Mittenwalde – Dąbrowa Mała, reloaded

mittenwalde Dąbrowa Mała

Hier und heute muss ich leider etwas widerrufen. Ich schrieb im Januar 2017: Ich bin bei der Lektüre auf mehrere interessante Indizien gestoßen, die eigene Familiengeschichte betreffend. Leider gibt es keine Zeitzeugen mehr, die mir etwas konkret über das Verhältnis der Polen und Deutschen rund um den ehemaligen Hof meines Urgroßvaters in Mittenwalde im heutigen Polen sagen können. Der Hof wurde 1943 von den Polen abgebrannt, meine Urgroßmutter starb an ihren Verletzungen. Mein Urgroßvater war aber kein Nazi, zumal einer seiner Söhne von den Nazis ermordet worden waren. Ich weiß nur, dass er auf „die Polen“ sehr schlecht zu sprechen war.

Was waren also die Gründe für den Brandanschlag? Vermutlich werde ich es nie erfahren, aber man findet in einigen Büchern Hinweise darauf (vgl. Ausriss oben), wie groß der gegenseitige Hass war.

Es gibt in Mitteleuropa wohl kaum ein schwierigeres historisches Thema als das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen. Und meine Familie war seit dem späten 18. Jahrhundert immer mitten drin..

Jetzt weiß ich, dass alles ganz anders war. Ich habe einen Kriminalfall aus dem Jahr 1943 lösen können. Doch vorab will ich etwas zu der gähnenden Langeweile bemerken, die das Stammpublikum befallen könnte. Was heißt und zu welchem Ende studiert man die eigene Familiengeschichte?

Es gibt vermutlich Verhaltensweisen und Traditionen, die von den Vorfahren unbewusst übernommen werden, falls diese einen beeinflusst haben. Meine beiden Großväter, die in meiner Kindheit wichtig für mich waren, lehnten Hitler ab. Wie würde ich heute denken, wenn das anders gewesen wäre? Ich wollte auch wissen, wie mein Urgroßvater, der wegen des „romantischen“ und verschwundenen Hofes immer geheimnisvoll für mich war, zu den Nazis stand. Einer seiner Söhne, Helmuth, wurde umgebracht – kaum vorstellbar, dass dann der Vater das Regime unterstützt hätte. Und was war mit der Brandstiftung, die meiner Urgroßmutter das Leben kostete?

Nach eine Suche von 36 Jahren haben ich endlich den genauen Ort erfahren, wo der Hof Gustav und Annas stand. 1982 suchte ich an der falschen Stelle – damals lebte mein Großvater noch, der dort geboren worden war, aber der hatte noch nie eine Karte der Gegend gesehen und sich um ein paar Kilometer vertan, als er mir den Weg beschrieb. Der obigen Kartenausschnitt (für die gesamte Karte von 1940 klicken) zeigt das Haus (links), das rechte gehörte wohl früher auch dazu; zu einem mir bis jetzt noch unbekannten Datum ist der Hof geteilt worden.

mittenwalde Dąbrowa Mała

Das Dorf Mittenwalde (Dąbrowa Mała) im ehemaligen Westpreußen (vgl. Kartenausschnitt) grenzte an Krossen (Chrosna, beide in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern. Wie mir eine Lehrerin aus Thorn (Torún) schrieb, schwelt immer noch ein Streit zwischen den Dörfern, wo die exakte Grenze sei – genau dort, wo der Hof war. Das erklärt auch, warum mein Opa zwar in Mittenwalde geboren, aber in Krossen zur Schule ging.

mittenwalde 1911

Eine Leserin meines Blogs (vgl. Kommentare) schickte mir vor zwei Jahren eine handgemalte Skizze, die Mittenwalde im Jahr 1911 zeigt samt der Legende, wer wo wohnte. Nr. 1 (links unten) ist der Hof meiner Urgroßeltern. Leider war ich zunächst auf der falschen Fährte, weil ich die Nord-Süd-Tangente für die Strasse hielt, die von Mittenwalde/Dąbrowa Mała nach Süden führt. Der Vergleich der Waldwege stimmte einigermaßen, und ich war erst recht von meiner These überzeugt, als ich in Archiven herausfand, dass die Nr. 1 ein Hof bei Elsendorf hätte sein können, der schon im 18. Jahrhundert von einer Familie bewohnt wurde, deren Namen in meinem Stammbaums vorkommt. Aber ich irrte. In Wahrheit zeigt die Skizze die „Hauptstraße“ von Krossen – Mittenwald ist östlich davon. Und die Skizze ist nicht exakt genordet: Wenn man sie richtig hält, stimmt alles.

mittenwalde Dąbrowa Mała

Ein Großcousin von mir, von dessen Existenz ich erst jetzt auf Umwegen erfahren habe, war schon Dutzende Male im heutigen Polen, weil er in Krossen/Chrosna geboren worde und ihn das Thema interessierte. Das Foto ist von ihm und zeigt die Stelle, an der der Hof meiner Vorfahren war. 1981 hat er mitten im Wald noch Reste des gemauerten Kellers und verwilderte Obstbäume gefunden – das Haus selbst und die Anbauten waren komplett aus Holz.

Und wer hat es nun angesteckt? Es gibt noch Augenzeugen – und die haben geredet! Es war nicht der polnische Knecht Eduard, der unter Verdacht stand (sorry, Eduard!) und grausam verprügelt und zeitweilig ins Gefängnis gesteckt wurde. Es war der Nachbar Zühlke, Bauernführer und Obernazi von Mittenwalde, mit dem meine Urgroßeltern verfeindet waren, so, dass er ihnen sogar nicht erlaubte, den Weg, von Norden kommend, zu ihrem Hof zu gehen – sie mussten westlich an einem Hügel einen Umweg gehen. Diese Nazi schwängerte seine polnische Magd – seine Frau starb vor Kummer, sagten die Leute -, und floh noch vor Kriegsende nach Westen. Bestraft wurde er nie. Zu meinem Ärger taucht diese Name auch irgendwann in meinem Stammbaum auf, die Bauern in den damals zahlreichen „deutschen“ Dörfern dort heirateten alle untereinander.

mittenwalde 1794

Jetzt noch eine Denksportaufgabe für die der Geografie kundigen und die in der Messtechnik (nennt man da so bei der Landvermessung?) bewanderten Leser. Hier eine Karte von Mittenwalde aus dem Jahr 1794. Die ist nicht genordet und von einem preußischen Kataster-Beamten gezeichnet worden. Wenn man die mit der Karte von 1940 vergleicht, müsste man sehen können, ob dort schon im 18. Jahrhundert ein Hof stand? Ich suchte an der „Grenze mit Chrosna“, die dort handschriftlich eingezeichnet ist. Wenn die Leser meinen, dass der Hof damals aber in Krossen war, weil 1794 noch nichts zu sehen ist, muss ich noch mal eine andere Schriftrolle anfordern.

Viel Spaß mit diesem unpolitischen Thema!

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Kommentare

4 Kommentare zu “Mittenwalde – Dąbrowa Mała, reloaded”

  1. ... der Trittbrettschreiber am Oktober 10th, 2018 12:40 pm

    Der Fokus, lieber Burks, ist m.E. überhaupt nicht unpolitisch. Du hast den Aspekt des Generationen übergreifenden Unbewussten angesprochen. Wenn das stimmt, haben wir zu unseren Lebzeiten eine Menge damit zu tun, diese „Prägung“, wenn mir dieser Ausdruck gestattet ist, abzuarbeiten und in unser Bewusstsein modifiziert zu transformieren. Wenn das Dein Motiv zur Ahnenforschung ist, muss ich meine Meinung zu diesem mittlerweile wieder modern gewordenen „Hobby“ korrigieren, denn ich dachte bislang immer, dass man die Rückwärtsgewandtheit mancher Zeitgenossen einfach unhinterfragt hinnehmen muss. Danke für diese neue Perspektive.

  2. Der Wald ruft : Burks' Blog am Oktober 22nd, 2018 6:55 pm

    […] Bild (nach Westen fotografiert) habe ich vom einzigen Bauernhof aus aufgenommen, der heute noch in Dąbrowa Mała (dt. Mittenwalde) existiert (auf der alten Karte unter der […]

  3. Willy auf der Lok : Burks' Blog am Mai 9th, 2020 2:05 pm

    […] Großonkel Willy Schröder (15.08.1889 – vermutlich in Mittenwalde, Todesdatum [Suizid] unbekannt, lebte als Lokführer in Altenburg (Thüringen). Weiß jemand, was […]

  4. Mike Bartz am Januar 2nd, 2022 7:54 am

    Hallo Herr Burks.
    Es ist sehr interessant was Sie alles herausgefunden haben. Da mein Opa Berthold-Erwin Bartz 1916 in Mittenwalde geboren ist und meine Vorfahren dort gelebt haben,würde ich gerne mehr erfahren, ob es noch Bilder des Dorfes von damals gibt – welches Haus wäre das laut ihrer Skizze?

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