder die Opiat-Abhängige «clean» ist. Eine absurde Umkehrung: Was das ursprüngliche Ziel war – sich der Droge zu «entwöhnen» —, wird jetzt zur Voraussetzung der Behandlung erklärt. Für so primitive und «einfache» Dinge wie den Entzug sind sich die hochspezialisierten Therapeuten und Psychologen zu schade. Erst wenn der uneinsichtige Kranke sich selbst in die Lage versetzt hat, von der Droge zu lassen – als Zeichen der Gutwilligkeit -, lässt man sich zu ihm herab, um ihn und seinen «Suchtcharakter» mit einer therapeutischen Maßnahme zu beglücken. «Es muss erst ohne Zutun der Drogentherapeuten ein Wunder geschehen: nämlich das Wunder der absoluten Drogenfreiheit, erst dann lässt man sich mit Exusern ein.» (4)

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Diese merkwürdige, verdrehte Logik hat ihre Vorteile. Sowohl die orthodoxen Vertreter der Therapeuten-Lobby, die den «Suchtcharakter» für das Problem – die Uneinsichtigkeit der Kranken und deren mangelnde «Energie» – verantwortlich machen, haben ein Interesse daran als auch die liberalen «Suchtexperten», die die Gesellschaft als das Übel ansehen. In beiden Fällen kann man angesichts des Scheiterns des Bemühens von den eigenen Misserfolgen ablenken: Nach einem Rückfall ist entweder das Individuum (die narzisstische und therapieresistente Persönlichkeit) oder die soziale Misere (die den Abhängigen keine Perspektive gibt) schuld Drogensucht als «schwere psychische Erkrankung der ganzen Persönlichkeit» versus Drogenabhängigkeit «als Folge gesellschaftlichpolitischer Defizite».

Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Die Abstinenz hat sich ja nur deshalb als Behandlungsziel in die Kette der therapeutischen Maßnahmen eingeschlichen, weil man ursprünglich davon ausging, das sei mit helfendem Zwang zu bewerkstelligen. Die Frage, ob Sucht nicht auch tolerierbar sei, vermeidet man. Man definiert die drogenfreie Persönlichkeit als «normal» und den Drogenkonsumenten als «krank», um das eigene Eingreifen rechtfertigen zu können. Ist die Krankheit «schwer» und betrifft sie den ganzen Menschen, suggeriert das eine Hilflosigkeit des Patienten, die den helfenden Zwang geradezu herausfordert. Ungeachtet, ob der Drogenkonsum als Ursache oder nur als ein Symptom einer «tieferliegenden Störung» angesehen wird: Wenn man das Ziel nur ernst genug nimmt, rechtfertigt das alle Mittel.

Auch das ist im Interesse des Selbstbildes der Suchttherapeuten. Die mehr psychoanalytisch orientierte Fraktion wird sich bei einem Therapie-Erfolg – der Patient macht einen Bogen um die Drogen – zugute halten, dass ihre Methode selbst schwerste Persönlichkeitsstörungen zugunsten eines «neuen» Menschen ummodellieren kann. Es gibt wohl keine «Krankheit», deren Behandlungserfolg so einfach zu kontrollieren ist: Wenn ein ehemals Heroinabhängiger den Stoff nicht mehr anrührt, gilt er als geheilt, ganz gleich, wie das erreicht wurde.

Und wenn sich in der Person des Drogen-Konsumenten partout nichts finden lässt, was ihn von dem «normalen» Rest der Bevölkerung unterscheidet, sind eben die Vorfahren — normalerweise die Eltern — schuld. Die «Schwere» der Krankheit ist für den Drogenkonsumenten eben deshalb so schwer zu durchschauen, weil sie in einer Phase seines Lebens begann, die er noch nicht bewusst erleben konnte. «Intakte» Familienverhältnisse schützen angeblich vor Drogenmissbrauch, wobei keiner der Drogen- und Suchtexperten es bisher gewagt hat, diese «intakten» Verhältnisse genauer zu beschreiben. Meistens bleibt es bei philosophischen Bemerkungen allgemeiner Art wie der des Synanon-Chefideologen Ingo Warnke,: «Glückliche Leute werden nicht süchtig.» (5)

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Die liberale Fraktion der Therapeuten sonnt sich bei einem Erfolg in dem Gefühl, der bösen Gesellschaft ein Schnippchen geschlagen zu haben: Die Abstinenz des Patienten wird zum beinahe politischen Akt der Rebellion gegen die unzumutbare soziale Situation, die zum Drogenkonsum verführte. Der inadäquate Protest gegen die Gesellschaft – «gegen frustrierende Obrigkeit, gegen hierarchische Strukturen, gegen den Leistungsdruck, gegen Bevormundung… gegen Gebotskataloge der Konsumpflicht und damit Ausdruck des Unbehagens unserer Zeit… » (6) wird therapeutisch in die richtigen Bahnen gelenkt.

Der Therapeut macht sich zum heimlichen Komplizen des Patienten – ohne dessen Wissen -: Er gibt zu, dass die Gesellschaft besser sein könnte, als sie ist, und dass die Rebellion gerechtfertigt, nur dass Drogenkonsum eben die falsche Art des Protestes sei. «Ob man sich seine Gehirnwäsche nun durch süchtigen Konsum des TV- oder des LSD-Heimkinos durchführen lässt – das tatenlose zahme Lämmchen bleibt man allemal.» Fixen ist Opium fürs Volk. (7)

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(1) Roche-Lexikon Medizin, München/Wien/Baltimore 1998
(2) Zit. nach W. Burian/I. Eisenbach-Stangl (1980), S. 6
(3) So der ehemalige Berliner Landesdrogenbeauftragte Heckmann, zit. nach G. Grimm (1985), S. 43, Anm. 3
(4) F. Theyson/D. Spazier: Nowhere: Therapeutische Expedition in die Unwegsamkeit der Drogenszene, Frankfurt 1981, S. 189, zit. nach G. Grimm (1985), S. 43
(5) In: «Spandauer Volksblatt», 12.10. 75
(6) Zit. nach G. Grimm (1985), S. 71, Anm. 2
(7) E. Joite (1972), S. 27

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