Trierer Apokalypse und der blassrosa Satan

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse – erste Darstellung eines Kummets

In godes minna ind in thes christânes folches ind unsêr bêdhero gehaltnissî, fon thesemo dage frammordes, sô fram sô mir got geuuizci indi mahd furgibit, sô haldih thesan mînan bruodher, sôso man mit rehtu sînan bruodher scal, in thiu thaz er mig sô sama duo, indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, the mînan uuillon imo ce scadhen uuerdhên. (Altfränkisch bzw. Althochdeutsch, Straßburger Eide, 14. Februar 842, also ein oder zwei Jahrzehnte nach der Trierer Apokalypse)

Ich muss noch etwas zwischenschieben – „Agrarisch und revolutionär (II)“ folgt alsbald.

Das kam so: Ich wollte Mitterauers „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ weiterlesen, stockte aber, weil mir unangenehm auffiel, dass ich das Standardwerk Lynn WhitesMedieval Technology and Social Change“ über die Entwicklung der Produktivkräfte gar nicht kannte. [Triggerwarnung: Der folgende Satz hat sehr viele Wörter!] Seine zentrale These gilt zwar als widerlegt, aber seine Quellensammlung zur Geschichte der Technik sind immer noch die Basis, um die Frage zu beantworten, was eigentlich zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und dem Hochfeudalismus geschah, ob man überhaupt von einem „Untergang“ reden sollte, und ob der Feudalismus – also das, was wir hinreichend definieren und einschätzen wollen, wie und warum ein revolutionärer (?!) Fortschritt war und ob die mitteleuropäische Geschichte, die am schnellsten zur Industriellen Revolution und zum Kapitalismus führte, eben, wie Mitterauer fragt, ein „Sonderfall“, also eine Ausnahme ist, oder ob es weltweit ähnlich abläuft, nur mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Ich hatte schon leise vor mich hinmurmelnd vermutet, dass, da es in China immerhin bis zum Staatskapitalismus und einer sich „kommunistisch“ nennenden Partei langte, in Europa nichts dergleichen zu beobachten ist, die asiatische Produktionsweise der asiatische Weg eher derjenige sein könnte, der der in die ferne Zukunft weisende kommunistischen Utopie immerhin näher kommt als alles andere.

Bei der Lektüre von Medieval Technology and Social Change (in deutsch) musste ich dann aus purer Neugier einige der extrem exotischen Quellen nachprüfen. Daher jetzt also die karolingische Trierer Apokalypse aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts, die überraschenderweise einige Fragen zur Kontinuität zwischen der Antike und dem frühen Feudalismus ein wenig beantwortet.

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse – Darstellung fränkischer Krieger mit den typischen Wadenbinden

Auch der Stil der Bilder des Kodex weist in die Zeit [nach 804]. Die Zeichnung der jugendlich runden, unbärtigen Gesichter, die noch relativ differenzierte Gewanddrapierung, das Bemühen um getreue Wiedergabe kontrapostischer Stellungen und Bewegungen, die Andeutung von Schmerz und Leid im Gesichtsausdruck, all dies kommt der mutmaßlichen spätantiken Vorlage so unvermittelt nahe, wie es vor allem in der frühkarolingischen Buchmalerei anzutreffen ist. (Kommentar von Peter K. Klein in der Faksimile-Ausgabe)

Die Trierer Apokalypse ist neben der Valenciennes Apokalypse der älteste Zyklus zum Thema überhaupt. Sie fußt auf einer wesentlich älteren Vorlage. Die Wissenschaft kann anhand vieler Details aber feststellen, was das Original imitiert und was von den karolingischen Mönchen zugefügt wurde und was definitiv nicht spätantik ist. (Ich finde das spannend, aber im Buch nimmt das mehrere Seiten in Anspruch.) Zum Beispiel halten die Personen (Schrift)Rollen in den Händen und keine Bücher. Die Heiligen sind bartlos. Gott auf dem Thron sitzt auf einem Globus ohne Clipeus, war seit dem 4. Jahrhundert in der Kunst bekannt ist. Die Pferde sind ohne Steigbügel, obwohl die zur Zeit Karl des Großen allmählich bekannt und übernommen wurden. Die Frisuren der Frauen sind noch antik.

So weisen der Satan und böse Dämonen eine blaßrosa oder blaugraue Färbung auf, so wie man sie sich in der Spätantike vorstellte. Der Drache (…) erscheint als antike Flügelschlange, besitzt also noch nicht die Reptiliengestalt der früh- und hochmittelalterlichen Darstellungen. (SCNR)

Der Hetoimasia, der Thron Christi, stammt aus dem „heidnisch-antiken Hofzeremoniell“ und wurde seit dem Ende des 4. Jahrhunderts durch apokalyptische Motive (vier Wesen, Siegel-rolle, Lamm) eschatologisch umgedeutet.

Merke: Man nimmt etwas, was ursprünglich etwas ganz anderes bedeutet, und interpretiert das einfach um. Robert Ranke-Graves argumentiert in „Die Weiße Göttin“, dass das Christentum nur ein Abklatsch oder eine umgestaltete Version des römischen Mithras-Kultes gewesen sei.

Wir wissen jetzt so viel, dass wir wissen, dass wir gar nichts wissen. Natürlich ist das Pferdegeschirr am interessantesten. Wieder die Frage: Warum ist das den Römern nicht eingefallen? Lynn White schreibt, es stehe fest, dass das „Altertum die Pferde in einzigartig ungeschickter Form angeschirrt hat.“ Man nahm das Jochgeschirr der Ochsen und legte dem Pferd zwei Stränge um Brust und Hals. „Sobald das Pferd anzog, drückten die Stränge auf Schlagader und Luftröhre, so daß die Atmung und die Blutzufuhr zum Kopfe gedrosselt wurde.“

Das in der Trierer Apokalypse abgebildete Kummet beweist an diesem Beispiel, dass der Frühfeudalismus gegenüber den antiken Techniken revolutionär war: Die Arbeitsleistung eines Pferdes ist, trotz gleicher Zugkraft wie die des Ochsen, um 50 Prozent größer. Vom englischen König Alfred dem Großen, der dem Publikum vermutlich aus dem Ragnar-Lothbrok-Zyklus bekannt ist, wird berichtet, er sei erstaunt gewesen, dass (Ende des 9. Jahrhunderts) in Norwegen Pferde zum Pflügen benutzt wurden.

Wenn an also vom „Untergang“ des römischen Reiches spricht, bezieht man sich auf die politisch und ökonomische Sphäre. Ob das so negativ war, ist strittig. Der Feudalismus war so fortschrittlich, dass er nach der Jahrtausendwende eine Bevölkerungsexplosion nach sich zog, aber nördlich der Alpen. Der Süden wurde abgehängt, würde man heute in den Medien sagen.

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse: In der ersten Zeile eine lateinische Geheimschrift – die Vokale werden durch die ihnen im Alphabet folgenden Konsonanten ersetzt. Danach ein Zusatz aus dem 15. Jahrhundert „apocaylsis cum pictoris“. Darunter 19 Zeilen Minuskel aus dem frühen 12. Jahrhundert – (Erläuterung Richard Laufners in der Faksimile-Ausgabe)

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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

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Kommentare

9 Kommentare zu “Trierer Apokalypse und der blassrosa Satan”

  1. flurdab am März 18th, 2021 7:46 am

    Bei den Römern und dem Pferd stellt sich mir die Frage ob die Pferde überhaupt für den Ackerbau zur Verfügung standen, oder nicht doch eher dem Mititär vorbehalten waren?
    Beim Kummet stellt sich mir die Frage wie der olle Römer seine Gäule in den Streitwagen einspannte, wobei er doch sicherlich bei den Ägyptern kopierte.
    Beim römischen Militär wurden meines Wissens nach bereits Maultiere verschlissen, so ganz keine Ahnung vom Getier können sie also nicht gehabt haben.
    Welche Rolle spielte das Rind/ Stier/ Ochse in der Götterwelt der Römer und gab es dort auch Pferde?

    Der Ochse als Zugtier scheint mir auch ein wenig einäugig, man wird wohl auch mit seinem weiblichen Pendant gearbeitet haben. Als Bauer hat man seine Ressourcen sparsam einsetzten müssen, da war ein Pferd als Zugtier nicht die erste Wahl. Außerdem musste man ja auch nur soviel Acker bestellen wie man brauchte um über das Jahr zu kommen. Subtitutionswirtschaft oder so.
    Vielleicht solltest du noch die Entwicklung des Pfluges in deine Betrachtungen einbeziehen. Ab wann und wo wurden Eisenscharen zum Pflügen eingesetzt? Quasi der Beginn der „industriellen“ Landwirtschaft mit Mehrertrag.

    „So weisen der Satan und böse Dämonen eine blaßrosa oder blaugraue Färbung auf“
    Eine Beschreibung die manche Eltern teilen werden.

  2. Wolf-Dieter Busch am März 18th, 2021 10:04 am

    Der Artikel ist länglich und ich werde ihn später in Ruhe reinziehen.

    Kurz mein technisches Verständnis zu ökonomischem Fortschritt des Feudalismus gegenüber der Sklavenwirtschaft:

    Das letzte freiheitliche Refugium des Sklaven war eine „Dummheit“ – man konnte ihm nur primitives, unkaputtbares Werkzeug anvertrauen. Beispielsweise auch kein Ross, es wäre nach kürzester Zeit sauer geritten, stattdessen nur Esel.

    Im Feudalismus achtete der nunmehr „Freie“ auf sein Werkzeug. Mit Folge von besseren Pflügen und folgend reicherer Ernte.

    Wo mein Auge hängen geblieben ist sind die Zeichnungen. Schätzungsweise mit Federkiel gezeichnet. Erinnert mich an eigene Jugendzeichnungen.

    Später eventuell mehr.

  3. ... der Trittbrettschreiber am März 18th, 2021 10:34 am

    Meine bisherige Vorstellung von einem untergegangenen Reich, Imperium oder sonstig bombastischem Gebilde war das vollständige Verschwinden, Sterben, am Boden liegen, in den Straßengräben von den neuen, modernen und besseren Menschen verachtete Verwesen der Mitglieder dieser Machtkrake. Heute weiß ich: Sowohl das römische Reich als auch die DDR sind niemals untergegangen.
    Man schaue auf das Rheinland – und schaut auf diese Stadt…

    https://de-de.facebook.com/rbb24.de/videos/322568398305990/

  4. flurdab am März 18th, 2021 12:09 pm

    Ist der BH eigentlich eine Alternativentwicklung des Kummets?
    Der Schulterriemen ist ja von der Passform nicht wirklich divers. Viele Kleinbauern hatten ja gar keine Zugtiere, da musste die Familie in die Furche.
    Bauernfrauen am Niederrhein hatten bis in die 1960ziger Jahre alle ein entsprechendes Format.
    Ich schweife ab…

    Das Virus macht mich fettig

  5. ... der Trittbrettschreiber am März 18th, 2021 1:13 pm

    @flurdab

    „Das Virus macht mich fettig“

    Es gibt Abhilfe:

    https://ivanadrobek.com/reinigungsrituale-koerper-geist-seele/

  6. admin am März 18th, 2021 2:16 pm

    @fludab: Über den schweren Pflug habe ich schon etwas geschrieben: https://www.burks.de/burksblog/2021/02/21/agrarisch-und-revolutionaer-i

  7. flurdab am März 18th, 2021 4:32 pm

    @ Trittbrettschreiber

    Danke für die Anteilnahme.
    Ich bin aber ein wenig entäuscht keine Jever- Anwendung zu finden. Das muss ein Fehler sein.

  8. Energie, Masse und Kraft : Burks' Blog – in dubio pro contra am April 4th, 2021 6:45 pm

    […] schrieb: “Ich wollte Mitterauers “Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines […]

  9. Als die Römer frech geworden, reloaded : Burks' Blog – in dubio pro contra am Oktober 26th, 2021 2:37 pm

    […] Was fällt dem historisch gebildeten Leser und der in römischer Geschichte bewanderten Leserin zuerst auf? Ja, richtig: Der Reiter benutzt keine Steigbügel. Die waren sogar noch fast ein Jahrtausend später nicht selbstverständlich. […]

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