Revolt of the Poor
Ich empfehle ausnahmeweise ein Buch, das ich noch gar nicht ausgelesen habe. Christian Baron: „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ – über das Thema Eribons, ist aber besser und geht mehr auf die speziellen deutschen Zustände ein. Baron schreibt mit einem Furor, der mir ausnehmend gut gefällt. Er legt sich mit allen an: den „Gefühlslinken“, den Grünen, Veganern, Verteidigern des Islam, Fußball-Hassern; es bleibt kein Auge trocken und alle kriegen ihr Fett ab. Viel Freunde im „linken Milieu“ wird er jetzt nicht mehr haben. Das Gefühl kenne ich irgendwie…
Deutschland lässt sich dennoch nur als Klassengesellschaft begreifen. (Baron)
Frage: Warum wählen die Arbeiter Parteien, die nicht die Interessen des Proletariats vertreten? Die Frage wurde für Frankreich, Deutschland und die USA schon gestellt, aber nie beantwortet.
Deutsche Journalisten stammen fast ausnahmslos aus der Mittelschicht. Das bedeutet: Sie nehmen den Klassenstandpunkt der Mittelschicht ein – und nur den – und leugnen es gleichzeitig. Sie leugnen auch unisono, dass es Klassen gebe, und wenn doch, dann höchstens, was „Bildung“ angeht.
Das Buch konfrontiert die Leserin und den Leser mit verzweifelten Menschen, die nicht wissen, wie sie mitten in diesem schwerreichen Land ihre Kinder sattkriegen sollen; derer letzter Stolz aber darauf gründet, dass sie sich dennoch selbst zur Mittelschicht zählen. (…) Das Buch handelt auch von Menschen, deren Ohnmacht in diffuser Fremdenfeindlichkeit mündet und deren real empfundenen Ängste eine in Selbstgewissheit lebende Bildungselite einfach nicht zur Kenntnis nehmen will.
Ich glaube, dass es sehr schwer ist eine Perspektive einzunehmen, die über die der Klasse hinausgeht, in die man hineingeboren und in der man sozialisiert wurde. Das ist das Thema sowohl bei Eribon als auch bei Baron. Beide stammen aus dem Proletariat und sind „aufgestiegen“. (Beide sind als Trickster, sagt der Völkerkundler.) Für mich gilt das auch. Ich musste bei der Lektüre Borons ständig nicken – ich konnte alle seine Gedanken nach vollziehen.
Das Treten nach unten ist dennoch leider auch in linken Milieus auf dem Vormarsch. (Baron)
Ganz einfach: Weil diese „Gefühlslinken, auf die Baron eindrischt, eben meistens Kinder aus der Mittelschicht sind. Die können nicht anders. (Nmatürlich gibt es Ausnahmen.)
Warum müssen linke Akademiker so arrogant sein? (…) …was mir an so vielen linken Aktivisten mittlerweile so übel aufstößt: diese Unfähigkeit, aber oft genug auch eine start ausgeprägte Weigerung, die Perspektive völlig anders sozialisierter Menschen einzunehmen. (Baron)
Peter Nowak schreibt auf Telepolis: „Doch leider kann man ein Buch, das dieses Thema in den Mittelpunkt stellt, wohl kaum einem größeren Publikum verkaufen. (…) Dabei aber übersieht Baron, dass die theoretische Arbeit durchaus ein eigenes Feld ist und nicht immer und von allen gleich verstanden werden kann und muss.“
Das ist Unfug, Kollege Nowak. Wer sich nicht so ausdrücken kann, dass ein normaler Mensch ihn versteht, muss an sich arbeiten – wenn es um Politik und Ökonomie geht. Wer nicht verständlich schreiben kann, denkt auch wirr. Marx, Brecht und Freud haben Kompliziertes so formuliert, dass man es versteht, wenn man nicht ganz bekloppt ist. Proletarier sind eben nicht dumm. Ich habe viele Arbeiter und Gewerkschaftler kennengelernt, die gebildeter also heutige Studenten waren und auch mehr wussten. Mehr Lebenserfahrung hatten sie sowieso.
Selbsthass kennzeichnet viele aus der Unterschicht, während die Mittelschicht das Radfahrer-Prinzip anwendet: Nach oben buckeln und nach unten treten. Die Oberschicht verfügt als Einzige über das, was man früher als „subjektives Klassenbewusstein“ bezeichnet hat. Ihre Aufgabe sieht sie darin, eigene Privilegien zu sichern und Unfrieden unter den Lohnabhängigen zu stiften. (Baron)
Einen gewaltigen Shitstorm wird Baron auch für seine These ernten: „Multikulti ist gescheitert“. Das habe ich schon in „Nazis sind Pop“ vor 16 Jahren gesagt, und auch damals wollte es niemand hören, obwohl es eine Kritik aus einer radikal linken Perspektive war.
Linke verirren sich nur selten in soziale Brennpunkte. Und wenn doch, dann meiden sie den Kontakt zum „white trash“ und wenden sich – was allein natürlich unterstützenswert ist – den dort lebenden Flüchtlingen zu.
Har har. Jemand, der das in der „Taz“ schriebe, würde sofort sozial geächtet und in Zukunft totgeschwiegen. Es ist aber bezeichnend und wahr.
Leider hat die Linke die Religionskritik den Rechten überlassen. (Baron)
Das erinnert wieder an Frankreich, wo sich die rechte Front National als Verteidigerin des Laizismus aufspielen kann – leider zu Recht: Vertreter der Linken eiern beim Thema oft nur elendlich herum.
Und was ist mit dem Rassismus? Die Jungle Word lässt Tuvia Tenenbom zu Wort kommen, der wie gewöhnlich den argumentativen Knüppel dem Degen vorzieht:
Man könnte durchaus von einer »revolt of the poor« sprechen. Das erste Mal in der Geschichte der USA stand mit Donald Trump ein Kandidat zur Wahl, der rassistische Äußerungen von sich gab und all den Rassisten ein Sprachrohr war. Er lieferte einen Tabubruch nach dem anderen. Hat es die Leute gestört? Nein. Man war dankbar, dass das Diktat der Political Correctness durchbrochen wurde. Besonders in New York hat dieser Irrsinn dazu geführt, dass alles furchtbar berechenbar und harmlos geworden ist. Schwarze heißen dort »Afroamerikaner«, Europäer »Kaukasier« und Obdachlose nennt man »anders Ausgestattete«. Alle müssen sich andauernd lieb haben. Und dann kommt einer, der endlich mal sagt: »Ich habe nicht alle lieb.« Es geht also um zwei Dinge. Einerseits gibt es die Revolte von denen, die sich durch die Regierung im Stich gelassen fühlen, andererseits die Leute, die dankbar dafür sind, dass sie endlich wieder sagen dürfen, was sie wirklich denken.
Ein wunderbares Beispiel linker Arroganz ist übrigens D. Watkins auf Salon.com: „Dear hard-working white people: Congratulations, you played yourself“. Was er über den Rassismus und die ultrarechten Unterstützer Trumps feststellt, ist natürlich richtig, aber die Wähler Trumps zu beschimpfen, hilft nicht wirklich weiter. Baron hat dazu eine sehr interessante Formulierung, die ähnlich auch eine der zentralen Thesen Eribons ist:
Eine Gesellschaft von finanzieller und kultureller Teilhaben an ihrem unermesslichen Wohlstand systematisch ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn diese ausgeschlossenen im Übertreten bürgerlicher Wertvorstellungen ihr letztes Refugium widerständigen Verhaltens und damit eine Art letzter Restwürde zu finden hoffen,“
Demnächst noch mehr dazu in diesem Online-Theater.
Kommentare
16 Kommentare zu “Revolt of the Poor”
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Der Anfang des letzten Fünfzeilers könnte überarbeitet werden, woraufhin er auch gut lesbar und eindeutig zu verstehen wäre(hoffentlich).
„[…] ein Buch, dass ich noch gar nicht ausgelesen habe.“
Es muss „das“ und nicht „dass“ heißen.
@Udo
Ich weise hier auf die textimmanente Dramatik hin:
Ein Buch! (verflixt) dass ich noch nicht ausgelesen habe(verhindert, dass ich dieses eine Buch noch nicht lesen kann).
Wie man sieht, kann man jeden Mumpitz, sei er grammatisch oder politisch so hindrehen, das die herrschende Klasse (bei uns war es die 8b) recht hat.
“ dViel Freunde im „linken Milieu“ wird er jetzt nicht mehr haben.“ Das stimmt wohl.
http://jungle-world.com/artikel/2016/44/55130.html
http://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/mark-lilla-ueber-unser-reaktionaeres-zeitalter-wenn-nostalgie-die-zukunft-frisst-ld.129502
Bedient burks etwa „das Narrativ der reaktionären Linken“??
http://www.rosalux.de/event/57001
Bei „Proleten, Pöbel, Parasiten: […]“ hatte ich auf eine erkenntnisreiche Lektüre gehofft. Aber nach 53 Seiten ununterbrochenem Gejammers über seine Minderwertigkeitskomplexe macht es mir der Autor Christian Baron echt schwer weiter zu lesen. Mein persönlicher Werdegang ist recht ähnlich zu seinem, seine geschilderten Erlebnisse sind mir auch nicht unbekannt. Aber der ständig präsente jammernde Unterton und die Schlußfolgerungen die er aus dem Erlebten zieht, bedienen für mein Verständnis hauptsächlich Klischees und die Drähnendrüse.
Kommt da noch irgendeine spannende Erkenntnis, lohnt es sich, dass ich mich noch durch die nächsten ca. 220 Seiten kämpfe?
Ich habe wenige Beiträge gelesen,die unsere gegenwärtigen Probleme so gut auf den Punkt bringen.
Vor allem stellt dieser Beitrag die richtigen Fragen zur Zeit. „Gefühlslinke“ scheint mir ein passender Ausdruck. Das Buch zumindest kommt auf die bekannte Dodo-Liste – nein ToDo wars ja.
[…] Sahra Wagenknecht scheint Christian Baron und didier Eribon gelesen zu […]
[…] Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten habe ich jetzt durch, ich wiederhole meine Leseempfehlung. Der wird nicht gut besprochen, weil die, die das tun (könnten), genau die Klientel ist, die er […]
[…] sollte der Autor dieses Geschwurbels, der aus dem gern psychologisierenden Kleinbürgertum stammt, Christian Baron lesen. (O je, ich mache mir wieder zahlreiche neue […]
[…] im „Neuen Deutschland“ las und suchte dann nach dem Namen des Autors – und wunderte mich nicht mehr. Etwas verschwurbelt geschrieben, aber genau die richtigen Fragen […]
[…] (Burkhard Schröder: Im Griff der rechten Szene, 1997). Man muss nur, wenn man Eribon und Baron gelesen hat, „der Jugend“ […]
[…] Christian Baron: „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten) ich hier schon lobend […]
[…] Die Arroganz der marginalisierten Mittelschichten und die Abneigung gegen körperliche Arbeit, weil die vom Mainstream geringer geschätzt wird? Weil die Linken die Arbeiter verachten? […]
[…] Revolt of the Poor (Burkhard Schröder – 21.11.2016) […]