Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt
Leider muss ich das Publikum mit einem Luftpostbrief belästigen, den ich vor 45 Jahren aus Südamerika an meine Eltern geschrieben habe, 17 Seiten auf hauchdünnem Papier (um Porto zu sparen: Aerogramm). Ich werde immer noch schamrot, wenn ich lese, was für einen Unsinn ich damals meinte von mir geben zu müssen. Man kann das nicht unkommentiert lassen; manches ist auch schlicht falsch. Die Rechtschreibung habe ich nicht verändert. Einiges ist doppelt (hier schon einmal erwähnt), weil ich damals nicht wusste, ob die Briefe überhaupt ihr Ziel erreichen würden.
Wie ich hier schon schrieb: Die Adressaten wussten fast gar nichts über die Länder Südamerikas oder auf dem Niveau des Bertelsmann Volkslexikons. Für mich wird es interessant, wenn ich meine heutige Sicht mit der von damals vergleiche oder mit den Briefen, die ich 1984 bei meiner dritten halbjährigen Reise schrieb – die waren ganz anders, aber auch nicht so, wie ich heute schreiben würde.
Vermutlich werden sich die Nachgeborenen auch nicht mehr vorstellen können, dass man überhaupt Briefe schrieb. Heute steht man von überallher ständig in Kontakt und schreibt zudem die sozialen Medien voll. Beim Verfassen des Briefes war ich drei Monate unterwegs gewesen und hatte die USA, Mexiko, Belize, Guatemala, Honduras, Kolumbien und Ecuador gesehen und war quer durch Peru gereist. Ich hatte keinen Reiseführer, und meine Kenntnisse über die Länder beschränkten sich auf Allgemeinbildung und Karl May. Schon witzig, dass ich mich damals – nach der Hälfte der Reise – als „erfahren“ fühlte. „Erfahren“ hätte ich mich vielleicht am Ende der 2. Reise 1980, die zum Teil viel abenteuerlicher und auch gefährlicher war, fühlen können.
Cuzco, [richtig: Cusco] 21.1.1980 (angekommen 2.2.80)
Liebe Eltern!
Leider weiß ich nicht, ob meine Briefe bisher angekommen sind, weil ich seit Kolumbien keine Post mehr bekommen habe (Anf. Nov.). Der letzte Brief ist in Quito, Ecuador, losgegangen, und seitdem ist sehr viel passiert und wir haben sehr viel erlebt. Zunächst einmal: Uns geht es ausgezeichnet, gesundheitlich wie stimmungsmäßig, finanziell wie üblich knapp.
Heute sitzen wir in einem kleinen Café in Cuzco im Süden von Peru und hören zum 2. Mal seit 4 Monaten Klassik – Tschaikowsky, und sind ganz glücklich nach den ewigen Schnulzen hier. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie begeistert wir über kleine Dinge sein können – ein bisschen europäische Musik, eine funktionierende Dusche (seit Quito habe ich nicht richtig heiß geduscht!) oder eine deutsche Zeitung. Seit Berlin gab es kein Schwarzbrot mehr, an Fleischsalat kaum zu denken – aber das sind Kleinigkeiten.
Von Quito sind wir eine Woche im Urwald von Ecuador gewesen – in einem kleinen Dorf gab es eine Anakonda als Haustier im „Hotel“. Bootsfahrten über Dschungelflüsse, schreiend bunte Papageien + Schmetterlinge + Stromschnellen, die uns manchmal Angst einjagten.
Stellt euch z.B. vor, man fährt 8 Std. mit einem urtümlichen Gerät von Bus zwischen Hühnern, Schweinen und viel zu viel Passagieren über Schotterpisten durch die Anden, durch Pässe von 5000m Höhe (!), und plötzlich reißen die Wolken auf und 1000m weiter unten dunkelgrüner Dschungel bis zum Horizont – und der Bus braucht 3 weitere Stunden über endlose Serpentinen nach unten. Ab und zu sind die Brücken über die Flüsse eingestürzt und man muß Stunden warten, bis die Fähre kommt. Nach einer Nacht Regen führen die Flüsse so viel Wasser und sind so reißend, daß sogar Stahlbrücken einstürzen – wir haben eine gesehen!
Im Süden von Ecuador waren wir in einem kleinen Ort – Banos (d.h. „Bäder“), der direkt unter einem noch tätigen Vulkan, d. Tungurahua, liegt und wo es heiße Schwefelquellen gibt, in denen wir gebadet haben. Wir hatten nichts besseres zu tun, als den Vulkan zu besteigen– eine 3-Tage-Tour mit leichtem Gepäck. Zuerst ging es zu einer Hütte auf 3600m Höhe – eine unbeschreiblich schöne Pflanzenwelt gibt’s dort oben – Heidekraut, Krüppelkiefern mit Moosen und Flechten bewachsen, die bis auf den Boden hängen, unzählige bunte Blumen und dazwischen Nebelschwaden.
Das Schönste war der Sonnenaufgang mit Fernsicht über 150 km und Blick auf mehrere schneebedeckte 6000er Vulkane, u.a. den Chimborazo, den höchsten Vulkan der Welt. Ich bin dann noch weitere 5 Std. hoch über Geröll, Felsen und Gletscher bis zum Vulkankrater auf 4800m (der Gipfel liegt etwas über 5000 und ist nur für Bergsteiger mit Ausrüstung begehbar). Sehr komische Gefühle bekommt man, wenn überall aus den Ritzen und Spalten heiße Dämpfe aufsteigen!
Wenn ich alles schreibe, was wir erlebt haben, wird der Brief zu lang, also nur einige Episoden.
Das Foto habe ich 1979 an der Bahnstrecke zwischen Guayaquil (eigentlich Durán) und Quito gemacht. Zuerst veröffentlicht 15.03.2023.
– Eisenbahnfahren in Ecuador ist lustig – auf der Strecke von Riobamba nach Guayaquil an der Küste fährt ein Pullman-Zug aus der Jahrhundertwende, mit knallrot angestrichenen Holzwaggons und einer ebenso putzigen Dampflok, die keuchend die Anden rauf und runter schnauft, wie im Wilden Westen! Der Zug hält in den Dörfern wie eine Straßenbahn mitten auf der Straße, und ringsum Holzhäuser mit Saloon, ein wahnwitziges Getümmel von Leute und Pferden. Ihr braucht euch nur mal einen Wildwest-Film anzusehen – es staubt sogar genauso.
Dann ging unser Geld fast aus und wir mußten nach Lima, Peru. Wir sind die ganze Strecke von von Guayaquil, Ecuador, bis Lima, Peru, an einem Stück gefahren, 57 Stunden Transport auf Zementlastwagen und Busfahren mit Reifenpannen.
Der Küstenstreifen von Peru (über 1300km!) ist eine Sandwüste wie in der Sahara – bis zum Horizont nur Sand, Sand und noch mehr Sand mit riesigen Wanderdünen und Oasen mit Palmen [Die Strecke habe ich 1984 fotografiert]. Wir lagen nachts hinten auf der Ladefläche eines Lasters, sahen einen unbeschreiblich schönen Sternenhimmel, ringsum Sandwüste, und der Wagen rauscht mit einer Staubwolke die Straße entlang. Wir sahen allerdings aus wie die Räuber, ein Tuch vor dem Gesicht, Bartstoppeln – ich hatte leider Durchfall und mußte in den Oasen mitten auf dem „Bürgersteig“ (morgens um 1/2 5 war zum Glück keiner auf der Straße – nur die Dorfhunde guckten ganz interessiert). Die letzten 24 Stunden hatte wir die Nase voll und sind mit dem Bus gefahren.
Lima, die Hauptstadt von Peru, hat wenig Sehenswürdigkeiten zu bieten, wenn man in die Außenbezirke fährt, sieht es aus wie nach einem Bombenangriff, alles total zerfallen, Slums, bettelnde Kinder, alles total verdreckt – vielleicht kann ich durch Fotos einen Eindruck verschaffen. Peru ist ein sehr armes Land. Ich glaube, 4 oder 5x so groß wie Deutschland, nur 20 Mio. Einwohner [heute 34,4 Mio.], allein 6 Mio. in Lima, also ziemlich „leer“. Die gutgestellten Bauern verdienen ca 100 DM im Monat!
Wir brauchten inklusive Hotels, Restaurants + Andenken jeder 400 DM in 5 Wochen, so billig ist es hier! Ein Essen mit Suppe und Getränk kostet 1.20 DM, allerdings ist die Qualität nicht mit Europa zu vergleichen, aber hier gibt es eben nichts! Die Bauern ziehen alle in die Stadt, weil sie glauben, mehr verdienen zu können – dabei stimmt das überhaupt nicht. Ganz Lima ist voll vom fliegenden Händlern, die buchstäblich alles verkaufen – unbeschreiblich – vor Weihnachten war die Hölle los.
Nach Lima sind wir mit der höchsten Eisenbahn der Welt (über 4.800m!) [heute nur noch die höchste Eisenbahn in Amerika] zu einer Landkooperative gefahren, d.h. eine ehemalige amerikanische Hazienda, die enteignet wurde und von den Bauern kollektiv bewirtschaftet wird. Die Leute sind unglaublich gastfreundlich – Touristen aber auch so gut wie unbekannt. Wir wurden bei einer Familie zum Essen eingeladen – der Mann ein sonnengebräunter Indio, der uns zur Begrüßung umarmte, seine Frau ganz dick mit 4 oder 5 Röcken, langen schwarzen Zöpfen und einem großen weißen Hut (d.i. hier die Tracht und auch oder gerade die alten Frauen sehen alle sehr hübsch aus) und zum Essen gab es —drei Meerschweinchen! Wenn man nicht daran denkt, schmeckt es gut, nur wenig Fleisch, aber bei der Armut verständlich, daß die Leute zu Tieren ein anderes Verhältnis haben als wir. [Es existierte ein Fotos dieses Mahls, aber ich habe es weder veröffentlicht noch gefunden.]
Rente oder Versicherung gibt es nicht, die alten Leute leben von ihren Kindern – und ihr könnt euch vielleicht denken, mit welchen Gefühlen wir uns verabschiedet haben. Sie entschuldigten sich dafür, daß sie so „schlecht“ vorbereitet gewesen waren – dabei hatten sie selbst kaum etwas zu essen.
Wir haben hier (die Kooperative nennt sich SAIS Tupac Amaru, das heißt so viel wie „landwirtschaftliche Interessengemeinschaft“ – Tupac Amaru ist ein Indio, der vor 200 Jahren den Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier angeführt hat und dafür gevierteilt worden ist) vieles über die Verhältnisse in Peru erfahren.
Nach 4 Tagen sind wir dann langsam weiter in den Süden Perus, haben malerische Indiomärkte besucht, einen 45-Std.-Horror-Trip mit dem Bus von Ayacucho nach hier über 5000er Pässe, Fernsicht aus dem Bus wie von einem Schweizer Alpengipfel, Lamaherden auf kahlen Hochebenen, bitterarmen Hirtenkindern und 8stündigem Steckenbleiben des Busses im Schlamm (hier ist Regenzeit, d.h. aber, es regnet nur nachts oder nur ein paar Stunden täglich, sonst scheint die Sonne.)
Unser Bus, links ein liegengebliebenes Auto (in einer Kurve!), rechts 700m Schlucht. Oben ca. 20 Hühner, ein Schwein, hinten in einer Klappe ein Schäferhund, ca. 70 Gepäckstücke auch noch auf dem Dach – und alle Passagiere mussten beim Überholmanöver aussteigen, damit es im Falle eines Absturzes nur 1 Toten gegeben hätte!!! Die „Straße“ nur Schotter und Schlamm. Mir wurde es recht mulmig.
Jetzt mal was über die letzten 2 Wochen. Cuzco im Süden ist die alte Hauptstadt der Inkas, deren Reich von den Spaniern im 16. Jahrhundert zerstört wurde. Ihr müsst wissen, daß ca. 3/4 der Bevölkerung Perus Indos sind, d.h. Nachfahren der Inkas, die kaum Spanisch sprechen, sondern Quechua, eine uralte Sprache, die eigentlich gar nicht in schriftlicher Form existiert. [Der Unterschied zwischen dem Quechua der Inka-Zeit und dem von heute ist so groß wie der zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch.] Ich habe mal ein bisschen gelernt, es ist aber so schwer wie Chinesisch. Z.B. heißt „Feind“ in Quechua „auca“. Die Aucas [sie heißen Huaorani – nur die Inka nannten sie Auca – im Sinne von „Barbaren“] sind ein Indiostamm im Dschungel von Ecuador. Das Inkareich erstreckte sich im 16. Jh. von Quito, Ecuador bis nach Chile! Die Inkas kannten das Rad nicht, haben aber 6m breite Straßen gebaut von Cuzco nach Quito, über 5000km lang! Alle paar Kilometer gab es kleine „Raststätten“ für die Läufer (Pferde gab es nicht) mit Bädern.
Die Inkas hatte nur einen Fehler – sie waren friedfertig [das ist natürlich totaler Unsinn!] und besaßen haufenweise Gold – und die Spanier mit ihrer europäischen „Kultur“ haben alles kurz und klein geschlagen. Die Landwirtschaft heute ist auf einem niedrigeren Stand als damals, weil die Inkas Terrassenanbau bis auf 4500m Höhe betrieben haben, heute ist alles verfallen. So, das zur Einführung für das Folgende.
Die Häuser von Cuzco sind noch auf den alten Inkamauern gebaut – d. sind teilweise Felsbrocken bis 30 Tonnen (wie haben die die ohne Maschinen bewegt?), die so miteinander verfugt sind, daß man an einigen Stellen kein Messer dazwischen stecken kann – und ohne Mörtel! Obendrauf stehen viele spanische Kolonialkirchen, die aber bei den verschiedenen Erdbeben wegen der „fortschrittlichen“ europäischen Bauweise fast alle zusammengefallen sind, während die Inkabauwerke noch alle stehen.
Die berühmteste Sehenswürdigkeit Südamerikas ist die alte Ínkastadt Machu Pichu, ca. 120km von Cuzco in den Bergen – ich glaube, irgendwer in der Verwandtschaft hat eine Postkarte mit Machu Pichu bekommen. Man kann mit einem Zug hinfahren, wir sind nach 88km aufgestiegen (Hartmut + ich + und noch ein Belgier) und haben uns mit Rucksack, Zelt, Gaskocher, Haferflocken, Wasserflasche, Kaffee, Milchpulver, Schlafsack + Kleinigkeiten in die Berge geschlagen. Es gibt die letzten 33km vor Machu Pichu eine alte Inka“straße“, eben weil die Inkas keine Fahrzeuge kannten, haben sie ihre Wege per Luftlinie in die Berge gebaut.
Wir haben für die Strecke 5 Tage gebraucht, der 1. Pass war über 4200, der 2. 3800, der 3. 3500m, aber das war mit mein schönstes Erlebnis in Südamerika, aber auch sehr anstregend. Nachts haben wir meist in halbverfallenden Inkaruinen übernachtet, die alle hoch auf den Gipfeln sind – und jeder Sonnenauf- und -untergang war überwältigend – die 6000er Kordilleren Perus im Hintergrund. Teilweise sind die Wasserleitungen der Inkas noch heute in Betrieb, obwohl sie seit 400 Jahren nicht mehr erneuert wurden, und wir konnten uns mit eiskaltem Gebirgswasser waschen und hatten was zum Kochen.
Aufstieg am Morgen im Nebel, ca. 4.000 Höhenmeter, auf dem so genannten „Inca trail“ oder auch camino de los Incas nach Machu Picchu, Peru. Das Foto zeigt meinen damaligen Reisebegleiter (Januar 1979). Zuerst veröffentlich am 02.04.2021.
Dabei gibt es keine Dörfer, kein Haus, nichts als Gegend! Hier im Gebirge ist außerdem gerade Frühling, leider kann ich die Orchideen, die hier wie Unkraut wachsen, nicht mitbringen!
Leider können die Fotos nicht viel vom Eindruck vermitteln, z.B. die vorletzte Nacht – nur ein Beschreibungsversuch. Wir sitzen alle an einem Lagerfeuer in einer Inkaburg, ein Sternenhimmel wie im Bilderbuch, 750m weiter unten fast senkrecht in einer Schlucht ein reißender Fluß (Rio Urubama), steile Hänge, von tropischer Vegetation überwachsen (auf 3000m Höhe! Schneegrenze bei 4000-4500m), Unten verschwindet die Sonne gerade noch hinter der „Veronica“ (über 6000m!), rechts rauscht ein Wasserfall, das Feuer flackert über dem Gemäuer, wir essen Haferflocken und stellen uns vor, wie alles vor 500 Jahren ausgesehen hat. Überall auf den Ruinen blühen Orchideen, die Fotos müssten ein bißchen von dem Eindruck wiedergeben können.
Am 6. Tag sind wir bei Sonnenaufgang vom „Sonnentor“ (2700m) einen alten Pfad runter nach Machu Pichu, um ein paar Stunden ohne Touristen ruhig alles besehen zu können (die kommen mit dem Zug um 10 und werden mit Bussen über eine halsbrecherische 8km-Serpentinenstrecke nach oben gekarrt). Leider ging ausgerechnet da mein Fotoapparat kaputt (ist schon wieder repariert), aber unser belgischer Freund hat einen besseren und wir werden die Fotos tauschen bzw. ihm abkaufen [was nicht passiert ist, aber ich habe Machu Picchu dann 1984 fotografiert].
Machu Pichu ist von den Spaniern zum Glück nicht entdeckt worden und so noch ziemlich erhalten, hoch über dem Tal, aber zwischen noch höheren Bergen (die Berge sind so steil wie in den Dolomiten, aber mit Regenwald bewachsen). Die Stadt ist sehr geheimnisvoll, man weiß eigentlich nichts über ihre Funktion. Man hat hier über 100 weibliche Mumien [gemeint sind Skelette] gefunden, warum nur Frauen, weiß man auch nicht, vielleicht waren es Priesterinnen, vielleicht waren die Inkas matriarchalisch organisiert, vielleicht waren die Männer im Kampf gegen die Spanier gefallen?
Ich werde alles besser erzählen, jedenfalls als die ersten Touristen kamen und und verwundert anstarrten, waren wir schon wieder auf dem Marsch die Serpentinen runter zur Bahnstation. Eisenbahnfahren in Peru ist noch abenteuerlicher, aber auch etwas unangenehm, weil die Züge fürchterlich überfüllt sind, für europäische Verhältnisse unvorstellbar. 3 Personen auf einem, Sitz, jede Indiofrau hat einen Riesensack dabei, auf dem Gang steht, liegt und sitzt alles, Kinder schreien, fliegende Händler verkaufen Früchte, Schnaps (Chicha aus Mais, schmeckt so wie Alsterwasser, aber ein bißchen besser, ein Glas kostet 10 Soles, 1 DM=145 Soles) und Gebäck und zu allem Überfluß klettert der Schaffner über alles hinweg. Bei jeder Station gibt es ein Drama, Trauben von Leuten hängen draußen an den Türen, die Frauen kreischen und heulen – jeder deutsche Bahnangestellte würde einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen kriegen. Fahrpreise 100km =1 DM!
Aber für Normaltouristen sind solche Touren unmöglich, aber so kriegt man mit, wie die Leute hier wirklich leben. Es gibt einen „Touristenzug“ nach Machu Picchu, der 3000 Soles kostet, der Normalzug kostet 270, 3000 Soles sind ein Wochenverdienst! In Cuzco gibt es genug amerikanische und europäische Touristen mit dem Geld für 3 Wochen, was wir in drei Monaten brauchen und ihr könnt euch sicher denken, was der peruanische Indio für ein Verhältnis zu ihnen hat. Hunderte von bettelnden Kinder und Frauen, Schuhputzjungen von 8-10 Jahren, Kinder von 6,7, und 8 Jahren (wirklich!), die abends in den Restaurants Zigaretten verkaufen, kaum ein Hemd am Körper, total verdreckt und zerfetzt und hungrig. Da vergeht einem das „ach, wie süß“, wenn man wieder mal einen der schwarzäugigen Indiokinder im Wickeltuch auf dem Rücken der Mutter sieht.
Das Foto habe ich in 1979 Huancayo im Hochland von Peru gemacht. Zuerst veröffentlicht am 05.11.2011.
Ich habe sehr viel Geduld aufbringen müssen, um ein paar realistische Fotos zu machen. Ein Bekannter von mir, der recht unbefangen touristisch drauf losknipsen wollte, wurde von Marktfrauen mit heißen Kartoffeln beworfen und mußte wieder abziehen.
Es gibt sogar Leute, die, ohne ein Wort Spanisch zu können, hier hinfahren, was die hier wollen, weiß ich nicht. Ich glaube, ich bekomme langsam ein Gefühl dafür, was eigentlich „Entwicklungshilfe“ bedeutet.
So, morgen machen wir uns auf die Reise nach Bolivien (La Paz). Die politischen Verhältnisse sind ein wenig unsicher, Straßen- und Ausgangssperre – in Bolivien kann jederzeit wieder ein Putsch kommen. Aber macht euch mal keine Sorgen, wir haben uns bisher immer durchgebissen und werden das auch weiter tun. Ich spreche schon fast fließend Spanisch und wir haben ja auch schon eine ganze Menge Südamerika-Erfahrung und können eine Menge verkraften.
(…) Wir ändern die Route. 2 Wochen Anden von Bolivien, dann durch den Dschungel in den Norden (es gibt keine Straßen, aber in der Regenzeit müßte man von Dorf zu Dorf mit dem Boot kommen) an die brasilianische Grenze, dann weiter nach Norden nach Manaus (Brasilien) direkt am Amazonas, weiter nach Norden nach Boa Vista in den Süden von Guyana, von Georgetown je nach Zeit und Geld (ab La Paz haben wir zusammen noch 2000 DM, das müßte reichen) [drei Monate für zwei Personen] nach Surinam [das haben wir später aus Zeit- und Geldmangel weggelassen], Ende März von Guyana nach Barbados (vielleicht bleibe ich noch eine Woche in Trinidad), je nachdem ob ich aus Berlin Post nach La Paz bekomme oder nicht, dann spätestens am 28./29.3. zurück nach Luxemburg. Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt, wir schicken Karten vielleicht von Manaus + Georgetown, aber wer weiß, ob die ankommen! Und wenn ihr die bekommt, sind wir fast wieder da. Wir werden wahrscheinlich abǵeholt und kommen zuerst in Unna vorbei, ich fahre dann weiter nach Berlin, komme aber, sobald die Fotos fertig sind, für längere Zeit nach Unna. (…)
Die ursprünglich geplante Route über Sao Paulo und Rio dauert zu lange, und Rio ist sauteuer und wir wollen nicht hetzen. Die Entfernungen hier sind ja auch ein bisschen anders, allein der Dschungel von Bolivien im Norden, den wir in 14 Tagen „machen“ wollen, ist so groß die die ganze BRD!
Vielleicht noch ein paar allgemeine Sachen. Seit Kolumbien habe ich kein Klavier mehr gesehen. Nur 2x bisher hatte ich „Darmgeschichten“, beide Male in Peru (Hygiene ist hier ein unbekanntes Wort, aber wer denkt daran, die Töpfe vor dem Kochen zu waschen, wenn es kein Trinkwasser gibt, selbst in den Städten?), in Cuzco eine Woche lange mit Erbrechen und Magenkrämpfen, aber das hat hier jeder Europäer, der nicht gerade im Hilton übernachtet. Unsere Mägen haben sich schon abgehärtet, wenn andere Gringos nach einem Essen auf dem Markt oder nach Chicha-Genuß (mit Spucke von den Indiofrauen zubereitet!) den großen Durchfall bekommen, sind wir noch quietschvergnügt – aber bitte: über Schwarzbrot, Fleischsalat und Vanillepudding in Unna wäre ich trotzdem glücklich.
(…) Das Verhältnis zu anderen Rucksack-Reisenden hat sich mittlerweile gewandelt, jetzt sind wir die „alten Hasen“ und geben den anderen Tips. Es ist manchmal lustig zu sehen, wie unerfahrene „Gringos“ (das ist hier der Ausdruck für Ausländer) von den ausgekochten Indiofrauen fürchterlich über’s Ohr gehauen werden, auch wenn es nur um Pfennige – für uns! – geht. Ich habe gestern zum Beispiel 20 Minuten gefeilscht, nur um ein paar Strümpfe um 30 Pfennige billiger zu kriegen und habe Erfolg gehabt. Z.B. auf den Märkten: ein Alpaca-Pulli kostet 10 DM. Der erste Preis liegt bei 20 DM und man braucht eine halbe Stunde, um ihn herunterzuhandeln – was wäre das ohne Spanisch! [US-]Amerikaner zahlen sowieso das Doppelte und Deutsche mit umgehängter Kamera auch. Eine Banane kostet 8-10 Soles (1 DM= 145 Soles), der „Gringopreis“ liegt bei 20, aber nach einem kurzen „Pläuschchen“ kostet sie plötzlich nur noch die Hälfte. Wir haben auf einem Markt für Indios buntbemalte Früchte gekauft, eine für 3-4 DM, die in Europa nicht unter 50 DM zu haben wären [ich habe nicht herausgefunden, ob es die überhaupt außerhalb von Peru oder online zu kaufen gibt] – aber wir können das auch nicht alles transportieren – und jeder bekommt nur eine Kleinigkeit. 1 Schachtel Zigaretten in Peru kostet 23 Pfenning, 1 „Hotel“übernachtung 1,50-2 DM (das letztere schon gut!), Tagesdurchschnitt bei 10-12 DM (dafür kostete die Kamera-Reparatur 20 DM) – wenn ich das mit den Berliner Preisen vergleiche – ich habe wohl ein anderes Verhältnis zu Geld bekommen und die Umstellung wird recht groß sein. Vielleicht muß ich Taxifahren auch wieder lernen.
Hygiene: heute morgen wollten wir duschen – das Wasser floß spärlich und was eiskalt, nach dem Einseifen blieb es dann ganz weg! Klospülung gibt es so gut wie gar nicht in ganz Südamerika, die Leute werfen das Papier daneben und man gewöhnt sich mit der Zeit an den Anblick der Reste vom Vorgänger. Vielleicht ist es schwer zu vermitteln, warum wir das alles überhaupt machen und wieso es uns trotzdem gefällt. Einerseits sind die Leute hier unvorstellbar (für Europa) freundlich und hilfsbereit, wenn man sich nicht wie der „reiche Onkel“ benimmt und das werden wir vermissen. Andererseits lernt man zu begreifen, daß sehr viele Dinge, die man für selbstverständlich hielt, eben nur in Europa vorhanden sind, auch, was die Mentalität angeht. Die Indios sind wie die Kinder, sie freuen sich über Kleinigkeiten und erwachsene Männer sehen mit offenem Mund den Feuerschluckern und Zauberern auf den Märkten zu. Andererseits ist eben alles chaotischer, nichts funktioniert „ordentlich“ – aber wir in Europa haben vielleicht 500 Jahre mehr gebraucht dazu, was will man verlangen?
Burks auf der Mauer des Klosters „la Recoleta“ in Sucre, der Hauptstadt Boliviens. Zuerst veröffentlicht am 25.12.2010.
Aber es sieht so aus, als wenn die Leute hier vieles aus Europa unkritisch übernehmen, die Reichen sitzen in teuren Bars und essen amerikanische Hamburger, weil es „schick“ ist, obwohl Gemüse auf den Märkten viel gesunder wäre. Die Indiotracht, handgewebte Wolle, hält vielleicht 10 Jahre, aber die Leute in der Stadt tragen Synthetic-Zeug in den unmöglichsten Farbkombinationen, das hält halb so lange und ist außerdem für die Witterung unpraktisch. [Das ist vermutlich Quatsch.] Viele bewundern die Europäer, die viel Geld haben und weite Reisen machen, wo viele nicht einmal das Geld haben, um den Bus zum nächsten Dort zu bezahlen – und das bei den Preisen! Schulbildung bei den einfachen Leuten ist so gut wie nicht vorhanden, wir wurden gefragt, ob man mit dem Bus nach „Alemania“ fahren könnte.
Selbst Studenten wissen ohne Ausnahme (!) nichts über Berlin – aber wer in Deutschland weiß schon, wo Ecuador liegt? Oder Belize? Wir sind die große Sensation: Im Dschungel von Ecuador waren wir abends in einer Kneipe, wo Arbeiter Billard spielten – wir wurden nach jeder Kleinigkeit in Europa ausgequetscht und mußten selbstverständlich nichts bezahlen – stellt euch vor, 2 Südamerikaner mit Rucksack kämen nach Unna, wer die ansprechen oder gar zu seinen Eltern zum Schweinebraten einladen würde (Meerschweinchen gibt’s ja nicht)?
So, in Cuzco wird es jetzt heiß, 25 Grad und mehr zur Mittagszeit, heute Abend muss man wieder einen Pullover anziehen – [unleserlich] wenn wir – hoffentlich am Freitag – in La Paz angekommen sind, dann geht der Brief ab.
La Paz, 26.1.
Nun sind wir schon in der Hauptstadt Boliviens [die Hauptstadt ist Sucre]! Ankunft gestern nach ein paar schönen Tagen am Titicacasee und Einreise ohne Schwierigkeiten. Wir haben Probleme, unsere Rückflüge zu buchen, ich habe in Berlin angerufen, weil die Briefe an mich immer noch nicht angekommen sind (…) Ich komme Ende März, genau wann, weiß ich noch nicht – wenn es Schwierigkeiten gibt, melde ich mich noch mal. Das ist der letzte Brief. [Ich habe später noch einen geschrieben.]
Tschüß bis Ende März
Was ihr mit dem Schmetterling anfangt, weiß ich nicht, aber mir geht er kaputt. Er ist vom Rio Napo, einem Nebenfluß des Amazonas in Ecuador. [Offenbar hatte ich einen toten Schmetterling in den Brief gelegt. Von dem habe ich aber nie wieder etwas gehört.]
Aber die Gegend ist sehr schön oder: Von Belize nach Ecuador
Nahe der Grenze zwischen Belize und Guatemala bei Melchor de Mencos, 27.10.1979
Hier ein Brief, der einen Teil meiner erste Reise nach Lateinamerika beschreibt – zwischen Belize und Kolumbien. Die Rechtschreibung habe ich nicht verändert.
Mein Reisepass mit den Stempeln von Belize und dem Einreisestempel von Guatemala, Melchor de Mencos
Quito, den 26.11.79
Liebe Eltern,
Nun sind wir mittlerweile in Ecuador, haben soeben den Äquator überschritten und haben seit dem letzten Brief aus Belize, der hoffentlich angekommen ist, schon so viel erlebt, daß ich nur das Wichtigste schreiben kann.
Von Belize aus sind wir nach Guatemala getrampt. Das Gute an Belize ist, daß jeder Anhalter mitnimmt, weil so wenig Busse fahren und es sowieso nur 2 größere Überlandstraßen gibt, von Mexico nach Belize City und von da nach Guatemala. Zuletzt sind wir von englischen Soldaten mitgenommen worden (Belize ist zwar angeblich unabhängig, aber in Wirklichkeit immer noch eine englische Kolonie), die kurz vorher in Hamm stationiert waren – sie kannten auch Unna.
In Guatemala ging es richtig los: für die 200 km nach Tikal – d.i. eine große Ruinenstadt der Mayas – brauchten wir drei Tage. Die einzige Straße ist so schlecht, daß kein PKW fahren kann, nur 1x am Tag ein Bus. Zwischendurch haben wir noch an einem sehr romantischen See übernachtet. Tikal war das Beeindruckendste, was ich bisher gesehen habe. Hier wohnten vor 2000 Jahren mehr als 200000 Mayas! Heute ist überall tiefer Dschungel, nur ein paar kleine Dörfer, und mittendrin ein riesiges Ruinengelände mit Pyramiden, die mit der Spitze aus dem Dschungel gucken, Palastanlagen und Tempeln.
Busfahren in Guatemala geht z.B. so: Nachts um 11 soll der Bus fahren. Um 11 sagt der Busfahrer, der oben auf dem Dach liegt und schläft: Der Bus fährt um 1. Die Passagiere, darunter auch wir, sitzen auf einem schmutzigen Marktplatz, rundum voll Bretterbuden, wo man Kaffee und seltsames Gebäck verkauft, dazwischen streunende Hunde und ein paar Schweine, die im Müll wühlen. Um 1/2 2 kommt der Busfahrer vom Dach, will den „Bus“ starten, aber der springt nicht an. Alle Passagiere klemmen sich hinter den Bus und schieben ihn durch die halbe Stadt unter Höllenlärm, während ich auf dem Platz sitze und das Gepäck bewache und mich halb totlache. Der Bus springt aber nicht an und der Busfahrer legt sich wieder schlafen, Wir beide legen uns samt Rucksack auf einen der Markttische und schlafen bis um 3, bis ein anderer Bus kommt und unseren anzieht.
Dann geht es wie die wilde Jagd los, der Bus schwankt wie ein Schiff im Sturm, kracht in die Schlaglöcher, Hühner gackern, weil ihnen immer wieder auf den Schwanz getreten wird, eine dicke Indiofrau hat gleich 4 Truthähne mit. Der Bus braucht 19 (!) Std. bis Guatemala City, der Hauptstadt. Der Busfahrer fährt natürlich in einem Stück und kurzen Pausen durch und man kommt kaum zum Pinkeln.
Allgemeiner Eindruck von Guatemala: Das Land ist ein absoluter Polizeistaat, überall Militärkontrollen und man sagte uns, daß es hier wohl bald knallt wie in Nicaragua. Aber die Gegend ist sehr schön, vor allem die Indios sehr freundlich.
Wir sind 1 Woche in Antigua geblieben, einer Stadt mit viel spanischer Kolonialarchitektur, die aber durch verschiedenen Erdbeben sehr zerstört worden ist. Rundherum gibt es viele Indiodörfer, sehr arm, aber die Leute sind sehr nett. Die Frauen haben alle unwahrscheinlich bunte Gewänder an. Sie kennen noch kaum Touristen. Ihr müßt euch das so vorstellen, daß in den meisten Staaten Mittel- und Südamerikas die Indios den Hauptanteil der Bevölkerung stellen einschließĺich der Mischlinge, aber kaum in größeren Städten leben, sondern in Dörfern. In den Städten lebt die weiße Oberschicht, d.h. die Nachkommen der Spanier. Die Indios sehen sehr asiatisch aus und manche erinnern sehr an die Steinfiguren der Azteken und Maya, die die Spanier unterworfen haben.
Der Vulkan Agua (3760 m) in der Nähe von Antigua, Guatemala (01.11.1979).
In Antigua haben wir einen Vulkan bestiegen, der über 4000m hoch ist. Aber das ist hier alles anders als in den Alpen, weil alles relativ höher liegt. Z.B. hier in Ecuador liegen die meisten Städte über 2000m hoch, Quito 2800! Dementsprechend hoch sind die Berge, aber in Quito gibt es sogar Palmen! Das liegt daran, daß es tagsüber – wegen der Äquatornähe – meist warm ist, 20° Grad vielleicht und teilweise mehr, aber nachts ist es knapp über 0 Grad!
Das Hochland von Nicaragua, Flug von Guatemala nach Tegucigalpa, Honduras, 04.11.1979
Von Guatemala sind wir geflogen mit einer klapprigen Propellermaschine nach Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras. Dort ging die Maschine kaputt und wir mussten umsteigen. Aber die Fluglinie kann man nur weiterempfehlen: Es gibt gutes Essen an Bord und Alkohol ist frei, dabei gute Aussicht über das Hochland von Nicaragua.
So kamen wir in San Andrés an, einer Karibik-Insel zwischen Nicaragua + Kolumbien, die aber zu Kolumbien gehört. Dort sah es auch wie in Belize (s. Karte): Sandstrand, Palmen, das Meer blau und kristallklar und nie weniger als 30 Grad. An dem Küsten Südamerikas und in der Karibik leben fast nur Schwarze, die Nachkommen der afrikanischen Sklaven.
Medellín, Kolumbien, Flug von Tegucigalpa, Honduras, nach Bogotá, 04.11.1979
Nach einer knappen Woche inklusive Sonnenbrand flogen wir über Barranquilla und Medellin nach Bogota, wo wir spät abends mit gemischten Gefühlen ankamen, denn man hatte uns erzählt, daß Bogota eine der gefährlichsten Städte Südamerikas wäre. Wir mußten erst eine Stunde nach dem Gepäck suchen und waren etwas gestresst.
Ankunft in Bogotá, Kolumbien, 08.11.1979
In Bogota (5 Millionen Einwohner) ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch und die Leute sehr arm, dementsprechend hoch ist auch die Kriminalität. In bestimmten Stadtvierteln kann man nachts nicht mehr auf die Straße gehen, weil man sonst ausgeraubt wird. Und die Pauschaltouristen, die meistens reich aussehen, sind das selbst schuld. Die Stadt ist häßlich, die Häuser phantasielos, überall liegt Müll herum und ein unwahrscheinlicher Krach und Gestank. Die südamerikanische Autofahrer-Mentalität kann man sich kaum vorstellen: Verkehrszeichen geben nur grobe Anhaltspunkte, rote Ampeln sind uninteressant und jeder hupt, so laut er kann. Dabei sehen die Autos aus, als wenn sie gerade vom Schrottplatz kämen. Wir haben um 4 Uhr nachmittags einen uralten Bus mitten auf einer Kreuzung zur Hauptverkehrszeit gesehen, die Busfahrer lagen darunter und reparierten etwas, die Passagiere schauten interessiert zu, hinter dem Bus lag ein R4 auf der Straße, der gerade ein Rad verloren hatte, alle Autos fuhren kreuz und quer herum und mittendrin stand ein Polizist, der aus Leibeskräften auf einer Trillerpfeife flötete, den aber keiner irgendwie beachtete.
Wir haben in 3 Tagen keinen einzigen Europäer gesehen außer einer deutschen Reisegruppe im Goldmuseum, die aber in einem teuren Hotel wohnten und ziemlich verängstigt waren. Auf der Straße laufen Bettler herum, einer hatte sich einen Tropf organisiert, lag auf der Straße und hielt ihn hoch, bettelte gleichzeitig um Geld.
Es gibt eine ganze Menge interessanter Dinge, aber der Brief wird zu lang.
San Agustín, Kolumbien, 12.11.1979
Von Bogota aus sind wir ins Gebirge, d.h. die Anden, in ein kleines Indiodorf. Die Entfernungen sind hier etwas anders. Kolumbien ist 4 1/2 mal so groß die die BRD [sic], hat aber nur 30 Mio. Einwohner und der Bus braucht durchschnittlich 8-10 Stunden für eine normale Strecke. Eisenbahnen gibt es kaum, weil im Süden fast alles wildes Gebirge ist. Aber die Landschaft ist einfach großartig!
In San Augustin [es heisst San Agustín] sind wir 1 Woche geblieben. Es gibt nur eine Straße und das nächste Dorf ist 1 1/2 Stunden mit dem Bus entfernt. Elektrisches Licht gibt es nur ein paar Stunden am Tag. Wir haben uns Pferde organisiert und sind in der Gegend herumgeritten. Hier stehen überall auf den Bergen und im Dschungel 2000 Jahre alte Steinfiguren herum, die von einem Volk stammen, das sich damals, als die Spanier kamen, in die Berge zurückgezogen hat. Hier gibt es richtige Hünengräber wie in Norddeutschland.
San Augustin [San Agustín] ist relativ sicher, weil die Indios nicht klauen, aber fast alle Touristen, die hier ankamen (es gibt nur 3 oder 4 Übernachtungsmöglichkeiten, sodaß man sich trifft) waren beklaut worden, in einem Bus, der ankam, gleich 7 auf einmal.
Von San Augustin [San Agustín] sind wir nach Popayan, Pasto (das liegt auf der Panamericana in Richtung Ecuador), dann mit einem Nachtbus 10 Std. an die pazifische Küste von Kolumbien nach Tumaco. Hier sieht es wieder ganz anders aus: Ein Fischerdorf, nur Holzhütten, nur Schwarze, sehr dreckig und staubig, viele Häuser auf Pfählen und ringsherum nur Mangrovensümpfe. Mangroven sind Bäume, deren Wurzeln alle oberhalb des Wasserspiegels liegen, sodaß man von nirgendwo durchkommt.
Wir haben einen Einheimischen aufgegabelt, der uns für 20 DM nach Ecuador fahren wollte – mit einem hölzernen Einbaum mit Außenborder. So zogen wir, inklusive 6 leeren Ölfässern, Rucksäcken und 2 Mann Besatzung los. Das „Schiff“ blieb im „Hafen“ ein paar Mal stecken, wir mußten ins Wasser und anschieben. Die Fahrt kann ich kaum beschreiben, das war das Abenteuerlichste, was ich je erlebt habe. Wir sind 9 (!) Stunden durch kleine Flußarme, durch Sümpfe, teilweise auf größeren Flüssen gefahren. Die Gegend ist fast menschenleer, nur alle halbe Stunde ein winziges Dorf aus Schilfhütten, in denen ein paar Schwarze wohnen, die fast alle nackt herumlaufen und entweder mit Einbäumen fahren, weil es absolut keine Wege und Straßen gibt, oder auf Flößen mit langen Stangen herumschwimmen und Kokosnüsse und Bananenstauden transportieren. Anders kann es in Afrika nicht aussehen. Dabei ringsherum riesige Urwaldbäume und undurchdringliches Dickicht, aus dem man jeden Augenblick Tarzan erwartet.
Rio Mira, Pazifikküste Kolumbiens, 21.11.1979
Nach 8 Stunden hatten wir wieder den Pazifik erreicht. Plötzlich knallten ein paar Schüsse, ein anderer Einbaum kam herangeflitzt, in dem ein paar Soldaten aus Ecuador saßen, die unser „Schiff“ enterten, den „Kapitän“ festnahmen und wieder zurücktransportierten und uns im „Polizeieinbaum“ nach San Lorenzo in Ecuador brachten. Unser „Kapitän“ war nämlich ein Schmuggler, der billiges Benzin von Ecuador nach Kolumbien schmuggeln wollte. Aber wir hatten ja damit nichts zu tun und nach kurzer Kontrolle der Rucksäcke ließ man uns laufen.
San Lorenzo, Ecuador, 22.11.1979
San Lorenzo ist genauso wie Tumaco, nur ein bißchen sauberer und die Leute sind freundlicher. Hier sind wir einem deutschen Juden aus Berlin (!) begegnet, der 1936 aus Deutschland ausgewandert ist und den es nach hier verschlagen hat. Er kannte sogar noch die Knesebeckstraße [da wohnte ich damals]. Doch darüber auch mündlich!
Kapitel: Eisenbahnfahren in Ecuador! Der Schienenbus (es gibt keine Straße) sollte um 6 Uhr morgens fahren. Wir hatten am Vortag ein Gefährt gesehen, was aus einem Lastwagen bestand, dem man die Räder abmontiert hatte und stattdessen Eisenbahnräder anmontiert hatten und waren recht gespannt. Der Zug kam nicht, obwohl bestimmt 50 Leute herumstanden. Ich weiß nicht, wer mehr gestaunt hat: Wir über die oder sie über uns. Um 1 (!) Uhr kam ein Güterzug mit drei Waggons, alle Leute kletterten auf das Waggondach, auch ein Schwarzer, der Kokospalmenschößlinge von ca. 4m Länge dabei hatte, und wir auch.
Eisenbahnfahrt von San Lorenzo nach Ibarra, 23.11.1979
Dann ging es los, der „Schaffner“ sprang während der Fahrt von Waggondach zu Waggondach und kontrollierte die Tickets. Nach eineinhalb Stunden Fahrt durch tropischen Regenwald kam plötzlich ein uraltes Ding von Schienenbus hinterhergerattert, Plätze für 30, aber wie hier so üblich, mit ca. 50 Leuten besetzt. Bei einer Ausweichstelle, wo der Bus den Güterzug überholen konnte, haben wir uns auch noch reingequetscht. Der „Lokführer“ hatte eine Gangschaltung wie im Auto und sogar ein Lenkrad, an dem er wie wild dreht. Ich weiß aber nicht warum, denn auf Schienen braucht man normalerweise nicht zu lenken. Jedenfalls sind wir einmal entgleist, weil die Schienen fast lose auf den vermoderten Holzbalken liegen. Sie waren wohl für ein kurzes Stück zu weit auseinander, aber irgendwie kam alles wieder ins Lot. Die Bahn schlängelt sich in endlosen Serpentinen an Abgründen vorbei auf 300km von 0 auf 2200m Höhe nach Ibarra und baucht dafür ca. 7. Stunden.
Tulcán, Ecuador, an der Grenze zu Kolumbien, 24.11.1979
Wir haben in Ecuador noch ziemlichen Ärger mit der Polizei gehabt und mußten eine Strafe zahlen, weil seit neuestem die Einreise nur an bestimmten Stellen gestattet ist, nicht aber in San Lorenzo. Die Polizei dort wußte das aber nicht, nur die Polizei in Tulcan. Das ist der Grenzort zu Kolumbien, wo wir wieder hinaufgefahren sind, weil alle Einreisebüros geschlossen hatten und man ohne [Einreise]Stempel nicht nach Quito kann. Dort saßen wir drei Tage fest, weil Wochenende war, und heute morgen nach 3-stündigem Verhandeln und 80 DM Strafe konnten wir endlich nach Quito. Wir werden aber noch den Botschafter einschalten, weil das Ganze nicht unsere Schuld war, denn die Polizei hatte uns ja die Éinreise erlaubt. [Haben wir natürlich nicht gemacht.]
Quito, die schönste Stadt, die ich bisher und überhaupt gesehen habe! Doch davon später und in Fotos, da wir erst gerade angekommen sind. Wir bleiben ca. eine Woche, fahren 1 Woche in den Urwald östlich den Anden zum Rio Napo. brauchen ca. eine Woche über Riobamba u. Guayaquil zur Grenze nach Peru, sind kurz vor Weihnachten in Lima, Peru, und zu Silvester auf eine indianischen Landkooperative, von der wir Adresse und ein Empfehlungsschreiben von einem deutschen Entwicklungshelfer haben. Wir wollen nach ca. 4 Wochen Peru weiter nach La Paz, Bolivien, wissen aber noch nicht, ob das möglich ist, weil die mal gerade wieder einen Putsch hatten. (…)
In einer Vorstadt von Quito, Ecuador, mit Blick auf die Altstadt (November 1979)
Preise hier: Hotel ca 3 DM, Mittagessen 2 DM, 1 Banane 20 Pfg, Schachtel Zigaretten 30 Pfg, 400 km Busfahrt 5 DM! Wir geben ohne Andenken und Sonderausgaben ca. 10-13 DM pro Tag und Person aus. Vorher war es etwas teurer, aber Peru ist noch billiger.
Bis bald und viele Grüße an alle! Ich hoffe, daß ein paar von den vielen Ansichtskarten angekommen sind! (…) Und außerdem herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, aber ich habe keine Ahnung, wann der Brief ankommen könnte.
Quito, revisitado
Postkarte vom 27.11.1979 aus Quito, Ecuador, an Verwandte in Deutschland.
„Jetzt sind wir schon über 2 Monate unterwegs und haben die USA, Mexiko, Belize, Guatemala, Kolumbien und jetzt Ecuador gesehen. (…) Karibische Inseln: 30 Grad, palmen, Sandstrand, Korallentauchen, nut Schwarze, Urwaldfahrt mit einem Einbaum an der kolumbianischen Küste, verrückte Eisenbahnfahrten auf dem Waggondach eines Güterzugs in Ecuador, Indiodörfer in Guatemala, riesige Mayapyramiden im Dschungel von Guatemala, gefährliche Städte in Kolumbien (wir sind fast die einzigen, die nicht beklaut worden sind), Entdeckungsreisen zu Pferde im Andengebiet von Kolumbien u.v.m. (…)“
Auf der Vorderseite:
– La Alameda y el Panecilla
– Observatorio Astronómico
– Contraloria general de la nación
– El Santuaria de Guápulo.
Der Verlag ist Graficas Feraud aus Guayaquil. Den scheint es nicht mehr zu geben.
Ferrocarriles Ecuatorianos, finalmente
Das Foto habe ich 1979 an der Bahnstrecke zwischen Guayaquil (eigentlich Durán) und Quito gemacht.
Mein damaliger Reisebegleiter (der schon gestorben ist) sieht ein bisschen zerknittert aus. Nein, er hat nicht die Lok kaputtgemacht, ihm ist nur Rauch in die Augen gekommen.
Vgl. „Ferrocarriles Ecuatorianos, primera clase“ (15.05.2023), „Ambulantes“ (08.11.2011, „Ferrocarriles del Ecuador“ (14.05.2012, „Ferrocarriles del Ecuador, revisited“ (04.05.2014, „Ferrocarriles Ecuatorianos, revisited“ (04.12.2017. „Ferrocarriles Ecuatorianos, revisited“ (30.01.2021), „Viajeros (21.02.2021, „Teufelsnase oder: Auf und ab im Zick Zack [Update]“ (25.02.2021).
Das war das letzte Foto aus Ecuador, falls ich nicht noch in irgendwelchen Backups eines finde, das ich vergessen habe.
Outdoor Palmen
Plaza Grande, Quito, Ecuador, fotografiert im November 1979. Ich habe gerade die Blumen auf meinem Balkon gegossen. So schön wie in Ecuador kriege ich sie nicht hin, aber zum Glück haben wir ja die Klimaerwärmung. Bald kann ich auch Palmen draußen pflanzen.
Tungurahua, finally
Die letzten Fotos vom Aufstieg zum Vulkan Tungurahua ( 5,023 m) in Ecuador) in Ecuador. Startpunkt war Baños. Auf halber Höhe stand damals eine kleine Berghütte, in der wir übernachteten. Aus meinem Reisetagebuch, 12.12.1979ff.:
…um 8.15 Uhr Abmarsch. Nach 1/2 Stunde macht Paul (ein Belgier (ganz links), der eine Zeit lang mit uns reiste) schlapp und wir rödeln um [die Ausrüstung]. Nach 1/2 Stunde kommt ein kleiner Store, bei dem man sich Gebirgsausrüstung leihen kann (auch Esel).
Man erzählt uns, dass im November ein Kanadier im Krater verschwunden sei. Zur Hütte seien es 2 1/2 Stunden. Wir brauchen 7 1/2.
Die Flora ist unterhalb [der Baumgrenze] sehr schön: Grundbewuchs wie in der Heide, Krüppelkiefern mit Moosen und Flechten bewachsen, auf halbem Weg Bambuswäldchen.
Nach ein paar Stunden wollen die anderen nicht mehr, Gabi fängt an zu heulen. Den ganzen Weg [über] wird die Aussicht immer besser. Oben [auf der Schutzhütte] ist es fürchterlich kalt, die Hütte liegt auf 3.600 m. Zwei Deutsche und ein Frazose sind schon oben und bieten uns Schokolade an. Die Hütte ist recht klein, mit Kochgelegenheit aus Gasflaschen, unter dem Dach Schlafgelegenheit auf dem Fußboden. Der Kamin ist nicht anzukriegen. Wir sitzen eingemummt in Pullover und Schlafsäcke und erzählen. Nachts ist es kalt, weil im Dach ein Loch ist.
13.12. Morgens werden wir geweckt, weil kurz nach Sonnenaufgang Fernsicht auf alle Berge ist: Chimborazo (6.310 m), Altai (5.319 m) und noch einer, der nicht auf der Karte ist. Beide sind voller Schnee, davor 3-4.000 „Mittelgebirge“, das Tal liegt in den Wolken, die aber schnell heraufkommen. Sicht ca. 100-150 Kilometer bis zum Oriente [dem Dschungel Ecuadors].
Die anderen beginnen den Abstieg, W., Gabi und ich um 10 den Aufstieg zum Vulkan. Die Hütte liegt ziemlich dicht an der Baumgrenze, danach nur noch Geröll und Felsen, die wie eine Mondlandschaft wirken (schwarze und rote Gesteine). W. und Gabi beginnen sich zu streiten und zu prügeln, ich gehe allein weiter vor.
Bis zum Krater sind es genau fünf Stunden, aber teuflisch, weil man auf dem Geröll immer wieder abrutscht. Der Weg ist aber durch Fähnchen markiert, die teilweise abgeknickt sind. Sicht durch Wolkenschneise in Richtung Ambato, von rechts schieben sich Wolkenberge heran. Wind von beiden Seiten, eisig kalt und steil abfallende Hänge. [Wenn ich daran denke, dass ich Halbschuhe anhatte, wird mir heute noch schummrig.]
An der Schneegrenze steht ein Kreuz, an dem 1951 zwei Leute umgekommen sind. Die Wolken reißen zimelich weit oben plötzlich auf, und die Gipfelregion ist zu sehen, überhängende Gletscher – Wahnsinn! Kurz vor dem Krater muss ich Schneefelder überwinden. Ich rutsche auf dem Hosenboden zehn Meter den Hang runter und reiße mir die Hand auf.
Der Krater ist ca. 200 Meter breit/lang, ein Drittel ist nur begehbar, der Rest das zugeschneite Kraterloch. Am Rand steigen heiße Dämpfe aus dem Boden, überhaupt ist es oben [im Krater] windgeschützt und wärmer. Ein Zelt und ein Wasserkanister von einer Suchmannschaft liegen noch da. Der Krater liegt auf rund 5.000 m, und die Sicht ist ausgezeichnet. Außerdem gibt es ein fast unheimliches Echo. Nach einer halben Stunde erreichen die anderen beiden auch den Krater. Ich bleibe eine kurze Zeit oben und wir beginnen dann mit dem Abstieg.
Ich habe ziemliche Angst bei der Schneepartie, weil die Sache recht steil abfällt, alles voller Wolken bzw. Nebel ist und der Wind einen fast umwirft. Nach einer halben Stunde nur noch Geröll, und man rutscht wie auf Skiern hinunter, muss aber 20 Mal die Schuhe ausschütteln. Kommen völlig erschöpft kurz vor Sonnenuntergang an und verschütten wegen der zitternden Finger H.s [der in der Hütte geblieben war] heiße Brühe. Wir schlagen uns alles in den Bauch, was da ist [was wir mitgenommen hatten], und fallen ins „Bett“.
14.12. Die Nacht ist eisig kalt, selbst bei oben zugeschnürtem Rucksack. Bei Sonnenaufgang wieder schöne Sicht, aber die Täler sind voller Wolken. Ca. 200 Meter von der Hütte entfernt ist eine Quelle zum Waschen und zum Wasserschöpfen, aber so kalt, dass einem die Finger abfallen. Ebenso kalt ist das „Klo“, aber man gewöhnt sich an alles. Nach dem Fotografieren (leider vom Aufstieg zum Krater nur ein Foto, weil der [Dia]Film bei 38 [Fotos] schon alle ist) und Aufräumen Abstieg um 9.
Mein Kniegelenk streikt, und ich muss mit halb steifem Bein die ganze Strecke humpeln. Unterwegs treffen wir 1 Dänen und 1 Deutschen in Sandalen! Nach knapp vier Stunden total kaputt in Baños…
Vgl. „Ein Stock auf dem Tungurahua, Patella partita und drei Prozent“ (07.11.2022), „Verdammt lang her“ (08.11.2022), „Nicht vergnatzt, nur kalt“ (01.03.2012), „Tal vez el cóndor volará“ (13.10.2019), „Vulkanismus“ (17.08.2015), „Tungurahua, revisited“ (05.04.2014, „Aufstieg zum Tungurahua“- der Hauptartikel, (08.05.2011).
Cheerleader ohne Asche
Baños aka Baños de Agua Santa, Ecuador, fotografiert am 16.12.1979.
Ich wohne damals laut meinem Reisetagebuch direkt am Hauptplatz in einer preiswerten Pension, die aber nicht mehr existiert. Heute sind dort überall Hotels und hospedajes. Anhand eines anderen Fotos nehme ich an, dass es im heutigen Neubau des Hotel eruptión war (Ambato Ecke Thomas Halflants).
Welches Fest gefeiert wurde, weiß ich nicht mehr. Die Tage zuvor hatten wir den Tungurahua bestiegen und mussten uns von der dreitägigen Strapaze erholen.
Ende 1999 wurde die Stadt aufgrund dringender Empfehlungen vor allem ausländischer Vulkanexperten komplett evakuiert und geschlossen. Nachdem der Ausbruch den Ort wie all die Jahrhunderte zuvor verschont und nur eine dicke Ascheschicht hinterlassen hatte, erzwangen die Einwohner nach einigen Monaten gegen den Widerstand der Behörden und des Militärs ihre Rückkehr in ihren Ort. Bei den damit verbundenen Unruhen gab es einen Toten.
Antisana oder: Einer der 73 [Update]
Ich brauche die Hilfe der hier mitlesenden ecuadorianischen Vulkanologen: Das Foto habe ich 1984 gemacht, als ich von Lima in Peru nach Havanna flog (oder umgekehrt). Der Berg ist ein Vulkan in Ecuador – aber welcher? Es könnten der hier schon oft lobend erwähnte Tungurahua (5,023 m) sein, den ich 1982 bestiegen habe, oder der Chimborazo (6263 m) oder der Cotopaxi (5897 m) oder einer der zahlreichen anderen.
Die Spitze des Chimborazo ist zu gleichmäßig geformt, das ist eher unwahrscheinlich. Der Tungurahua ist mehrfach ausgebrochen – das Aussehen des Kegels könnte sich also seit 1984 geändert haben. Auf dem Foto, was ich vom Tugurahua aus gemacht habe, ist – wenn ich nicht irre – der El Altar (5,319 m) zu sehen. Der Gipfel könnte passen.
Der Tungurahua gehört übrigens nicht zu Allee der Vulkane: „Ihr Name geht auf Alexander von Humboldt zurück. Auf der „Allee“ befinden sich auf einer Strecke von ungefähr 300 km zwischen Tulcán und Riobamba 22 der insgesamt 73 Vulkane von Ecuador.
[Update] Nach einem Hinweis des vulkanaffinen Publikums: Es ist vermutlich der Antisana (5.704 m).
Ferrocarriles Ecuatorianos, primera clase
Das Foto habe ich 1979 an der Bahnstrecke zwischen Guayaquil (eigentlich Durán) und Quito gemacht.
Mein damaliger Reisebegleiter ist zu sehen (der schon gestorben ist), und eine hier schon lobend erwähnte junge Frau, die ich Jahre später in Berlin unter sehr angenehmen Umständen noch einmal wiedergetroffen habe.
Vgl. „Ambulantes“ (08.11.2011, „Ferrocarriles del Ecuador“ (14.05.2012, „Ferrocarriles del Ecuador, revisited“ (04.05.2014, „Ferrocarriles Ecuatorianos, revisited“ (04.12.2017. „Ferrocarriles Ecuatorianos, revisited“ (30.01.2021), „Viajeros (21.02.2021, „Teufelsnase oder: Auf und ab im Zick Zack [Update]“ (25.02.2021).
San Lorenzo, revisited again
2020 hatte ich über San Lorenzo an der Pazifikküste Ecuadors geschrieben – dort hatten wir einen alten Berliner Juden getroffen, dem das Sägewerk dort gehörte. Ich habe noch zwei andere Fotos gefunden: Das obere ist ein Scan eines Fotos, das Original-Dia ist verloren gegangen.
2016 notierte ich: Wir waren mit Schmugglern vom kolumbianischen Tumaco nach San Lorenzo (San Lorenzo (Youtube) in Ecuador gereist. (Vgl. Am Rio Mira, Januar 2015). Damals war San Lorenzo ein verschlafenes und schwülwarmes Tropennest. Unfassbar, dass es dort Google Street View gibt!
Gardez! [Update]
Das Foto habe ich im November 1979 in Quito, Ecuador, gemacht – ich kann mich leider nicht mehr erinnern, wovor die Wache hielten. Ich weiß nur noch, dass die beiden da herumlungerten und rauchten. Als ich fragte, ob ich ein Foto machen könne, nahmen sie Haltung an.
Update: Die stehen vor dem Palacio de Carondelet.
Aeropuerto Internacional Mariscal Sucre
Der Flughafen von Quito, Ecuador, fotografiert am 29.11.1979. Das ist der alte Aeropuerto Internacional Mariscal Sucre, der neue wurde 2013 eröffnet. Vom alten Flughafen steht heute nur noch der Kontrollturm, der auch auf meinem Foto zu sehen ist. „Wegen seiner Lage und weiterer Bedingungen wie seiner abschüssigen Landebahn galt er als einer der am schwierigsten anzufliegenden Flughäfen weltweit.“
Ich bin von Quito aus nicht geflogen. Ich war damals nur dort, um ein Luftfracht-Paket nach Deutschland zu schicken. Aus meinem Reisetagebuch:
Flughafen recht klein. Es ist mittlerweile schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass es in Quito Bushaltestellen gibt. Wir brausen erst einmal am Flughafen vorbei. Die Maschinen der Ecuadoriana sind wirklich schreiend bunt und sehr fröhlich.
Die Ecuadoriana gibt es auch nicht mehr: Nachdem sie privatisiert wurde, ging sie prompt bankrott.
Jungfrau, nach Osten
Panorama der Vorstädte von Quito, fotografiert im November 1979. Ich hatte mir notiert, dass es vermutlich der Blick von der Virgen del Panecillo nach Osten sei. Ich finde aber die genau Perspektive nicht wieder, zumal Google schlechtes Wetter hatte.
Walk through the jungle
Dschungel bei Misuahalli, Ecuador, fotografiert im Dezember 1979. Damals gab es nördlich der Ortes nichts, keine Häuser, keine Straßen, nur Trampelpfade wie der oben. Offenbar haben die seitdem mächtig in Tourismus investiert. Vermutlich wäre das für mich alles unbezahlbar: 50 Dollar pro Nacht in einer Lodge? Wir haben damals für unsere Pension weniger als fünf Dollar pro Nacht bezahlt.
Die beiden Männer oben waren meine Reisebegleiter: Mit beiden habe ich mich nicht gut verstanden – es war eher eine Zweckgemeinschaft. Der mit der Kamera war Belgier, sprach kein Wort Spanisch und hing an uns wie eine Klette. Ich konnte mit ihm nichts anfangen. Ich hätte auch nie eine Kamera vor dem Bauch baumeln lassen.
Aus meinem Reisetagebuch, 10.12.1979 (geschrieben nach der Rückkehr aus dem Dschungel in Quito):
In [Puerto] Misuahalli ist es warm. Der Ort liegt direkt am Rio Napo und einem anderen Fluss [Rio Misuahalli] und besteht aus circa. 20 Häusern. [Schon fünf Jahre, nachdem ich da war, war der Platz, auf dem damals Volleyball gespielt wurde, nicht mehr da.]
Residencial „Balcon del Napo“ kostet 40 und ist sauber, nur ab und zu aqua no hay [Wasser gibt es nicht]. Als Haustier halten sie sich eine zweieinhalb Meter lange Anaconda, die in einer Kiste mit einem Stein drauf steckt und für ein paar Stunden am Tag Auslauf hat, damit sich die Gringos mit ihr fotografieren lassen können.
Der Strand [gemeint ist das Flussufer] ist voll Sand, und man kann baden, obwohl der Fluss schmutzig und teilweise recht reißend ist. Treffen ein paar nette Leute, unter anderem einen Typen aus Stuttgart, der schon zwei Jahre unterwegs ist (über Asien, Australien, Tahiti, USA). Er hat unterwegs ein billiges „Roundticket“ gekauft (für 400 $ von Singapur nach Australien usw.). Ein US-Amerikaner, der sich wohl für einen professionellen Globetrotter hält, überlegt sich, ob er Bauer werden soll oder weiterfährt, entscheidet sich für das Letztere. Das Gespräch endet nicht mit einem Einverständnis über den Sinn und Zweck einer Reise, weil für ihn nur die Alternative „to live day by day“ oder „freedom“ besteht. Es ist sehr schwierig, meine Position darzulegen. P. [der Belgier] hat auch eine etwas andere Vorstellung; flüchtet wohl vor seinen persönlichen Problemen.
Am 2. Tag marschieren wir morgens los, am Nebenfluss entlang, dann über einen Trampelpfad zu einem kleinen Dorf. Eine schmale Straße führt von da wieder auf die Straße nach Misuahalli. Über eine Hängebrücke geht es ungefähr eine Stunde weiter, bis H. und P. wegen der zunehmenden Matsche schlappmachen und umkehren. Ich gehe allein weiter, bis zu den Knöcheln im Schlamm.
Plötzlich höre ich Flötenmusik, der ich nachgehe. Vor einem einzelnen Haus (vielleicht bei dem heutigen Cabañas Pinsha Huasi) sitzt ein Bolivianer, der Blockflöte spielt. Er ist aber an einem Gespräch weniger interessiert. So marschiere ich wieder zurück und komme gerade rechtzeitig vor einem fürchterlichen Regenguss im Dorf an. Abends beobachten wir interessiert die Spinnen bei der Arbeit, die fast das ganze Hotel einspinnen. Die Dorfbevölkerung spielt Volleyball und Billard mit vier Kugeln weniger.
Zu den Auca [Waorani] bekommen wir Informationen von dem Ami und von einem Leiter des DED, der die Tour [zu ihnen] gemacht hat. Vor einem Jahrzehnt haben sie gegen das Eindringen der Texaco Widerstand geleistet. Sie sollen ein sehr kriegerischer Stamm gewesen sein. Das ecuadorianische Militär ging gegen sie vor und hat sie [die Zahl 700 – ca. 3000 aus meinem Tagebuch kann nicht stimmen] dezimiert. Heute haben sie sich mit Transistorradios in den Dschungel zurückgezogen, die sie – statt ihren alten Gesängen – gegen die Geister der Gewitter einsetzen. Interessanter soll ein anderes Volk sein, dass im Dschungel an der Küste lebt. Sie zogen sich, nachdem die Inka Ecuador erobert hatte, aus den Bergen in den Urwald zurück und „degenerierten“ im Laufe der Jahrhunderte von Berg- zu Waldindianern. [Ende Tagebucheintrag]
Wenn ich das damals alles gewusst hätte! Einen der Waorani habe ich in Puerto Misahualli später noch gesehen, mit ultralangen Ohrlöchern und halb nackt, habe ihn aber nicht fotografiert.
Basilika San Francisco
Basilika San Francisco in Quito, Ecuador am Plaza San Francisco, fotografiert im November 1979. Ein Detail hatten wir hier schon sowie ein Foto des Platzes ohne Kinderchöre. Der Platz mit der Kolonialarchitektur ist einfach großartig und schön.
Verdammt lang her
Hier noch ein Bick vom ecuadorianischen Vulkan Tungurahua (5,023 m), den ich zwischen dem 12.und 14.12.1979 bestiegen habe. Es muss ganz am Anfang des Aufstiegs sein, wenn man das Panorama mit den anderen Fotos vergleicht.
Ich muss mal zu Potte kommen mit den alten Dias Fotos von meinen Reisen 1979/80, 1981/82, 1984 und 1998: Es ist immer noch eine dreistellige Zahl, die ich noch nie veröffentlicht habe.
Und was mache ich, wenn ich alle online habe? Die Nachgeborenen auf Instagram darauf hinweisen? Books on demand mit 2500 Fotos? Wer soll das bezahlen? Wie sehen denn Fotos in E-Books aus? Und wie groß wird das, unter einem Terabyte?
Dieses Jahr steht unter dem Motto „Verdammt lang her“. Inspiriert durch die Fotos nahm ich bekanntlich Kontakt zu einer meiner Exxen auf, die ich seit 34 Jahren nicht mehr gesehen hatte und fütterte sie mit Kuchen und mit Schweinefleisch süß-sauer ab. Dann wird mich in Kürze eine andere Ex für ein paar Tage besuchen, und wir werden etwas Schönes und/oder Kultiviertes zusammen machen.
Apropos verdammt lang her und „etwas Schönes“: Auf einem anderen Foto erkannte ich ein Mädel eine Frau (ganz links), die wir damals mehrfach in Südamerika wieder getroffen haben, in Kolumbien, Ecuador und Peru oder Bolivien (oder war es sogar Barbados?). Ich fand sie recht schnuckelig, aber sie war mit einem nervtötenden Macker zusammen, sie prügelten sich und brüllten sich an, dass man es überall hörte. Es war unmöglich, mit ihnen zusammen zu reisen.
Jahre später bekam ich einen Anruf von ihr in Berlin. Sie hatte sich von ihrem Kerl getrennt und war unterwegs nach Brasilien als Entwicklungshelferin. Sie hätte noch eine Nacht in Deutschland, ob ich sie nicht besuchen kommen wolle in Gatow in der DED-Zentrale? Das tat ich. Mir wird immer noch warm ums Herz, wenn ich daran denke. Was wohl aus ihr geworden ist? G., wenn du das hier liest, in Brasilien oder wo auch immer auf der Welt: melde dich mal! Mir ist gerade danach (nein, nicht noch mal zusammen auf den Tungurahua).
Ein Stock auf dem Tungurahua, Patella partita und drei Prozent
Während die Weltläufte wie gewohnt vor sich hinblubbern, Kriege kriegen, Intrigen gesponnen werden, heiße Luft aus den Mäulern der Politiker entweicht, propere Mädels busenschüttelnd instagramen, aber eigentlich nichts passiert, muss ich noch kurz etwas zum ecuadorianischen Vulkan Tungurahua ergänzen, (5,023 m), den ich 1979 erklettert habe – und das im Gegensatz zu Alexander von Humboldt auch schaffte. Heute wird dringend davon abgeraten, da hochzusteigen, da der Tungurahua seit 1999 wieder aktiv und äußerst gefährlich ist.
Mir wird heute noch schummrig, wenn ich eines der Videos der diversen Eruptionen ansehe. Uns hatte niemand erzählt, dass es durchaus ein gewissen Risiko eines Ausbruchs gab. Wir haben auch niemanden gefragt. Aber Warnungen hätten mich, jung und naiv wie ich war, vermutlich nicht abgehalten.
Wir brauchten drei Tage: einen für den Aufstieg zur Hütte, die auf knapp 4000 Höhenmetern lag (natürlich ist sie weg). Am nächsten Tag bin ich allein zum Gipfel, weil die anderen drei zu erschöpft waren und lieber an der Hütte blieben. Aus mir heute unverständlichen Gründen hatte ich auch meine Kamera in der Hütte gelassen.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es sich anfühlt, mit Halbschuhen (!) Lavafelder hinaufzusteigen, immer zwei Schritte vor zu klettern und mindestens einen wieder zurückzurutschen. Als der Boden wieder fester wurde, kamen dann der Gletscher und Schneefelder, was das Klettern auch nicht bequemer machte. Zwischendurch wurde es auch richtig steil und mir mulmig. Ich hatte weder Kletterausrüstung noch passende Kleidung dabei – aber der Himmel blieb strahlend blau. Gegen Mittag kam ich im Krater an, genoss die großartige Aussicht auf die anderen Vulkane, rastete ein wenig, nahm Gestein als Andenken mit und kletterte dann wieder die rund rund 1000 Höhenmeter hinunter. Das haut dann richtig in die Knie.
Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich gebraucht habe – ich bin am frühen Morgen los und kam am späten Nachmittag wieder an der Hütte an, wo die anderen schon sorgenvoll warteten. Da ist auch das Foto entstanden. Ich war fix und fertig. Ich habe da einen Stock in der Hand, den ich mir bei Erreichen der Baumgrenze zurechtgeschnitzt hatte. Mein rechtes Knie tat höllisch weh, und ich konnte kaum auftreten.
Warum? Ich habe von Geburt an eine Partella partita (hallo Harald!). Das ist keine Missbildung, sondern kommt eben mal vor. Eine Teilung der Kniescheibe (Patella) in mehrere Knochenelemente ist eine angeborene Fehlbildung der Kniescheibe, die bei einem bis drei Prozent aller Menschen vorkommt. Von einer geteilten Kniescheibe sind neunmal mehr Männer als Frauen betroffen. Ich bin also eine winzige Minderheit.
Es macht auch keinen Unterschied zu nicht gespaltenen Kniescheiben, aber bei langen und extremen Belastungen kann es in seltenen Fällen schmerzen. Ich hatte das nur auf dem Tungurahua und einmal beim Skifahren, aber nie beim Kampfsport. Man müsste dann einen Tag pausieren. Was macht man aber, wenn man auf einem Fünftausender ist und nicht einfach runterrutschen kann? Deshalb der Stock… Ich bin humpelnd hinab – Augen auf und durch.
Iglesia de San Agustín
Iglesia de San Agustín, Quito, Ecuador, erbaut ab 1573. Fotografiert am 28.11.1979 im Klostergarten. Ich habe dem Publikum die Seite meines Reisetagebuchs eingescannt…
Limpiabotas
Schuhputzer in Quito, Ecuador, fotografiert im November oder Dezember 1979. Auf dem Foto bin auch ich zu sehen sowie ein weiterer Gringo, der hier schon einmal auftauchte. Ich schrieb vor zwei Jahren: Damals gab es nur wenige Rucksacktouristen in Ecuador, und man lief sich in der Hauptstadt immer wieder über den Weg. „Der Slangbegriff Gringo (feminin Gringa) bezeichnet von Mitteleuropäern abstammende Personen, die sich in Nord- oder Mittelamerika aufhalten.“ Wisst ihr Bescheid.
Das buntscheckige Volk der Panzaleo-sprechenden Rothäute
Immer und immer wieder nehme ich mir vor, bein sonntäglichen Frühstück keine deutschen Medien zu konsumieren. Und immer, wenn ich rückfällig werden, bestätigt sich mein VorUrteil: Entweder verfassen die Praktikanten Quatsch, oder die Redakteure sind genau so blöd wie jene. Und ich muss mich dann ärgern und blogge über meinen Ärger statt über etwas Interessantes.
Wenn jemand hierzulande etwas Völkischen daherfaselt, wird es um so schlimmer. Zudem zwingt die Mischung aus political correctness, Opportunismus und Feigheit oft zu sprachlichen Volten, die nicht nur im wörtlichen Sinn unaussprechlich, sondern auch unverständlich sind (wie das Wort „Volte“).
Im aktuellen „Spiegel“ (S. 80) haben wir hier eine „Quetschua-Ethnie“. Nun ist Quechua eine Sprache und sonst nichts. Ethnie heißt im Deutschen „Volk“, es sei denn, man plante eine ethnologische Diskussion vom Feinsten, die so ausufert, dass man die letzten 6000 Jahre Weltgeschichte betrachten muss. „Volk“ hat im Deutschen aus Gründen einen Beigeschmack, so dass oft lieber englische Wörter benutzt werden. Redakteure und Praktikanten erheben sich selten bei etwas, was sie nicht wirklich interessiert, über das Wikipedia-Niveau, das sie hier recht haben lässt – auch dort sind die, die Quechua sprechen, eine „Ethnie“.
Im Detail wird das natürlich extrem lustig und lächerlich, weil es mittlerweile bei den Mittelklassen der lateinamerikanischen Staaten Mode geworden ist, Quechua und auch Aymara zu sprechen (was zu einer Renaissance der eingeborenen „indigenen“ Musik geführt hat). Man kann das irgendwie vergleichen mit Kanak Attak: Wer rassistisch diskrimiert wurde, dreht den Spieß verbal um.
In Wahrheit geht es immer nur um die Klassenfrage. (Über den „Indianerismus“ in Ecuador hatte ich schon geschrieben.) Jemand wird nicht abschätzend beurteilt, weil er oder sie Quechua spricht, sondern weil das vorwiegend die Bauern und Armen tun, von denen die Mittelklassen sich abgrenzen wollen. Das ist bekanntlich auch die primäre Idee der klassistischen Gendersprache.
Das galt auch für die „Tracht“, die keine ist, sondern der Landbevölkerung von den Spaniern aufgezwungen wurde oder – wie die Cholita auf dem obigen Bild – eine buntscheckige Mischung aus allen möglichen Moden Europas und Lateinamerikas. In Bolivien ist die Chola ein Zeichen für „Tradition“, auch bei Mestizen.
Ich habe das selbst in Bolivien erlebt. Der Fahrer des LKW, mit dem wir unterwegs warn, selbst Aymara-Indio, machte sich über die Dorfbewohner lustig und nannte sie „pielroja“ („Rothäute“), wieder ein Beweis, dass „indianisch“ oder die Sprache nichts mit der Haut oder der Abstammung oder gar einem „Volk“ zu tun haebn, sondern eine Lebensweise im Verhältnis zum Mainstream meint.
Das Foto habe ich 1979 in Quito, Ecuador, gemacht. Ich kann leider die Perspektive nicht wiederfinden, aber das im Hintergrund sollte die Kathedrale sein.