In memoriam Kurt Waldemar Schröder *16.10.1927 †03.10.2020

Kurt Waldemar Schröder

Am 26.12.2003 waren mein Vater und ich shoppen.

Hugo Schröder

hugo schröder

Mein Großvater Hugo, *07.01.1902 in Mittenwalde, heute Dąbrowa Mała, †26.4.1992 in Unna, als 18-Jähriger (1919 oder 1920).

Wenn man sich überlegt, wie und in welchen lächerlichen Posen sich heute 18-Jährige auf Instagram oder oder Snapchat und sonstwo präsentieren…

Kurt Waldemar Schröder *16.10.1927 †03.10.2020

kurt schröder
Eintrag im Kirchenbuch der Evangelischen Kirche Holzwickede

Ein Nachruf auf meinen Vater

kurt schröder

Mein Vater ist gestern um ca. 19.30 Uhr friedlich eingeschlafen. Er hat einen Nachruf verdient wie jeder andere „wichtige“ Mensch auch. Man könnte einwenden, ein Nachruf sei entweder etwas sehr Privates, und die Details, womöglich negative, interessierten nur die engsten Freunde und Verwandten, oder seien zu öffentlich, als dass man Dinge erwarten könne, die wirklich etwas aussagen und nicht nur an der sichtbaren Fassade hafteten. Das Leben meines Vaters ist jedoch exemplarisch für eine Generation, deren Erfahrungen für uns – nur eine Generation später – Äonen weit weg zu sein scheinen. Können wir, kann ich das verstehen?

Mein Verhältnis zu meinem Vater war schwierig und kompliziert: Wir konnten uns nicht sehr nahekommen, weil unsere Ansichten zu weit auseinander lagen und nichts das hätte ändern können. Aber je älter ich wurde, um so mehr begriff ich, wie er seine Zuneigung ohne Worte äußerte – auf eine Art, die ich früher nicht verstand, und schon gar nicht als Jugendlicher. Ich hatte vielleicht auf Worte gehofft, aber er konnte das nicht so, wie ich es erwartete – dafür machte er es mit Gesten. Wir handeln und sprechen im Rahmen dessen, was uns möglich ist, was uns begrenzt, auch in den Gefühlen – aber dennoch haben wir alle ähnliche Emotionen, die, wenn wir sie auf unsere gelernte Art äußern, für andere vielleicht erst „übersetzt“ werden müssen.

Mein Vater hat in seinem Leben, außer in der Schulzeit und Jugendzeit, nur ein einziges Buch gelesen – die für ihn heilige Schrift – die Lutherbibel Version 1884. Er war zu jung, um Soldat im 2. Weltkrieg zu werden – das ist mein Glück, sonst hätte es mich vielleicht nicht gegeben. Er war auch nicht alt genug, um zu begreifen, was in der Zeit, die ihn prägte, politisch geschah.

Meine Versuche in den sechziger Jahren, über die Zeit des Faschismus zu reden, scheiterten allesamt. Mein Vater hätte vermutlich auch nicht viel sagen können. Für ihn galt die Devise aus Römer 13, Vers 1: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Ich fand das abscheulich. Ich wollte die Welt verändern, und lebe, vermutlich heute auch noch, nach dem Motto, dass mich jedwede Obrigkeiten kreuzweise können und dass Religionen allesamt bekämpft werden sollten. Obrigkeitshörigkeit ist für mich ein schlimmes Schimpfwort.

Für Politik interessierte er sich nicht. Ich vermutete damals, dass meine Mutter recht hatte, wenn sie behauptete, mein Vater würde auf Wahlzettel einen Satz aus der Bibel schreiben – Jesaja 41. Vers 24: Siehe, ihr seid aus nichts, und euer Tun ist auch aus nichts; und euch wählen ist ein Greuel. Heute muss ich schmunzeln, wie sich meine Meinung dem angenähert hat, aber natürlich aus anderen Gründen.

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Meine Vater mit seiner älteren Schwester, vermutlich 1929 oder 1930, Holzwickede

Mein Vater wurde evangelisch getauft, eine Tatsache, mit der ich ihn noch vor wenigen Jahren, als ich nach einiger Recherche im betreffenden Kirchenbuch fündig geworden war, aufzog: Er war neuapostolisch und alle andere Religionen waren „Feindsender“. Mein Großvater hatte gelehrt, mich auch, dass insbesondere die Katholiken die große Hure Babylons der heutigen Zeit seien. Die Protestanten waren fast genauso schlimm, vor allem weil sie seinem Glauben so ähnlich waren. Mein Vater hat nie eine „fremde“ Kirche betreten, noch nicht einmal eine leere, etwa im Urlaub, um sie zu besichtigen – alles Teufelswerk, um wahre Gläubige zu verwirren. Auch das bringt mich heute zum Lachen, weil ich das manchmal exakt so handhabe – ich würde nie eine neuapostolische Kirche mehr betreten, vielleicht nur auf die Fußmatte spucken. Da kommt wieder Lichtenberg ins Spiel: Grade das Gegenteil tun, heißt auch nachahmen, es heißt nämlich, das Gegenteil nachahmen.

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Sonntagsschule der Neuapostolischen Kirche Holzwickede, vermutlich 1933 oder 1934. Mein Vater steht in der mittleren Reihe, 2. von rechts. Rechts oben mein Großvater Hugo, der damals schon Prediger war, obwohl er erst 1933 zur NAK konvertierte. Die Laienprediger der Neuapostolischen hatten und haben keinerlei theologische Ausbildung.

Was lernt man als Kind, wenn in den Schulen nur Nationalsozialismus gelehrt wird und man gleichzeitig durch eine fundamentalistische christliche Sekte geprägt wird? Zum Glück war mein Großvater, ein Bauernjunge aus Westpreußen und als Bergmann im Ruhrgebiet Kommunist, bis er fromm wurde, gegen Hitler – für ihn war die Religion wichtiger. Meinem Vater verbot er den Besuch einer Adolf-Hitler-Schule, obwohl die Schulleitung das empfohlen hatte. weil der kleine Kurt einer der besten Schüler sei. „Dann hätte ich keinen Sohn mehr“, ist als Zitat meines Opas überliefert, eine Einsicht, die heute noch meinen Respekt fordert.

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Mein Vater 1934 als Schüler, Holzwickede

Meine Familie war immer aufstiegsorientiert. So weit man sich erinnern konnte, gab es unter den Vorfahren, den Verwandten und Freunden ausschließlich Bauern, Arbeiter und kleine Angestellte. Man hatte es „geschafft“, wenn man Beamter wurde – auf der sicheren Seite war. Künstler und ähnlich windige Existenzen waren nicht vorgesehen. Als ich meinen Eltern erklärte, dass ich den Lehrerberuf aufgeben und Journalist werden, womöglich Bücher schreiben wolle, war mein Vater entsetzt – er konnte das nicht verstehen. Er hat mich aber nicht versucht davon abzuhalten, was nicht möglich gewesen wäre, weil ich genau so stur wie er bin, und respektierte mich damit, was ich erst sehr spät verstanden habe.

Jahre später, als mein Vater aufgefordert wurde, schriftlich zu der damals seltenen Tatsache Stellung zu nehmen, warum ich den Kriegsdienst verweigerte, antwortete er sinngemäß: Man hielte mich, seinen Sohn, für in der Lage, entscheiden zu können, Soldat zu werden, und das müsse dann doch auch für das Gegenteil gelten – eben das nicht zu tun?

Dieses Glück hatte mein Vater nicht. Noch während seiner Zeit am Gymnasium wurde er als Luftwaffenhelfer abkommandiert: Luftwaffenhelfer hatten nicht den Status von Soldaten. Sie erfüllten zwar wie Soldaten Aufgaben an Geschützen und Geräten und lebten in den Flakstellungen wie sie, waren jedoch gleichzeitig Schüler, die von Lehrern unterrichtet wurden. Offiziell galten sie als Mitglieder der Hitlerjugend, was ihnen oft missfiel. (…) Freiwillige Meldungen waren nicht möglich, die Schüler wurden klassenweise und innerhalb der Schulklassen jahrgangsweise zum Einsatz abgeordnet. Mein Vater musste nach Köthen in Sachsen-Anhalt.

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Mein Vater als Luftwaffenhelfer in Köthen, 1943 und 1944

Als der Krieg vorbei war, ging es nur um’s Überleben. Das Abitur hatte mein Vater verpasst. Der einträglichste Beruf war Bergmann – das lernte er, wie sein Vater. Handwerkliches hat ihm immer Spaß gemacht. Ja, er war berühmt dafür! Als ich im zweiten Schuljahr war, sollten die Schüler ein Papiermodell ihrer Wohnung oder ihres Hauses basteln und mitbringen. Mein Vater baute ein kleines Modell unseres vierstöckigen Wohnhauses, mit maßstabsgetreuem Grundriss und Wänden aus Pappe und vier entnehmbaren Etagen, ein kleines Wunderwerk, an das ich mich noch heute erinnern kann – und daran, dass die Lehrer und anderen Schüler ehrfürchtig staunten und es kaum zu berühren wagten. (Ich darf darauf hinweisen, dass alle, die das von mir gebaute Hochbett in meinem Gästezimmer sehen, ehrfürchtig staunen.)

Mein Vater hat bis ins hohe Alter mir immer Werkzeug geschenkt oder etwas für mich gebaut, Schränke oder die Anrichte, die noch heute in meiner Küche steht, die er noch mit knapp 80 Jahren zu meiner Hochzeit gebastelt hatte – natürlich in Perfektion. Sein Maßstab, alles müsse perfekt sein, hat mich manchmal zum Wahnsinn gebracht. Als ich als Junge meinen Koffer packte, für ein paar Tage im Schullandheim, machte er den wieder auf und packte alles neu, aber jetzt so, dass man ihn schließen konnte. Damals war ich genervt, heute muss ich mich zurückhalten, wenn ich in einer ähnlichen Situation bin. Ich neige dazu, alles besser zu wissen und zu können als andere – und das denen auch zu sagen und zu zeigen. Damit macht man sich nicht unbedingt beliebt.

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Mein Vater (rechts) als Laienprediger („Priester„), Anfang der 50-er Jahre. In der Mitte mein Großonkel Otto Mey, der damalige „Vorsteher“ der neuapostolischen Gemeinde Holzwickede. Ich mochte „Onkel Otto“: Der war ein sehr kleiner Mann, aber trat um so energischer auf. Im 1. Weltkrieg hatte er eine Medaille für große Tapferkeit bekommen, weil er allein 17 Franzosen gefangen genommen hatte. Er erzählte bei Familientreffen Geschichten aus Ostpreußen, wie er den Teufel „ausgetrickst“ hätte und wie man gemeinsam in Opherdicke dafür gesorgt habe, dass ein Selbstmörder nicht mehr in einem Haus spukte und mehr in der Art. Das war spannender als jeder Horrorfilm. Otto war für meinen Vater eine wichtige und prägende Figur.

Wir erzieht man Kinder, wenn man durch Nazis zum „kulturellen“ Nazi erzogen wird? Man Vater hatte gelernt, man müsse zunächst den eigenen Willen von Kindern brechen, um sie dann erziehen zu können. Etwas anderes kannte er nicht, und so praktizierte er es an mir. War mein „Konto“ an Missetaten „voll“, prügelte er mich mit einem Stock. Das war schlimmer als ein spontaner Ausraster – kalt und berechnend. Später hat er das bitter bereut, schämte sich aber so sehr, dass er mir das selbst nicht sagen konnte, sondern meine Mutter bat, das für ihn zu tun. Ich war zu jung und damals zu wenig in der Lage, meine Emotionen ausdrücken zu können, um ihm zu sagen, dass ich seine Entschuldigung akzeptiert hatte.

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Mein Vater und ich, ca. 1956 oder 1957, im Sauerland in der Nähe der Daubermühle

Als ich auf ein Gymnasium geschickt werden sollte, protestierte mein Großvater – das würde meinen Glauben zerstören. Meine Eltern setzten sich durch, wofür ich ihnen dankbar bin. Die Religion war in den folgenden Jahrzehnten ein großes Hindernis, über mehr als Smalltalk hinauszukommen – ich war mit 20 aus der NAK ausgetreten und zu feige, das meinem Vater ins Gesicht zu sagen. Er wusste es aber von meiner Mutter. Als ich meine Staatsexamenarbeit mit Bestnote machte und sie stolz meinen Eltern präsentierte, sagte mein Vater nichts. Meine Mutter beichtete mir später, mein Vater habe nicht begriffen, was das sollte und es „Geschwätz“ genannt.

Auf seine Art war er der zuverlässigste Mensch, den ich kannte. Wenn er ankündigte, etwas zu tun, dann geschah das auch – ohne Wenn und Aber. Keine Kompromisse! Man zieht eine Sache, von der man überzeugt ist, durch oder lässt es ganz, auch wenn alle ringsum empört aufheulen – eine Haltung, die mir heute sehr bekannt vorkommt. Von meinem Vater habe ich unbewusst gelernt, wie man den inneren Schweinehund besiegt und der öffentlichen Druck aushält. Mit 16 oder 17 Jahren „musste“ ich oft an einem Tag in der Woche mit ihm zusammen „Zeugnis bringen“ – das heißt: Man geht kurz nach der „Tagesschau“ raus (wir besaßen keinen Fernseher) und klingelt bei wildfremden Leuten, die erstaunt die Tür öffnen, und fragt sie, ob man mit ihnen über Gott reden könne. Das muss man sich als Jugendlicher erst einmal trauen. Ich erinnere mich immer an Jack Londons Abenteuer eines Tramps, ein Buch, das ich als Junge begeistert gelesen habe: Ein Tramp, der bettelt, muss, wenn sich eine Tür öffnet, in weniger als einer Sekunde zu dem Gesicht, was erscheint, die „passende“ Geschichte erfinden, um etwa zu bekommen. Man lernt, sich „volkstümlich“ auszudrücken.

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Ich besuche meinen Vater in der Klinik, 2015

Bis ins Greisenalter fuhr mein Vater noch Auto und mich sogar manchmal zur Nachtschicht, wenn ich vorher meine Eltern besucht hatte. Wir versuchten ihm klarzumachen, dass er die Poller vor dem Supermarkt nicht unbegrenzt oft umfahren könne, und was wäre, wenn ein Kind vor den Wagen liefe? Irgendwann schlossen wir dann einen Kompromiss. Wir nahmen ihm das Auto weg, aber er durfte seinen Führerschein behalten. Ich war mit meinem Vater einmal in einem Autoladen, um einen Leasing-Vertrag abzuschließen oder zu verlängern, und der Kerl hinter der Theke hielte den Führerschein meines Vaters wie eine ägyptische Schriftrolle in der Hand und wusste nicht, was das für ein exotischer Lappen war. Mein Vater hat auch nie einen Unfall gebaut, dazu war er viel zu korrekt und pflichtbewusst. Wir spotteten immer, er würde auch in der Wüste Sahara vor einer roten Ampel anhalten, selbst wenn 300 Kilometer ringsum niemand sei. So war er eben, und er hatte nie die Absicht, daran was zu ändern.

Im Alter von 88 sprang er dann dem Tod von der Schippe. In einer Nacht sackte er schreiend zusammen, und meine Mutter rief die Feuerwehr. In der Klinik stellte man ein Aorta-Aneurysma fest, eine geplatzte Bauchschlagader. In dem Alter ist das ein Todesurteil. Aber nicht bei meinem Vater. Der operierende Chirurg sagte mir am nächsten Morgen, ein Aneurysma der Aorta überlebe man nur, wenn man sofort auf den Operationstisch springe. „Wir glaubten nicht ihn durchzubringen.“ Mein Vater war aber noch mit Blaulicht durch halb Berlin gefahren worden. Als er auf der Trage lag und am nächsten Tag auf die Intensivstation gefahren wurde, winkte mein Vater mir zu. Das medizinische Personal machte große Augen oder schüttelte den Kopf. Ich hätte ihnen am liebsten gesagt: Mein Papa ist stur und zieht das jetzt durch, ob das jemandem gefällt oder glaubt oder nicht. Die Rehabilitationmaßnahmen dauerten drei Monate. Er bekam einen künstlichen Darmausgang und einen Herzschrittmacher.

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Zu seinem neunzigsten Geburtstag bekam mein Vater von seinem ersten Urenkelkind ein Blümchen geschenkt.

Irgendwann ging es nicht mehr. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater und konnte ihn nicht mehr pflegen. Immer wenn das Thema aufkam, wurde mein Vater extrem ängstlich und fing laut an zu weinen. Wir waren froh, dass er einen klaren Kopf behielt, nur der Körper verfiel zusehends. Vor wenigen Monaten war ein schönes Pflegeheim ganz in der Nähe der Wohnung meiner Eltern gefunden.

Aber schon nach wenigen Wochen aß mein Vater nichts mehr. Sogar der Fernseher, das einzige „Vergnügen“ neben den Besuchen der Kinder, interessierte ihn nicht mehr. Noch vor zwei Wochen konnte meine Mutter ihn noch einmal besuchen. Es war für sie ein Abschied – so hat sie es empfunden. Bei meinem letzten Besuch, als er noch flüstern konnte, sagte er mir: „Das ist alles so unwirklich.“

Gestern (am 3. Oktober) rief man uns an, wir sollten bitte so schnell wie möglich kommen: Die Rasselatmung habe eingesetzt. Er öffnete nicht mehr die Augen und reagierte nicht spürbar und lag friedlich mit den Händen auf dem Bauch. Wenige Stunden später war er tot.

Papa, ich habe mehr von dir gelernt und übernommen, als du dir je zu träumen gewagt hast. Neben mir steht seine Armbanduhr, die ich von seinem kalten Arm nahm. Sie läuft noch.

Nachtrag: Meine Mutter (94) liegt nach einem schweren Sturz auf den Kopf im Krankenhaus. Sie konnte weder sprechen noch schlucken und war halbseitig gelähmt, ein Blutgerinnsel im Kopf drückt auf das Gehirn. Laut ihrer Patientenverfügung verboten wir alle Maßnahmen wie künstliche Ernährung per Magensonde. Wir wussten nicht, wer von unseren Eltern eher sterben würde, meine Mutter oder mein Vater. Als ich sie besuchte, konnte sie nur einzelne Wörter mühsam flüstern. Heute, zwei Tage später, rief mich meine Schwester an: „Mama kann wieder schlucken. Die Lähmung geht zurück. Sie schimpft auf die Krankenschwestern, die ihr nicht das richtige Mineralwasser bringen.“ Vielleicht werden sich Ehepaare, die siebzig Jahre verheiratet waren, irgendwann immer ähnlicher.

Charkow

charkow

Mir ist es gelungen, einige alte Postkarten aufzutreiben, die Charkow in der heutigen Ukraine zur Zeit der russischen Revolution oder kurz vorher zeigen. Besonders interessant ist das obige Gerichtsgebäude, in dem vermutlich mein Großvater Peter Baumgart 1916 oder 1917 zum Tode verurteilt wurde.

Eine weitere Karte ist sogar als Feldpost verschickt worden, von einem Unbekannten nach Riesa. Sie zeigt auf der Vorderseite eine Straßenansicht aus Charkow und ist auf der Rückseite beschrieben (vgl. unten). Der Inhalt hat mit meinen Recherchen nichts zu tun, ich finde es aber trotzdem spannend zu erfahren, was jemand am 23. April 1918 aus Charkow mitzuteilen hatte. Ich kann die Schrift leider nicht entziffern.

charkow

Ober Ost oder: Pioniere der Kultur

kriegsland im Osten

Ich lese gerade ein interessantes Buch von Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten: Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Ich wollte eigentlich nur den exakten Frontverlauf im Osten zwischen 1916 und 1918 wissen, weil es online nur sehr schlechte Karten gibt.

Der Hintergrund: Mein Großvater Peter Baumgart (1897-1979) ist während der russischen Revolution in Charkow (heute Charkiw) in der Ukraine zu Tode verurteilt worden, aus der Todeszelle geflohen und nach Deutschland geflüchtet. Darüber gibt es einen schriftlichen Bericht, der aber laut Aussage meiner Großmutter an einigen Stellen redaktionell bearbeitet worden ist – und nicht immer im Sinn dessen, was er ihr erzählt hat. Alle Details müssen also von mir überprüft werden – soweit wie möglich. Das ist in diesem Fall extrem schwierig, zumal ich versäumt habe, meinen Großvater danach zu fragen (worüber ich mich heute schrecklich ärgere).

Ich weiß weder, ob die Polizei des Zaren meinen Großvater (er hatte seinen Pass gefälscht) zum Tode verurteilt hatte oder die Bolschewiki. Das Jahr ist nicht überliefert. Die Zeitschiene:

Februar 1917 Februarrevolution in Russland, Abdankung des Zaren
Dezember 1917 Sowjetischer Angriff auf die Ukraine
26.12.1917 Sowjets erobern Charkiw
18.02.1918 Deutsche Truppen beginnen den Einmarsch in Sowjetrussland
18.04.1918 Deutsche Truppen besetzen Charkiw

Im Original des in der Familie überlieferten Berichts heißt es:

peter Baumgart

Ich vermute, dass er zusammen mit den deutschen Truppen auf deren Rückzug nach Deutschland (ins Ruhrgebiet) gelangte. Das kann ich nicht beweisen, aber angesichts der Tatsache, dass er mittellos war, auf der Flucht vor russischen Häschern und wegen der ungeheuren Entfernungen ist es kaum anders denkbar. Auch der Monat Mai passt.

Im oben genannten Buch habe ich, wie erwartet, eine aussagekräftige Karte gefunden. Ich wusste gar nicht, dass die deutsche Armee schon im 1. Weltkrieg bis an den Don gelangte.

1918 front russland

Der Autor Vejas Gabriel Liulevicius ist der beste Experte zum Thema. Schon der Prolog hat mich überrascht. Seine zentrale These: Die Ostfronterlebnisse von 1914 bis 1918 bildeten den unerläßlichen kulturellen und psychologischen Hintergrund für das, was sich später in diesem blutigen 20. Jahrhundert noch ereignen sollte; sie formten die dafür notwendige Einstellung. Liulevicius spricht von der annexionistischen Begeisterung der Deutschen.

In einer Rezension heisst es:
Vom Ostfronterlebnis des Ersten zum Vernichtungskrieg des Zweiten Weltkriegs? Dies ist, zugespitzt formuliert, die Frage, die Vejas Gabriel Liulevicius in seiner Studie über die deutsche Militärherrschaft in Osteuropa aufwirft. Bis heute konzentrieren sich Historiker zumeist auf die Westfront. Die Kämpfe im Osten werden dagegen wenig beachtet, und selbst der Siegfrieden von Brest-Litowsk ist weitgehend vergessen.

Da ist wieder typisch. Deutsche Historiker interessieren sich nicht für das Thema – außer natürlich Fritz Fischer, der hierzulande angefeindet wurde, im Ausland aber als der wichtigste deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts galt. 1975 erschien dann von Norman Stone The Eastern Front 1914-1917 und danach nur noch kleinere Werke. Bis heute existiere, so Liulevicius, noch kein klares Bild, was die Geschehnisse im Osten bedeuteten.

Während sich die Soldaten an der Westfront im unerbittlichen Sperrfeuer der modernen, industriellen Kriegsmaschinen in die Schützengräben kauerten, waren die deutschen Soldaten im Osten mit einer feindlichen Natur konfrontiert, mit der anhaltenden Präsenz der Vergangenheit, mit einem Kriegsschauplatz, der von Tag zu Tag weniger modern schien, und mit den kulturellen Besonderheiten der sie umgebenden einheimischen Völker. Diese besondere Form der Kriegführung und die alltäglichen Aufgaben als Besatzer und als Vollstrecker der militärischen Utopie‚ die die Soldaten unter dem permanenten propagandistischen Sperrfeuer zur kulturellen Mission der Deutschen in Ober Ost zu realisieren hatten, hinterließen bei ihnen tiefe Spuren. Ein Leutnant faßte seine Erlebnisse an der Ostfront in einer Haßtirade zusammen, bei der die in seiner Erinnerung gespeicherten verstörenden Bilder aus ihm herausquellen. Es war, so schrieb er, „innerstes Rußland, ohne Abglanz mitteleuropäischer Kultur, Asien, Steppe, Sumpf, raumlose Unterwelt und eine gottverlassene Schlammwüste“. Paradoxerweise konnte eine so pauschale Ablehnung durchaus mit Kolonisierungsambitionen einhergehen, mit dem Bestreben, die „Unkultur“ der eroberten Länder und Menschen zu überwinden. In einem anderen Bericht heißt es zum Beipiel, die deutschen Soldaten seien wahre „Pioniere der Kultur“: „So Wird der deutsche Soldat, bewußt oder unbewußt, ein Lehrmeister in Feindesland“ mit dem Auftrag, Ordnung und Entwicklung zu bringen. Beide Sichtweisen entstanden im Kontext des Krieges aus dem Ostfronterlebnis. Selbst Während man ihn ausbeutete und Pläne zu seiner Umgestaltung vorbereitete, fürchtete man den Osten. Diese disparaten Perspektiven verschmelzen zu einem Bild vom Osten, das aus dem Fronterlebnis und den Realitäten, der Praxis und den Illusionen der deutschen Okkupationspolitik in Ober Ost hervorging.

Wieder was gelernt.

Collection Builder

Der Schockwellenreiter wies auf den Collection Builder hin, ein Tool, das zum Beispiel ideal wäre für meine Dokumentensammlung (von Texten über Fotos bis hin zu Videos) zur Familiengeschichte. Leider ist die stand alone-Version noch under construction. Wenn das jemand schon nutzt: Ich bin für Tipps dankbar.

Willy auf der Lok

willy schröder

Mein Großonkel Willy Schröder (15.08.1889 – vermutlich in Mittenwalde, Todesdatum [Suizid] unbekannt, lebte als Lokführer in Altenburg (Thüringen). Weiß jemand, was das für eine Lok ist? Vielleicht kann man die Zeit der Aufnahme anhand der Baureihe ein wenig eingrenzen (Datum unbekannt, aber nach 1945).

8. Mai 1945

8. Mai 1945

Ich habe heute die Gelegenheit genutzt, meine Eltern zu fragen, wie sie den 8. Mai 1945 erlebt haben.

Mein Vater war damals 17 Jahre alt. Er war vom Gymnasium abkommandiert worden als Flakhelfer in Köthen, danach musste er zur Kriegsmarine in Wilhelmshaven (auf dem unteren Bild ganz rechts). Zum Krieg kam es für ihn dort nicht mehr.

Die britische Armee besetzte Wilhelmshaven. Die ehemaligen deutschen Soldaten mussten nach dem 8. Mai Trümmer aufräumen und wurden dann im Juni per LKW ins Entlassungslager Hammerweise bei Arnsberg gebracht. Kurz darauf durfte mein Vater nach Hause, weil er aus einer Bergarbeiterfamilie stammte und Bergleute gebraucht wurden, um die Versorgung sicherzustellen.

23. April 1944

Weststrasse Hamm

Gestern sagte meine Mutter (94 Jahre alt): „Was am 23. April 1944 war, weiß niemand mehr, und es will auch niemand wissen.“ Damals war der erste Großangriff auf die Stadt Hamm. Meine Mutter arbeitete dort in einem Laden in der Weststraße (vgl. Foto oben, damals und heute). Das Bombardement hat sie im Bunker überstanden. Sie sagte, sie haben drei Tage danach im Bett gelegen, weil sie nichts mehr hörte und extrem Kopfschmerzen gehabt habe. Danach sei es nicht mehr möglich gewesen, von Bönen, wo sie wohnte, nach Hamm zu kommen.

Das mag aus der Sicht von heute und viel schlimmeren Kriegsfolgen belanglos erscheinen. Wenn man das aber von einer noch lebenden Augenzeugin erfährt, geht es einem nahe.

Unter Einsatz von 750 Bombern und einigen hundert Jagdflugzeugen wurden 8000 Spreng- und 3500 Brandbomben abgeworfen. Innerhalb einer knappen Stunde war die Stadt in ein Flammenmeer und eine Trümmerwüste verwandelt. Der Verschiebebahnhof, der Güterbahnhof sowie Wohnviertel im südlichen und westlichen Stadtgebiet wurden besonders schwer getroffen. Etwa 240 Gebäude wurden völlig zerstört, weitere 350 schwer beschädigt. Mit weit über 200 Todesopfern forderte dieser Angriff die meisten Menschenleben, die je einem Luftangriff auf die Stadt Hamm während des Krieges zum Opfer fielen.

Am 05.06.2019 schrieb ich:
„Von der schönen Stadt Hamm ist nichts mehr übrig geblieben. Das Foto unten zeigt die Innenstadt bei Kriegsende – der Westentorbunker steht im linken oberen Viertel. Für mich ist es kaum vorstellbar, dass meine Mutter da durchlaufen musste, oft sogar zu Fuß zehn Kilometer bis Bönen, wo meine Großeltern wohnten, weil die Züge nicht mehr fuhren, einmal sogar unter Tieffliegerbeschuss, zusammen mit einer Arbeitskollegin, wie sie erzählte. Dass ich existiere, ist eigentlich ein glücklicher Zufall.“

Baumgart am Styr, reloaded

Ich habe eine Ortsangabe in der heutigen Ukraine bei Baumgart am Styr (02.01.2019) korrigieren müssen.

Unter dem Führerbalkon

Westentorbunker Hamm

Vermutlich wissen weder die Einwanderer in Hamm (Westfalen) noch die Nachgeborenen, was es mit dem riesigen Gebäude in der Nähe des Bahnhofs genau auf sich hat. Ich bilde mich gern auch im Urlaub fort, deswegen fuhr ich da hin.

Meine Mutter hat im Alter von 18 Jahren (1944) ganz oben in Raum 905 gesessen, im so genannten Westentorbunker, viele Male, während Bomben die ganze Stadt in Schutt und Asche legten und Hunderte verbrannten und starben. In Hamm stehen heute noch fünf der neungeschossigen Bunker.

Das Stadtarchiv teilte mir vorher mit, jetzt gehöre der Bunker der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Sitz Dortmund, eine Institution, von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Der Tonfall, mit der mir diese Auskunft erteilt wurde, legte nahe, dass ich es gar nicht erst versuchen solle, eine Besichtigung zu beantragen, da noch nicht einmal die Stadtarchivare einen Schlüssel hätten.

Das Motto des Stadtarchivs Hamm, das im Souterrain eines hässlichen Zweckbaus residiert, ist: „Für Ihre Recherche stellen wir alles auf den Kopf.“ Das taten sie auch. Als ich eintraf, lagen schon dicke Folianten mit Bauplänen usw. auf dem Tisch. (Man sollte wissen, dass große Teile des Archivs im Krieg zerstört wurde.)

Westentorbunker Hammstadtarchiv Hamm

Über den Bombenkrieg in Hamm und die Bunker gibt es nur zwei Bücher, die ich mir beide besorgt habe. Karl Wulf: Hamm im Bombenkrieg (2018) sowie ders.: Hamm – Planen und Bauen 1936-1945.

Meine Mutter hat 1943 und 1944 bei Schönherr & Alves (Herren-, Knaben- u. Berufskleidung, wurde ausgebombt) in der Weststraße gearbeitet und musste von dort bei Luftalarmen in den Westentorbunker rennen. Mehrfach gab es Massenpanik, weil hunderte Menschen gleichzeitig in den Bunker flüchten wollten.

Die Hammer Archivare hatten sogar einen alten Stadtplan für mich, auf dem die exakte Lage des Geschäfts zu erkennen war. Es gibt nur ein Foto, das die Weststrasse – mit der Pauluskirche im Hintergrund – kurz nach dem Bombenangriff vom 22. April 1944 zeigt, den meine Mutter miterlebt hat. Auf dem untere Foto ist die Straße heute zu sehen, die Perspektive stimmt nicht ganz. Wo Rossmann ist, war damals Schönherr & Alves.

Weststrasse Hamm

Vor 1940 gab es fast keine Bunker in Deutschland. „Öffentlich geäußerte Vorschläge zu einem umfangreichen und sicheren Luftschutzbau galten bis zu diesem Zeitpunkt als ‚zersetzend‘ und konnten sogar zur Verhaftung durch die Gestapo führen und mit der Einlieferung in ein KZ enden.“ (Wulf: Hamm – Planen und Bauen, S. 93) Hitler ordnete nach dem ersten alliierten Angriff auf Berlin im August ein „Sofortprogramm“ für das Luftschutzbauwesen an. Die Anlagen sollten die gesamte Bevölkerung schützen. Hamm war der größte Eisenbahnknotenpunkt Europas; nur dort wurde der Bunkerbau wie geplant vollzogen. Wenn man die Dokumente studiert, wird man fassungslos: Wie selbstverständlich gehen die Verfasser in ihrem Wahn davon aus, dass „nach dem Krieg“ weitergebaut würde.

Luftschutzmaßnahmen
„Betrifft: Anordnungen des Führers zur sofortigen Durchführung baulichen Luftschutzmaßnahemn“, 13. Oktober 1940″, aus: ebd. (Ausriss)

Der Bunker am Bahnhof von Hamm hat oben eine Art Balkon. Wulf schreibt dazu:
Bunker mit Stilelementen der offiziellen Baukunst. Sie sind durch Gesimse, Konsolenfries, Attikabänder und betonte Eingänge künstlerisch aufgewertet. Einige von ihnen zeigen auch das neben dem Hoheitszeichen wichtigste Zeichen der Herrschaftspolitik: den Führerbalkon, der aber nicht zugänglich ist und lediglich symbolisch die Anwesenheit des Führers dokumentiert.

Luftschutzmaßnahmen

Ich habe das Buch über Hamm im Bombenkrieg mit Spannung gelesen – ein Horrorfilm ist nichts dagegen. Um so ungeheuerlicher ist die Unbelehrbarkeit, mit der sich die Nationalsozialisten und auch die „normale“ Bevölkerung an die Illusion klammerten, Hitlers verbrecherische Krieg würde zum Sieg führen.

Von der schönen Stadt Hamm ist nichts mehr übrig geblieben. Das Foto unten zeigt die Innenstadt bei Kriegsende – der Westentorbunker steht im linken oberen Viertel. Für mich ist es kaum vorstellbar, dass meine Mutter da durchlaufen musste, oft sogar zu Fuß zehn Kilometer bis Bönen, wo meine Großeltern wohnten, weil die Züge nicht mehr fuhren, einmal sogar unter Tieffliegerbeschuss, zusammen mit einer Arbeitskollegin, wie sie erzählte. Dass ich existiere, ist eigentlich ein glücklicher Zufall.

Hamm 1945

Wunschliste [Update]

wunschliste

Zu teuer oder nicht zu haben – was ein Pech. Wenn jemand eine preiswertere Version irgendwo sieht, bitte ich um eine verschlüsselte E-Mail.

Jemand schickte mir gerade Link 1 und Link 2 – funktioniert aber gerade nichts (Zeitmangel!).

Coloured Mom

mom

Meine Mutter im Jahr 1929. Ich habe ein bisschen experimentiert – das Foto ist ursprünglich schwarz-weiß. Colorize Photos oder Colourise your black and white photos machen da ein ganz ordentliches buntes Foto draus, obwohl ich das Original schöner finde.

Es war einmal in einer Zeche im Ruhrpott

Zeche Bönen

Credits: Gemeindearchiv Bönen

Centralny Obóz Pracy w Potulicach

georgetown

Das hier ist die Enteignungsurkunde des Hofes meine Urgroßvaters. Seine Enkelin hatte das Grundstück geerbt. Die Gebäude waren ohnehin 1943 abgebrannt.

Interessant ist, dass die polnischen Behörden von „Arbeitslager“ sprechen. In Potulice sind entfernte Verwandte von mir umgekommen. Am Ende des 2.Weltkriegs wurden fast alle Deutschen im ehemaligen Westpreußen interniert, vertrieben und zwangsweise ausgesiedelt, in Potulice starben rund 1.300 Menschen. Die sozialistische Regierung Polens hielt das Thema unter der Decke, im öffentlichen Diskurs war es tabuisiert.

Es existiert auch nur ein einziges deutsches Buch, das sich sachlich dem Thema widmet – von Helga Hirsch: Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern.

Euthanasie [Update]

Special Selection

Ich habe einen Grund, warum ich das ziemlich teure Buch von Anika Burkhardt Das NS-Euthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz: eine strafrechtliche Analyse gekauft habe. Ich rege mich immer noch auf.

1965 leitete Fritz Bauer ein Ermittlungsverfahren gegen sechzehn hochrangige Juristen ein, die am 23./24. April 1941 an einer Besprechung in Berlin teilgenommen hatten. Dort hatten sie offiziell von der Tötung Geisteskranker erfahren und danach widerspruchslos die Anordnung befolgt, Strafanzeigen unbearbeitet ans Reichsjustizministerium abzugeben. Die Voruntersuchungen wurden 1970 eingestellt. (…) Von 438 ‚Euthanasie‘-Strafverfahren, die bis 1999 eingeleitet wurden, endeten nur 6,8 % mit rechtskräftigen Urteilen, darunter zahlreichen Freisprüchen.

Ich erwähnte hier schon im Oktober 2017, dass mein Großonkel Helmuth Schröder, der jüngste Bruder meines Großvaters,im Zuge des Euthanasie-Programms von den Nazis ermordet wurde, weil er an Epilepsie litt. Leider wurde das Landesarchiv Berlin auf der Suche nach Unterlagen darüber nicht fündig, die Akten aus Westpreußen sind verstreut oder ungeordnet in Polen.

Der Ermordung unheilbar Kranker und Behinderter hatte Adolf Hitler im Oktober 1939 mit einem auf den 1. September zurückdatierten und auf seinem Privatbogen verfassten Schreiben die Ermächtigung gegeben: ‚unheilbar Kranken … [sollte] der Gnadentod gewährt werden‘. Die Rückdatierung des Erlasses verdeutlichte, dass mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 auch der innere Krieg gegen Menschen begonnen hatte, die dem Rassenideal der Nationalsozialisten nicht entsprachen und somit als „schädlich“ und „wertlos“ galten. (LEMO)

Die Zentrale Stelle für Justizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen riet mir, ich solle mich an den International Tracing Service (ITS) wenden, da man in Ludwigsburg nur für die Täter zuständig sei – die vermutlich schon alle tot sind.

Bei der ITS in Arolsen habe ich heute einen Antrag gestellt, nach den Akten über meinen ermordeten Großonkel zu suchen.

Ich bekam vorgestern noch eine Nachricht, die mich aufgewühlt hat.

…habe gestern mit der Tochter (…) vom letzten Bürgermeister (…) aus Mittenwalde telefoniert. (…) Sie kennt Deine Urgroßeltern Gustav und Emilie Schröder. Sie wußte auch, dass 3 Töchter und ein Sohn in dieser Zeit auf dem Hof waren. Die eine Tochter hieß Lina und war geistig behindert. Sie ist später abgeholt worden und der Euthanasie zum Opfer gefallen.(…). Sie kann sich nur daran erinnern, daß diese Lina immer laut geschrieen hat und sie immer Angst hatten auf den Hof zu gehen. (…) Abgeholt wurde Lina ab Ende 1940. Zeitgenau konnte sie sich auch nicht erinnern. Als Kind achtet man da nicht so darauf.

Deine Urgroßeltern hat sie als liebe und nette Menschen in Erinnerung. Nur vor der Tochter hatte sie Angst, weil sie halt so laut geschrien hat. Es gab noch eine Familie Pansegrau, deren Tochter hatte einen sehr großen und unförmigen Kopf. Diese Tochter ist ebenfalls abgeholt worden.

Niemand hat jemals darüber ein Wort verloren. Wenn es stimmt, werde ich das herausfinden, wenn es möglich ist, auch wenn das Jahre dauerte. Mord verjährt nicht.

[Update] Mir wurde mitgeteilt, dass die Suche bis zu einem Jahr dauern kann.

Baumgart am Styr

baumgart

Ein kurzes Zwischenspiel und ein Beispiel für historische Fummelei, die einem schwierigen Puzzle gleicht. Aus der oral history meiner Familie weiß ich, dass die Vorfahren des Vaters meiner Mutter aus Schwaben nach Russland bzw. Polen gezogen sein sollen. Das erzählte meine Oma Caroline Emma Baumgart (geb. Weiß). Ich habe das angezweifelt, weil nichts dafür sprach und die Möglichkeiten der Recherche in den 30-er Jahren mit den heutigen nicht vergleichbar sind. Meine Mutter erinnert sich, einer der entfernten Verwandten, vielleicht eine Großtante, sei in Odessa gestorben.

Mittlerweile weiß ich, dass die matriarchale Linie Wolhyniendeutsche waren. Viele siedelten im Kirchspiel Roshischtsche, heute heißt der Ort Roschyschtsche am Styr. Aber wann und wie sind die in die heutige Ukraine gekommen, und wie die Vorfahren meines Großvaters nach Polen, westlich von Warschau? Und waren sie Mennoniten?

Eine Karte aus dem Jahr 1927 von Karl Lück zeigt das damalige Wolhynien und die deutschen Sprachinseln.

Roschyschtsche

Mit dieser Karte kann man auch den obigen Sterbeeintrag eines Kirchenbuchs von Rożyszcze (polnische Schreibweise) lokalisieren: Ludwig Baumgart aus Glinsche. Das heißt eigentlich Gliniszcze und läge auf der heutigen Karte bei Kremenez (oder ist identisch mit dem alten Gliniszcze), einem „Ort in der ukrainischen Oblast Wolhynien, Rajon Roschyschtsche“, laut Wikipedia „irrelevant“. [Update] Das „richtige“ Glimcze liegt auf der Karte weiter westlich, südlich von Adamowka.

Interessant ist der letzte Eintrag im obigen Kirchenbuch vom Ludwig Baumgart „Odessa von den russischen Behörden“. Was das genau besagt, kann ich (noch) nicht interpretieren.

Dazu passt ein Fund, den ich schon vor einiger Zeit machte. Es gibt eine Liste der Auswanderer aus Deutschland ins Schwarzmeergebiet 1763 bis 1862. Darin findet man Franz Joseph Baumgart aus Germersheim in der Pfalz, der 1809 nach Taurien ausgewandert sei. Taurien hieß früher die Krim, wo auch später einige Baumgarts nachweisbar sind.

Sollten einige der krimdeutschen Baumgarts wieder zurück nach Polen gewandert sein? Fragen über Fragen…

1828

masel topf
[Quelle]

Es geschah im Dorf Kazuń Polski am 17. Februar 1828 um ein Uhr nachmittags: Er erschien persönlich der Bauer Henryk Gacki, 40, wohnhaft in Brzozówka. Zeugen: Dawid Bomgart, 23, und Jakób Tobur, 30, Bauern, wohnhaft in Brzozówka. Sie bezeugten die Geburt eines Mädchens in Brzozówka, im Haus Nummer 17, am 16. Februar diesen Jahres um acht Uhr nachmittags, von seiner Ehefrau Eufraza (geb. Berata?), 20. Bei der heutigen Heiligen Taufe wurde dem Kind der Namen Ewa gegeben.

Großeltern (?): Jakób Tober und Helena Bomgartowa. Dieser Akt wurde nur von uns ausgefertigt und signiert, weil alle anderen nicht schreiben können. (Danke, Marianne H.!)

Dawid Bomgart (Baumgart) ist einer meiner Vorfahren der matriarchalen Linie. (Vgl. Baumgart, revisited, Was von uns bleibt und Peter aus Podlesche)

Ich vermute, dass die erwähnte Helena Bomgartowa als Großmutter schon im 18. Jahrhundert geboren wurde.

Baumgart, revisited

geheime soldarität

(Quelle: Ostdeutsche Familienkunde, Bd. 14, 44. Jg. (1996), Heft 1 Jan-März 1996, S. 159)

In Nowy Dwór Mazowiecki (dt. Neuhof) bei Warschau wurde mein Großvater mütterlicherseits 1897 getauft. Ich halte es immer noch für unwahrscheinlich, dass die Vorfahren meiner Mutter Mennoniten waren. Die Liste ehemaliger Mennonitenkirchen führt die Gemeinde in Deutsch-Kazun auf. Auf Catalogue of monuments of Dutch colonization in Polen gibt es noch eine alte Karte des Ortes.

By the way: Neu auf meiner Website Ancestry:

Guter Stoff

Dalwhinnie

In der Flasche ist ein 15 Jahre alter Dalwhinnie.

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