Unter Schtieseln

konfirmation NAK
Meine Konfirmation 1966 oder 1977. Ein grandioses Foto, das meine Kindheit anschaulich zusammenfasst. Alle außer mir sind schon tot. Von links nach rechts: Meine Tante Leni (Hausfrau, neuapostolisch und Ehefrau eines Priesters/Laienpredigers der NAK), mein Vater Kurt (Bergmann, später kaufmännischer Angestellter, Priester in der NAK), meine Oma Caroline Baumgart (Hausfrau, neuapostolisch), neben mir mein Opa Hugo Schröder (Bergmann, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK), vorn rechts mein Opa Peter Baumgart (Bergmann, Priester der NAK), ganz rechts mein Onkel Otto Mey (Bahnangestellter, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK). Leni war die Tochter meines Onkels Otto.

Jetzt brüllen auch in Dresden die Muezzine herum. Ein Fall für Arthur Harris? Die Weltläufte geben zur Zeit nichts Überraschendes her. Daher darf ich – das Einverständnis des Publikums vorausgesetzt – einen Besinnungsaufsatz schreiben eine religionssoziologische Studie verfassen.

Vorab sollten einige anthropologischen Fragen geklärt werden.

Warum tragen alle Männer schwarze Anzüge, der Konfirmand eingeschlossen? Ein normaler Anzug, aber ganz in schwarz, ist die „Uniform“ der „Geistlichen“ in der NAK. Niemand hat eine theologische Ausbildung, und sie machen trotzdem das, was Pfaffen so tun. Und da das funktioniert, ist das für sie ein „Beweis“, dass der Heilige Geist aus ihnen spricht. Der „Straßenanzug“ soll genau das zeigen.

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt. (Karl Marx) Die protestantischen Sekten ebnen die Hierarchie zwischen Glaubensvolk und Paffen konsequent ein. Jeder (Mann) kann alles sein und werden. Mein Opa Peter konnte, als er 1918 nach Deutschland kam, weder richtig lesen noch schreiben. Prediger wurde er trotzdem.

Was machen die da, und wo sind die anderen Frauen? Natürlich wurde immer und permanent und ausschließlich über die Bibel (liegt auf dem Tisch) und religiöse Themen geredet. Frauen mussten die Klappe halten und wurden dabei nur geduldet. Meine Oma Caroline widersetzte sich dem unausgesprochenen Verbot – sie gesellte sich zu den Männern, sagte aber nichts, sondern hörte nur zu. Ich durfte auch nichts beitragen, ich war noch zu jung.

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.“ (Paulus, 1. Brief an die Korinther 14, 34)

Wiederholt sich das nicht alles unendlich oft? Nein, die „theologischen Themen“ wurden mit persönlichen Geschichten angereichert. Wie sich ein ostpreußischer Bauer mit dem Teufel verschworen hatte und mein Onkel Otto, der aus Gumbinnen stammte und in seiner Jugend als Bauernknecht arbeitete, ihn überlistete, mit Gottes Hilfe. Wie meinem Vater in einem Hohlweg in Holzwickede der Geist eines Selbstmörders erschien. Wie ein „Apostel“ der NAK in Opherdicke den Geist eines Selbstmörders vertrieb, der dort in einem Haus herumspukte. Wie Onkel Otto im 1. Weltkrieg ganz allein und mit Gottes Hilfe mehr als ein Dutzend Franzosen gefangen nahm und dafür einen Orden bekam. Wie mein Opa Peter in Russland während der Revolution zu Tode verurteilt wurde und aus dem Gefängnis floh, mit Gottes Hilfe.

Wie informierte man sich über die Weltläufte? Information wird überschätzt. Fernsehen war verboten. Radio eigentlich auch – mein Opa Hugo hat das bis zum Lebensende konsequent durchgezogen. Mein Opa Peter aber hatte ein Radio, weil er aus dem damals russischen Polen stammte und Russisch verstand und hören wollte. Die „Welt“ – also known as Babylon – brauchte man nicht, und man sollte sie auch meiden. Tanzstunde oder Disko? Verboten? Kirmes oder Schützenfest? Verboten. Freundschaften mit Leuten, die nicht neuapostolisch waren? Verboten, vor allem für Kinder von „Amtsträgern“ – wie mich. Bücher? Sind gefährlich. Mein Opa Hugo riet meinen Eltern, mich nicht auf ein Gymnasium zu schicken. Kino? Verboten. Meine Mutter erzählte mir noch gestern, wie sich sich als junges Mädchen in Hamm heimlich einen Kinofilm ansah und dabei ein fürchterlich schlechtes Gewissen und viel Angst hatte, Gott (der bei den Neuapostolischen meistens „der himmlische Vater“ genannt wird) würde sie dafür bestrafen. Die Verbote mussten gar nicht ausgesprochen werden. Man wusste einfach, was zu tun und zu lassen war.

Und jetzt zur religionssoziologischen Studie. Kann sich das Publikum vorstellen, warum mir Filme wie Shtiesel, Unorthodox oder Rough Diamonds (empfehlenswert!) „unheimlich“ bekannt vorkommen und warum mir die oft ein beklemmendes Gefühl erzeugen, das sich gleich verwandelt in das Bedürfnis, in diese Milieus hineinzufahren wie der Teufel unter die armen Seelen und alles auszuräuchern?

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Kommentare

9 Kommentare zu “Unter Schtieseln”

  1. ... der Trittbrettschreiber am April 24th, 2023 5:00 pm

    ;-)… diese „Welt“ ist ein Tempel – Zeit, ihn aufzuräumen.

    https://putz-zeit.de/

  2. nh am April 24th, 2023 5:05 pm

    Zucht und Ordnung !
    Wie es sich damals gehörte. Bei der Feier zu meiner selbst wurde gesoffen, geraucht und zotiges dargebracht. Da lag keine Bibel auf dem Tisch, da standen Pullen Mariacron und Pfirsichlikoer für die Weiber auf dem Tisch. Und Zigarren geraucht wie die Schlote.
    Der ev. Pastor war nicht zugegen, hatte sich wohl eher den deliziöseren Gelagen der oberen Schichten verschrieben, wie das nun mal so ist, verlogen wie gehabt.
    Ich hab mir am nächsten Morgen die Neigen der Flaschen und Gläser reingekippt, eine Zigarre probiert und dann war mir kotzübel.
    Eine herrliche Zeit Erfahrungen zu sammeln.
    -Theologie ist Schund
    -von sog. Obrigkeiten gesetzte Normen sind nicht den Pfifferling wert, den sie aus „weisen“ Büchern rezitieren.
    -das ganze religiöse Gehampel ist fürn Arsch.
    Später kurz nach Kirchenaustritt ein Brandbrief, zwischen Bettelei und Verdammung.
    Was eine arme Sekte.
    Heutzutage grünlinks unterwandert und das passt wie der Eimer auf den Arsch.
    Jedes Quartal fliegt hier ein Heftchen rein,das Kirchenmagazin.
    Politisch auf Linie verbrämt mit Bibelsprüchen.
    Ich nenne es das Lachblatt.
    Und Spenden soll man auch noch, für die Teeküche, den Parkplatz, den Vorgarten.
    Aber selbst den Kirchturm für haste nicht gesehen restaurieren lassen, das hat mit Geruesten und Handwerkern über 2 Jahre gedauert.
    Naja, wer sich von denen vollverarschen lässt-kein Mitleid. Jetzt gross in der Migrationsindustrie weil jeder MUFL ca. 5-7k im Monat bringt.
    Soll schon Ehen geben zwischen einer geriatrischen und einem lt. Papier 13-jährigen. Viel Spass !!!
    Und die Grünen freuen sich.
    Widerspruch wird und wurde nicht geduldet-
    ES STEHT GESCHRIEBEN !!!
    Na, da halt ich doch mal die BLÖD hoch und verweise auf Qualitätsjournalismus, der heutzutage nur von Faktencheckern, Volksverpetzern des ÖRR verblasen wird.
    Jeder lügt dem anderen in die Tasche und verkennt dabei wie alles den Bach runtergeht.
    Bidens Nomenklatura freuts.

  3. nh am April 24th, 2023 5:15 pm

    Das muss eine schlimme Jugend gewesen sein.
    Aber das hatten wir an anderer Stelle schon einmal.
    Ein Wunder dass Du nicht ausgetickt bist.
    Als Kind hart arbeitender „Underdogs“ aka Handwerker hatte ich ein halbwegs erfülltes Leben mit allen Abenteuern, die dieses mit sich bringt.
    Und ich habe es in vollen Zügen genossen, frei zu sein und jeden Scheiss zu bauen der uns einfiel.
    Hosianna !!!

  4. Juri Nello am April 24th, 2023 5:19 pm

    Orthodoxes Judentum dürfte dabei Parallelen aufweisen können.

    Die Frage ist, was Du damit denkst zu bewirken?

    Du hast für Dich einen besseren Lebensweg gefunden, andere können das ggf. auch. Aber die Motivation muss von einem selbst kommen.

    Man sollte nicht unterschätzen, dass nicht gerade wenig Leute Kraft aus dem Glauben schöpfen und damit ggf. sogar ihre zerrüttete Ehe & Familie aufrecht erhalten. Das mag nicht schön sein, aber wenn man bedenkt, dass die meisten Morde in der Partnerschaft und in der Familie passieren, scheint es zumindest nützlich zu sein.

    Man kann nur versuchen, den Leuten die Augen zu öffnen. Auch da sollte man wissen, bei wem man das tut. Nicht wenige sehen dann nur ihr Leben in Schutt und Trümmern und richten sich dann selbst.

    Es ist immer die Frage, was das größere Problem ist.

  5. admin am April 24th, 2023 5:19 pm

    Ich habe das nicht als schlimm empfunden. Man lernt, den Mainstream zu ignorieren :-)

  6. admin am April 24th, 2023 5:21 pm

    Was ich bewirke, sollte das Publikum besser wissen als ich. :-)

  7. ... der Trittbrettschreiber am April 24th, 2023 5:46 pm

    … und nun noch mal qualitätsjournalisitsch genaseweist:

    Im Uhrzeigersinn:
    – Tante Leni (Hausfrau, neuapostolisch und Ehefrau eines Priesters/Laienpredigers der NAK), Leni war die Tochter meines Onkels Otto.
    – Burks als Jungspund.
    – Opa Peter Baumgart (Bergmann, Priester der NAK),
    – Onkel Otto Mey (Bahnangestellter, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK).
    – Opa Hugo Schröder (rücklings), (Bergmann, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK).
    – Burksens Vater Kurt (Bergmann, später kaufmännischer Angestellter, Priester in der NAK),
    – Oma Caroline Baumgart (Hausfrau, neuapostolisch).

    https://www.youtube.com/watch?v=WDrqTkWBVro

  8. Schildkröte am April 24th, 2023 11:10 pm

    Eine prominente Runde. Links Willy Brandt, rechts außen Max Horkheimer und in der Ecke Herbert Marcuse. Die Frau ist mir fremd.

  9. ... der Trittbrettschreiber am April 25th, 2023 5:48 am

    @Schildkröte

    Das Foto hat sicher Hannah Arendt gemacht – und ganz klar Agatha Christie im Fokus gehabt.
    Was solls – bekommt man immer, was man will?

    Jaa, Herr Ober. Noch eine von diesen Pullen mit dem Zisch.

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