Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt

brief

Leider muss ich das Publikum mit einem Luftpostbrief belästigen, den ich vor 45 Jahren aus Südamerika an meine Eltern geschrieben habe, 17 Seiten auf hauchdünnem Papier (um Porto zu sparen: Aerogramm). Ich werde immer noch schamrot, wenn ich lese, was für einen Unsinn ich damals meinte von mir geben zu müssen. Man kann das nicht unkommentiert lassen; manches ist auch schlicht falsch. Die Rechtschreibung habe ich nicht verändert. Einiges ist doppelt (hier schon einmal erwähnt), weil ich damals nicht wusste, ob die Briefe überhaupt ihr Ziel erreichen würden.

Wie ich hier schon schrieb: Die Adressaten wussten fast gar nichts über die Länder Südamerikas oder auf dem Niveau des Bertelsmann Volkslexikons. Für mich wird es interessant, wenn ich meine heutige Sicht mit der von damals vergleiche oder mit den Briefen, die ich 1984 bei meiner dritten halbjährigen Reise schrieb – die waren ganz anders, aber auch nicht so, wie ich heute schreiben würde.

Vermutlich werden sich die Nachgeborenen auch nicht mehr vorstellen können, dass man überhaupt Briefe schrieb. Heute steht man von überallher ständig in Kontakt und schreibt zudem die sozialen Medien voll. Beim Verfassen des Briefes war ich drei Monate unterwegs gewesen und hatte die USA, Mexiko, Belize, Guatemala, Honduras, Kolumbien und Ecuador gesehen und war quer durch Peru gereist. Ich hatte keinen Reiseführer, und meine Kenntnisse über die Länder beschränkten sich auf Allgemeinbildung und Karl May. Schon witzig, dass ich mich damals – nach der Hälfte der Reise – als „erfahren“ fühlte. „Erfahren“ hätte ich mich vielleicht am Ende der 2. Reise 1980, die zum Teil viel abenteuerlicher und auch gefährlicher war, fühlen können.

Cuzco, [richtig: Cusco] 21.1.1980 (angekommen 2.2.80)

Liebe Eltern!
Leider weiß ich nicht, ob meine Briefe bisher angekommen sind, weil ich seit Kolumbien keine Post mehr bekommen habe (Anf. Nov.). Der letzte Brief ist in Quito, Ecuador, losgegangen, und seitdem ist sehr viel passiert und wir haben sehr viel erlebt. Zunächst einmal: Uns geht es ausgezeichnet, gesundheitlich wie stimmungsmäßig, finanziell wie üblich knapp.

Heute sitzen wir in einem kleinen Café in Cuzco im Süden von Peru und hören zum 2. Mal seit 4 Monaten Klassik – Tschaikowsky, und sind ganz glücklich nach den ewigen Schnulzen hier. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie begeistert wir über kleine Dinge sein können – ein bisschen europäische Musik, eine funktionierende Dusche (seit Quito habe ich nicht richtig heiß geduscht!) oder eine deutsche Zeitung. Seit Berlin gab es kein Schwarzbrot mehr, an Fleischsalat kaum zu denken – aber das sind Kleinigkeiten.

Von Quito sind wir eine Woche im Urwald von Ecuador gewesen – in einem kleinen Dorf gab es eine Anakonda als Haustier im „Hotel“. Bootsfahrten über Dschungelflüsse, schreiend bunte Papageien + Schmetterlinge + Stromschnellen, die uns manchmal Angst einjagten.

Stellt euch z.B. vor, man fährt 8 Std. mit einem urtümlichen Gerät von Bus zwischen Hühnern, Schweinen und viel zu viel Passagieren über Schotterpisten durch die Anden, durch Pässe von 5000m Höhe (!), und plötzlich reißen die Wolken auf und 1000m weiter unten dunkelgrüner Dschungel bis zum Horizont – und der Bus braucht 3 weitere Stunden über endlose Serpentinen nach unten. Ab und zu sind die Brücken über die Flüsse eingestürzt und man muß Stunden warten, bis die Fähre kommt. Nach einer Nacht Regen führen die Flüsse so viel Wasser und sind so reißend, daß sogar Stahlbrücken einstürzen – wir haben eine gesehen!

Im Süden von Ecuador waren wir in einem kleinen Ort – Banos (d.h. „Bäder“), der direkt unter einem noch tätigen Vulkan, d. Tungurahua, liegt und wo es heiße Schwefelquellen gibt, in denen wir gebadet haben. Wir hatten nichts besseres zu tun, als den Vulkan zu besteigen– eine 3-Tage-Tour mit leichtem Gepäck. Zuerst ging es zu einer Hütte auf 3600m Höhe – eine unbeschreiblich schöne Pflanzenwelt gibt’s dort oben – Heidekraut, Krüppelkiefern mit Moosen und Flechten bewachsen, die bis auf den Boden hängen, unzählige bunte Blumen und dazwischen Nebelschwaden.

Das Schönste war der Sonnenaufgang mit Fernsicht über 150 km und Blick auf mehrere schneebedeckte 6000er Vulkane, u.a. den Chimborazo, den höchsten Vulkan der Welt. Ich bin dann noch weitere 5 Std. hoch über Geröll, Felsen und Gletscher bis zum Vulkankrater auf 4800m (der Gipfel liegt etwas über 5000 und ist nur für Bergsteiger mit Ausrüstung begehbar). Sehr komische Gefühle bekommt man, wenn überall aus den Ritzen und Spalten heiße Dämpfe aufsteigen!

Wenn ich alles schreibe, was wir erlebt haben, wird der Brief zu lang, also nur einige Episoden.

Ferrocarriles Ecuatorianos
Das Foto habe ich 1979 an der Bahnstrecke zwischen Guayaquil (eigentlich Durán) und Quito gemacht. Zuerst veröffentlicht 15.03.2023.

– Eisenbahnfahren in Ecuador ist lustig – auf der Strecke von Riobamba nach Guayaquil an der Küste fährt ein Pullman-Zug aus der Jahrhundertwende, mit knallrot angestrichenen Holzwaggons und einer ebenso putzigen Dampflok, die keuchend die Anden rauf und runter schnauft, wie im Wilden Westen! Der Zug hält in den Dörfern wie eine Straßenbahn mitten auf der Straße, und ringsum Holzhäuser mit Saloon, ein wahnwitziges Getümmel von Leute und Pferden. Ihr braucht euch nur mal einen Wildwest-Film anzusehen – es staubt sogar genauso.

Dann ging unser Geld fast aus und wir mußten nach Lima, Peru. Wir sind die ganze Strecke von von Guayaquil, Ecuador, bis Lima, Peru, an einem Stück gefahren, 57 Stunden Transport auf Zementlastwagen und Busfahren mit Reifenpannen.

Der Küstenstreifen von Peru (über 1300km!) ist eine Sandwüste wie in der Sahara – bis zum Horizont nur Sand, Sand und noch mehr Sand mit riesigen Wanderdünen und Oasen mit Palmen [Die Strecke habe ich 1984 fotografiert]. Wir lagen nachts hinten auf der Ladefläche eines Lasters, sahen einen unbeschreiblich schönen Sternenhimmel, ringsum Sandwüste, und der Wagen rauscht mit einer Staubwolke die Straße entlang. Wir sahen allerdings aus wie die Räuber, ein Tuch vor dem Gesicht, Bartstoppeln – ich hatte leider Durchfall und mußte in den Oasen mitten auf dem „Bürgersteig“ (morgens um 1/2 5 war zum Glück keiner auf der Straße – nur die Dorfhunde guckten ganz interessiert). Die letzten 24 Stunden hatte wir die Nase voll und sind mit dem Bus gefahren.

Lima, die Hauptstadt von Peru, hat wenig Sehenswürdigkeiten zu bieten, wenn man in die Außenbezirke fährt, sieht es aus wie nach einem Bombenangriff, alles total zerfallen, Slums, bettelnde Kinder, alles total verdreckt – vielleicht kann ich durch Fotos einen Eindruck verschaffen. Peru ist ein sehr armes Land. Ich glaube, 4 oder 5x so groß wie Deutschland, nur 20 Mio. Einwohner [heute 34,4 Mio.], allein 6 Mio. in Lima, also ziemlich „leer“. Die gutgestellten Bauern verdienen ca 100 DM im Monat!

Wir brauchten inklusive Hotels, Restaurants + Andenken jeder 400 DM in 5 Wochen, so billig ist es hier! Ein Essen mit Suppe und Getränk kostet 1.20 DM, allerdings ist die Qualität nicht mit Europa zu vergleichen, aber hier gibt es eben nichts! Die Bauern ziehen alle in die Stadt, weil sie glauben, mehr verdienen zu können – dabei stimmt das überhaupt nicht. Ganz Lima ist voll vom fliegenden Händlern, die buchstäblich alles verkaufen – unbeschreiblich – vor Weihnachten war die Hölle los.

Nach Lima sind wir mit der höchsten Eisenbahn der Welt (über 4.800m!) [heute nur noch die höchste Eisenbahn in Amerika] zu einer Landkooperative gefahren, d.h. eine ehemalige amerikanische Hazienda, die enteignet wurde und von den Bauern kollektiv bewirtschaftet wird. Die Leute sind unglaublich gastfreundlich – Touristen aber auch so gut wie unbekannt. Wir wurden bei einer Familie zum Essen eingeladen – der Mann ein sonnengebräunter Indio, der uns zur Begrüßung umarmte, seine Frau ganz dick mit 4 oder 5 Röcken, langen schwarzen Zöpfen und einem großen weißen Hut (d.i. hier die Tracht und auch oder gerade die alten Frauen sehen alle sehr hübsch aus) und zum Essen gab es —drei Meerschweinchen! Wenn man nicht daran denkt, schmeckt es gut, nur wenig Fleisch, aber bei der Armut verständlich, daß die Leute zu Tieren ein anderes Verhältnis haben als wir. [Es existierte ein Fotos dieses Mahls, aber ich habe es weder veröffentlicht noch gefunden.]

Rente oder Versicherung gibt es nicht, die alten Leute leben von ihren Kindern – und ihr könnt euch vielleicht denken, mit welchen Gefühlen wir uns verabschiedet haben. Sie entschuldigten sich dafür, daß sie so „schlecht“ vorbereitet gewesen waren – dabei hatten sie selbst kaum etwas zu essen.

Wir haben hier (die Kooperative nennt sich SAIS Tupac Amaru, das heißt so viel wie „landwirtschaftliche Interessengemeinschaft“ – Tupac Amaru ist ein Indio, der vor 200 Jahren den Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier angeführt hat und dafür gevierteilt worden ist) vieles über die Verhältnisse in Peru erfahren.

Nach 4 Tagen sind wir dann langsam weiter in den Süden Perus, haben malerische Indiomärkte besucht, einen 45-Std.-Horror-Trip mit dem Bus von Ayacucho nach hier über 5000er Pässe, Fernsicht aus dem Bus wie von einem Schweizer Alpengipfel, Lamaherden auf kahlen Hochebenen, bitterarmen Hirtenkindern und 8stündigem Steckenbleiben des Busses im Schlamm (hier ist Regenzeit, d.h. aber, es regnet nur nachts oder nur ein paar Stunden täglich, sonst scheint die Sonne.)

zeichnung

Unser Bus, links ein liegengebliebenes Auto (in einer Kurve!), rechts 700m Schlucht. Oben ca. 20 Hühner, ein Schwein, hinten in einer Klappe ein Schäferhund, ca. 70 Gepäckstücke auch noch auf dem Dach – und alle Passagiere mussten beim Überholmanöver aussteigen, damit es im Falle eines Absturzes nur 1 Toten gegeben hätte!!! Die „Straße“ nur Schotter und Schlamm. Mir wurde es recht mulmig.

Jetzt mal was über die letzten 2 Wochen. Cuzco im Süden ist die alte Hauptstadt der Inkas, deren Reich von den Spaniern im 16. Jahrhundert zerstört wurde. Ihr müsst wissen, daß ca. 3/4 der Bevölkerung Perus Indos sind, d.h. Nachfahren der Inkas, die kaum Spanisch sprechen, sondern Quechua, eine uralte Sprache, die eigentlich gar nicht in schriftlicher Form existiert. [Der Unterschied zwischen dem Quechua der Inka-Zeit und dem von heute ist so groß wie der zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch.] Ich habe mal ein bisschen gelernt, es ist aber so schwer wie Chinesisch. Z.B. heißt „Feind“ in Quechua „auca“. Die Aucas [sie heißen Huaorani – nur die Inka nannten sie Auca – im Sinne von „Barbaren“] sind ein Indiostamm im Dschungel von Ecuador. Das Inkareich erstreckte sich im 16. Jh. von Quito, Ecuador bis nach Chile! Die Inkas kannten das Rad nicht, haben aber 6m breite Straßen gebaut von Cuzco nach Quito, über 5000km lang! Alle paar Kilometer gab es kleine „Raststätten“ für die Läufer (Pferde gab es nicht) mit Bädern.

Die Inkas hatte nur einen Fehler – sie waren friedfertig [das ist natürlich totaler Unsinn!] und besaßen haufenweise Gold – und die Spanier mit ihrer europäischen „Kultur“ haben alles kurz und klein geschlagen. Die Landwirtschaft heute ist auf einem niedrigeren Stand als damals, weil die Inkas Terrassenanbau bis auf 4500m Höhe betrieben haben, heute ist alles verfallen. So, das zur Einführung für das Folgende.

Die Häuser von Cuzco sind noch auf den alten Inkamauern gebaut – d. sind teilweise Felsbrocken bis 30 Tonnen (wie haben die die ohne Maschinen bewegt?), die so miteinander verfugt sind, daß man an einigen Stellen kein Messer dazwischen stecken kann – und ohne Mörtel! Obendrauf stehen viele spanische Kolonialkirchen, die aber bei den verschiedenen Erdbeben wegen der „fortschrittlichen“ europäischen Bauweise fast alle zusammengefallen sind, während die Inkabauwerke noch alle stehen.

Die berühmteste Sehenswürdigkeit Südamerikas ist die alte Ínkastadt Machu Pichu, ca. 120km von Cuzco in den Bergen – ich glaube, irgendwer in der Verwandtschaft hat eine Postkarte mit Machu Pichu bekommen. Man kann mit einem Zug hinfahren, wir sind nach 88km aufgestiegen (Hartmut + ich + und noch ein Belgier) und haben uns mit Rucksack, Zelt, Gaskocher, Haferflocken, Wasserflasche, Kaffee, Milchpulver, Schlafsack + Kleinigkeiten in die Berge geschlagen. Es gibt die letzten 33km vor Machu Pichu eine alte Inka“straße“, eben weil die Inkas keine Fahrzeuge kannten, haben sie ihre Wege per Luftlinie in die Berge gebaut.

Wir haben für die Strecke 5 Tage gebraucht, der 1. Pass war über 4200, der 2. 3800, der 3. 3500m, aber das war mit mein schönstes Erlebnis in Südamerika, aber auch sehr anstregend. Nachts haben wir meist in halbverfallenden Inkaruinen übernachtet, die alle hoch auf den Gipfeln sind – und jeder Sonnenauf- und -untergang war überwältigend – die 6000er Kordilleren Perus im Hintergrund. Teilweise sind die Wasserleitungen der Inkas noch heute in Betrieb, obwohl sie seit 400 Jahren nicht mehr erneuert wurden, und wir konnten uns mit eiskaltem Gebirgswasser waschen und hatten was zum Kochen.

inca trail
Aufstieg am Morgen im Nebel, ca. 4.000 Höhenmeter, auf dem so genannten „Inca trail“ oder auch camino de los Incas nach Machu Picchu, Peru. Das Foto zeigt meinen damaligen Reisebegleiter (Januar 1979). Zuerst veröffentlich am 02.04.2021.

Dabei gibt es keine Dörfer, kein Haus, nichts als Gegend! Hier im Gebirge ist außerdem gerade Frühling, leider kann ich die Orchideen, die hier wie Unkraut wachsen, nicht mitbringen!

Leider können die Fotos nicht viel vom Eindruck vermitteln, z.B. die vorletzte Nacht – nur ein Beschreibungsversuch. Wir sitzen alle an einem Lagerfeuer in einer Inkaburg, ein Sternenhimmel wie im Bilderbuch, 750m weiter unten fast senkrecht in einer Schlucht ein reißender Fluß (Rio Urubama), steile Hänge, von tropischer Vegetation überwachsen (auf 3000m Höhe! Schneegrenze bei 4000-4500m), Unten verschwindet die Sonne gerade noch hinter der „Veronica“ (über 6000m!), rechts rauscht ein Wasserfall, das Feuer flackert über dem Gemäuer, wir essen Haferflocken und stellen uns vor, wie alles vor 500 Jahren ausgesehen hat. Überall auf den Ruinen blühen Orchideen, die Fotos müssten ein bißchen von dem Eindruck wiedergeben können.

Am 6. Tag sind wir bei Sonnenaufgang vom „Sonnentor“ (2700m) einen alten Pfad runter nach Machu Pichu, um ein paar Stunden ohne Touristen ruhig alles besehen zu können (die kommen mit dem Zug um 10 und werden mit Bussen über eine halsbrecherische 8km-Serpentinenstrecke nach oben gekarrt). Leider ging ausgerechnet da mein Fotoapparat kaputt (ist schon wieder repariert), aber unser belgischer Freund hat einen besseren und wir werden die Fotos tauschen bzw. ihm abkaufen [was nicht passiert ist, aber ich habe Machu Picchu dann 1984 fotografiert].

Machu Pichu ist von den Spaniern zum Glück nicht entdeckt worden und so noch ziemlich erhalten, hoch über dem Tal, aber zwischen noch höheren Bergen (die Berge sind so steil wie in den Dolomiten, aber mit Regenwald bewachsen). Die Stadt ist sehr geheimnisvoll, man weiß eigentlich nichts über ihre Funktion. Man hat hier über 100 weibliche Mumien [gemeint sind Skelette] gefunden, warum nur Frauen, weiß man auch nicht, vielleicht waren es Priesterinnen, vielleicht waren die Inkas matriarchalisch organisiert, vielleicht waren die Männer im Kampf gegen die Spanier gefallen?

Ich werde alles besser erzählen, jedenfalls als die ersten Touristen kamen und und verwundert anstarrten, waren wir schon wieder auf dem Marsch die Serpentinen runter zur Bahnstation. Eisenbahnfahren in Peru ist noch abenteuerlicher, aber auch etwas unangenehm, weil die Züge fürchterlich überfüllt sind, für europäische Verhältnisse unvorstellbar. 3 Personen auf einem, Sitz, jede Indiofrau hat einen Riesensack dabei, auf dem Gang steht, liegt und sitzt alles, Kinder schreien, fliegende Händler verkaufen Früchte, Schnaps (Chicha aus Mais, schmeckt so wie Alsterwasser, aber ein bißchen besser, ein Glas kostet 10 Soles, 1 DM=145 Soles) und Gebäck und zu allem Überfluß klettert der Schaffner über alles hinweg. Bei jeder Station gibt es ein Drama, Trauben von Leuten hängen draußen an den Türen, die Frauen kreischen und heulen – jeder deutsche Bahnangestellte würde einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen kriegen. Fahrpreise 100km =1 DM!

Aber für Normaltouristen sind solche Touren unmöglich, aber so kriegt man mit, wie die Leute hier wirklich leben. Es gibt einen „Touristenzug“ nach Machu Picchu, der 3000 Soles kostet, der Normalzug kostet 270, 3000 Soles sind ein Wochenverdienst! In Cuzco gibt es genug amerikanische und europäische Touristen mit dem Geld für 3 Wochen, was wir in drei Monaten brauchen und ihr könnt euch sicher denken, was der peruanische Indio für ein Verhältnis zu ihnen hat. Hunderte von bettelnden Kinder und Frauen, Schuhputzjungen von 8-10 Jahren, Kinder von 6,7, und 8 Jahren (wirklich!), die abends in den Restaurants Zigaretten verkaufen, kaum ein Hemd am Körper, total verdreckt und zerfetzt und hungrig. Da vergeht einem das „ach, wie süß“, wenn man wieder mal einen der schwarzäugigen Indiokinder im Wickeltuch auf dem Rücken der Mutter sieht.

Huancayo
Das Foto habe ich in 1979 Huancayo im Hochland von Peru gemacht. Zuerst veröffentlicht am 05.11.2011.

Ich habe sehr viel Geduld aufbringen müssen, um ein paar realistische Fotos zu machen. Ein Bekannter von mir, der recht unbefangen touristisch drauf losknipsen wollte, wurde von Marktfrauen mit heißen Kartoffeln beworfen und mußte wieder abziehen.

Es gibt sogar Leute, die, ohne ein Wort Spanisch zu können, hier hinfahren, was die hier wollen, weiß ich nicht. Ich glaube, ich bekomme langsam ein Gefühl dafür, was eigentlich „Entwicklungshilfe“ bedeutet.

So, morgen machen wir uns auf die Reise nach Bolivien (La Paz). Die politischen Verhältnisse sind ein wenig unsicher, Straßen- und Ausgangssperre – in Bolivien kann jederzeit wieder ein Putsch kommen. Aber macht euch mal keine Sorgen, wir haben uns bisher immer durchgebissen und werden das auch weiter tun. Ich spreche schon fast fließend Spanisch und wir haben ja auch schon eine ganze Menge Südamerika-Erfahrung und können eine Menge verkraften.

(…) Wir ändern die Route. 2 Wochen Anden von Bolivien, dann durch den Dschungel in den Norden (es gibt keine Straßen, aber in der Regenzeit müßte man von Dorf zu Dorf mit dem Boot kommen) an die brasilianische Grenze, dann weiter nach Norden nach Manaus (Brasilien) direkt am Amazonas, weiter nach Norden nach Boa Vista in den Süden von Guyana, von Georgetown je nach Zeit und Geld (ab La Paz haben wir zusammen noch 2000 DM, das müßte reichen) [drei Monate für zwei Personen] nach Surinam [das haben wir später aus Zeit- und Geldmangel weggelassen], Ende März von Guyana nach Barbados (vielleicht bleibe ich noch eine Woche in Trinidad), je nachdem ob ich aus Berlin Post nach La Paz bekomme oder nicht, dann spätestens am 28./29.3. zurück nach Luxemburg. Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt, wir schicken Karten vielleicht von Manaus + Georgetown, aber wer weiß, ob die ankommen! Und wenn ihr die bekommt, sind wir fast wieder da. Wir werden wahrscheinlich abǵeholt und kommen zuerst in Unna vorbei, ich fahre dann weiter nach Berlin, komme aber, sobald die Fotos fertig sind, für längere Zeit nach Unna. (…)

Die ursprünglich geplante Route über Sao Paulo und Rio dauert zu lange, und Rio ist sauteuer und wir wollen nicht hetzen. Die Entfernungen hier sind ja auch ein bisschen anders, allein der Dschungel von Bolivien im Norden, den wir in 14 Tagen „machen“ wollen, ist so groß die die ganze BRD!

Vielleicht noch ein paar allgemeine Sachen. Seit Kolumbien habe ich kein Klavier mehr gesehen. Nur 2x bisher hatte ich „Darmgeschichten“, beide Male in Peru (Hygiene ist hier ein unbekanntes Wort, aber wer denkt daran, die Töpfe vor dem Kochen zu waschen, wenn es kein Trinkwasser gibt, selbst in den Städten?), in Cuzco eine Woche lange mit Erbrechen und Magenkrämpfen, aber das hat hier jeder Europäer, der nicht gerade im Hilton übernachtet. Unsere Mägen haben sich schon abgehärtet, wenn andere Gringos nach einem Essen auf dem Markt oder nach Chicha-Genuß (mit Spucke von den Indiofrauen zubereitet!) den großen Durchfall bekommen, sind wir noch quietschvergnügt – aber bitte: über Schwarzbrot, Fleischsalat und Vanillepudding in Unna wäre ich trotzdem glücklich.

(…) Das Verhältnis zu anderen Rucksack-Reisenden hat sich mittlerweile gewandelt, jetzt sind wir die „alten Hasen“ und geben den anderen Tips. Es ist manchmal lustig zu sehen, wie unerfahrene „Gringos“ (das ist hier der Ausdruck für Ausländer) von den ausgekochten Indiofrauen fürchterlich über’s Ohr gehauen werden, auch wenn es nur um Pfennige – für uns! – geht. Ich habe gestern zum Beispiel 20 Minuten gefeilscht, nur um ein paar Strümpfe um 30 Pfennige billiger zu kriegen und habe Erfolg gehabt. Z.B. auf den Märkten: ein Alpaca-Pulli kostet 10 DM. Der erste Preis liegt bei 20 DM und man braucht eine halbe Stunde, um ihn herunterzuhandeln – was wäre das ohne Spanisch! [US-]Amerikaner zahlen sowieso das Doppelte und Deutsche mit umgehängter Kamera auch. Eine Banane kostet 8-10 Soles (1 DM= 145 Soles), der „Gringopreis“ liegt bei 20, aber nach einem kurzen „Pläuschchen“ kostet sie plötzlich nur noch die Hälfte. Wir haben auf einem Markt für Indios buntbemalte Früchte gekauft, eine für 3-4 DM, die in Europa nicht unter 50 DM zu haben wären [ich habe nicht herausgefunden, ob es die überhaupt außerhalb von Peru oder online zu kaufen gibt] – aber wir können das auch nicht alles transportieren – und jeder bekommt nur eine Kleinigkeit. 1 Schachtel Zigaretten in Peru kostet 23 Pfenning, 1 „Hotel“übernachtung 1,50-2 DM (das letztere schon gut!), Tagesdurchschnitt bei 10-12 DM (dafür kostete die Kamera-Reparatur 20 DM) – wenn ich das mit den Berliner Preisen vergleiche – ich habe wohl ein anderes Verhältnis zu Geld bekommen und die Umstellung wird recht groß sein. Vielleicht muß ich Taxifahren auch wieder lernen.

Hygiene: heute morgen wollten wir duschen – das Wasser floß spärlich und was eiskalt, nach dem Einseifen blieb es dann ganz weg! Klospülung gibt es so gut wie gar nicht in ganz Südamerika, die Leute werfen das Papier daneben und man gewöhnt sich mit der Zeit an den Anblick der Reste vom Vorgänger. Vielleicht ist es schwer zu vermitteln, warum wir das alles überhaupt machen und wieso es uns trotzdem gefällt. Einerseits sind die Leute hier unvorstellbar (für Europa) freundlich und hilfsbereit, wenn man sich nicht wie der „reiche Onkel“ benimmt und das werden wir vermissen. Andererseits lernt man zu begreifen, daß sehr viele Dinge, die man für selbstverständlich hielt, eben nur in Europa vorhanden sind, auch, was die Mentalität angeht. Die Indios sind wie die Kinder, sie freuen sich über Kleinigkeiten und erwachsene Männer sehen mit offenem Mund den Feuerschluckern und Zauberern auf den Märkten zu. Andererseits ist eben alles chaotischer, nichts funktioniert „ordentlich“ – aber wir in Europa haben vielleicht 500 Jahre mehr gebraucht dazu, was will man verlangen?

Sucre
Burks auf der Mauer des Klosters „la Recoleta“ in Sucre, der Hauptstadt Boliviens. Zuerst veröffentlicht am 25.12.2010.

Aber es sieht so aus, als wenn die Leute hier vieles aus Europa unkritisch übernehmen, die Reichen sitzen in teuren Bars und essen amerikanische Hamburger, weil es „schick“ ist, obwohl Gemüse auf den Märkten viel gesunder wäre. Die Indiotracht, handgewebte Wolle, hält vielleicht 10 Jahre, aber die Leute in der Stadt tragen Synthetic-Zeug in den unmöglichsten Farbkombinationen, das hält halb so lange und ist außerdem für die Witterung unpraktisch. [Das ist vermutlich Quatsch.] Viele bewundern die Europäer, die viel Geld haben und weite Reisen machen, wo viele nicht einmal das Geld haben, um den Bus zum nächsten Dort zu bezahlen – und das bei den Preisen! Schulbildung bei den einfachen Leuten ist so gut wie nicht vorhanden, wir wurden gefragt, ob man mit dem Bus nach „Alemania“ fahren könnte.

Selbst Studenten wissen ohne Ausnahme (!) nichts über Berlin – aber wer in Deutschland weiß schon, wo Ecuador liegt? Oder Belize? Wir sind die große Sensation: Im Dschungel von Ecuador waren wir abends in einer Kneipe, wo Arbeiter Billard spielten – wir wurden nach jeder Kleinigkeit in Europa ausgequetscht und mußten selbstverständlich nichts bezahlen – stellt euch vor, 2 Südamerikaner mit Rucksack kämen nach Unna, wer die ansprechen oder gar zu seinen Eltern zum Schweinebraten einladen würde (Meerschweinchen gibt’s ja nicht)?

So, in Cuzco wird es jetzt heiß, 25 Grad und mehr zur Mittagszeit, heute Abend muss man wieder einen Pullover anziehen – [unleserlich] wenn wir – hoffentlich am Freitag – in La Paz angekommen sind, dann geht der Brief ab.

La Paz, 26.1.
Nun sind wir schon in der Hauptstadt Boliviens [die Hauptstadt ist Sucre]! Ankunft gestern nach ein paar schönen Tagen am Titicacasee und Einreise ohne Schwierigkeiten. Wir haben Probleme, unsere Rückflüge zu buchen, ich habe in Berlin angerufen, weil die Briefe an mich immer noch nicht angekommen sind (…) Ich komme Ende März, genau wann, weiß ich noch nicht – wenn es Schwierigkeiten gibt, melde ich mich noch mal. Das ist der letzte Brief. [Ich habe später noch einen geschrieben.]
Tschüß bis Ende März
Was ihr mit dem Schmetterling anfangt, weiß ich nicht, aber mir geht er kaputt. Er ist vom Rio Napo, einem Nebenfluß des Amazonas in Ecuador. [Offenbar hatte ich einen toten Schmetterling in den Brief gelegt. Von dem habe ich aber nie wieder etwas gehört.]

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Kommentare

2 Kommentare zu “Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt”

  1. Jim am Januar 3rd, 2025 1:50 pm

    Ziemlich cool :⁠-⁠)
    Du hast vollkommen Recht, wie soll man jemandem das glaubhaft machen, dass man sich an den primitiven Verhältnissen so erfreuen kann und glücklich mit den Reisestrapazen ist. Es muss mehr sein als das gute alte „ich laufe vor mir selbst weg“-Ding.

  2. Trebon am Januar 11th, 2025 2:21 pm

    Einfach schön, diese Berichte. Reisen um des Reisens willen. Bei Jahrzehnten Abstand dann so wenig „in blau“? Kann man eher stolz drauf sein.

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