Perfide Paragrafen oder Willkommenskultur

Ein Kommentar zu einem Artikel im Tagesspiegel:*
Asylbewerber sollten sich nicht gegen ihre oft inhumane Behandlung zu Wehr setzen? Herbert Prantl hat einen sehr fundierte Analyse über die Inhumanität des deutschen Asylrecht geschrieben. Und nur Info: Das ist kein Aktivist.

Wenn Familien bei der Unterbringung getrennt werden, wenn Wachpersonal Asylbewerber misshandelt und die Existenzen von jungen Menschen systematisch vernichtet wird (Isolation, Keine Ausbildung), dann sollen sie sich nicht zu Wort melden, nicht protestieren?

Wenn wir als westliche Industrienation ganze Kontinente ausbeuten und wie z.B. in Accra (Ghana) eine Mülldeponie für Elekroschrott aus Europa machen, dann haben wir dafür auch eine Verantwortung. Wir leben nun mal in einer globalen Welt und das verlangt nun mal auch ein komplexeres Denken.

Der Diskurs über das Thema in Deutschland scheitert aber schon im Ansatz. Der Beweis: Man findet noch nicht einmal passende Begriffe, um den Sachverhalt, dass Menschen einwandern, zu beschreiben. (Das alles habe ich schon in „Nazis sind Pop“ vor 15 Jahren beschrieben, und seitdem hat sich nichts geändert.) Wer einwandert, ganz gleich aus welchen Gründen, ist Einwanderer oder meinetwegen auch eine Einwanderin. (Studienrätinnen dürfen „Immigrant“ sagen, weil das vornehmer klingt.)

Mein Großvater väterlicherseits ist aus Polen eingewandert, weil er als „Deutscher“ in Westpreußen nicht zur polnischen Armee wollte. Mein Großvater mütterlicherseits ist 1918 aus Russland eingewandert, weil er aus einer Gefängniszelle geflohen ist (er war zum Tode verurteilt worden, weil er seinen Pass gefälscht hatte). Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, meinen Opas einen „Migrationshintergrund“ unterzuschieben. Sie hätten gar nicht verstanden, was ich damit hätte sagen wollen. „Migrationshintergrund“ ist für mich ohnehin das bürokratische Unwort des Jahrzehnts – und Deutsch des Grauens vom Feinsten.

Einwanderer: Was spricht gegen das Wort? Die berufsbetroffenen Lichterkettenträger bestehen auf einer paternalistischen Version, aber aus ganz egoistischen Gründen, weil sie Einwanderer politisch instrumentalisieren wollen. Deshalb nennen sie alle „Flüchtlinge“ oder „Asylbewerber“, weil das besser klingt. Das ist aber eine Lüge. Nicht alle Einwanderer sind geflohen. Wer pauschal „Flüchtlinge“ sagt, suggeriert, dass nur Leute mit guten Gründen kommen dürfen. Ach ja? Und die anderen werden dann von den Gutmeinenden rausgeworfen?

Einwanderer finden hier Gesetze vor, die perfider nicht sein können. Also müssen sie, um hier bleiben zu können, notfalls Gründe auch erfinden. Ich würde das nicht anders tun. Das ist ihr gutes Recht. Wer wirklich in Deutschland bleiben will, wird das tun, ganz egal, was die Gesetze sagen. Man muss auch mal der Realität ins Auge sehen, und sich nicht immer etwas vormachen.

„Bleiberecht für alle“ ist eine realistische Forderung.

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Kommentare

6 Kommentare zu “Perfide Paragrafen oder Willkommenskultur”

  1. Rob am Januar 23rd, 2015 1:08 pm

    Ein weiterer Begriff ist der Integrationsbegriff.

    Ich habe allen ernstes Deutsche sagen hören:

    „Foreigners in Germany need to integrate“

    Die sind sich gar nicht im klaren drüber wie grotesk das auf das besonderst auf Menschen ausserhalb Europas wirkt. Das Verb integrieren würde niemals in diesem Zusammenhang benutzt werden.

  2. Michael am Januar 23rd, 2015 4:09 pm

    Das Problem ist, daß in de-Land jahrzehntelang der Glaubenssatz galt (und bei vielen immernoch gilt): „Deutschland ist kein Einwanderungsland. Amen!“. Das wirkt auf allen Ebenen nach.

  3. Linuxprofi am Januar 23rd, 2015 6:18 pm
  4. Wolfgang am Januar 23rd, 2015 11:18 pm

    Besonders hübsch finde ich auch die Forderung der Pegidisten/innen die „Pflicht zur Integration“ ins Grundgesetz zu schreiben. Ich denke solche verquerene Gedankenwindungen gerne zu Ende.
    Wer bestimmt wie „integriert“ aussieht? Die Bundesanstalt für Integration BfI?
    Was passiert mit Menschen die nicht als integriert gelten?
    Und was, wenn die Pegidianer/innen nicht als integriert gelten können? Sammellager auf Helgoland für nicht Integrierte Deutsche?

    Übrigens ein sehr schöner Text. Danke dafür.

  5. ...der Trittbrettschreiber am Januar 24th, 2015 3:43 am

    Wandern:.
    Weite, Sonne, Natur und Frohsinn. Dazu ein U.S.B.-Stick (UNTERWEGS SEIN BILDET) und a Flascherl Waaaain – was kann den schöner saain?
    Wird man dann „`Müde vom Wandern“‚, begehrt das Herz Einlass im nahe gelegenen Dorf, Gasthaus oder Kotten, in dem die fesche Stine wohnt und Gebratenes und Gesottenes für den erschöpft Eintretenden bereithält. Ein warmes bescheidenes Bett und wenn dann noch Herz und Liebe und Glück dies Stelldichein krönt, möcht‘ man gar nimmermehr gehen, auf die Pirsch durch den dunklen Dornenwald zur nächsten Heimstatt.
    Will man dann aber länger bleiben, ist es schon aus mit fesch. Die Stine wird dann sauer. Sie nöhlt und wuselt, sie zickt und ist genervt vom Rollenwechsel. Der Stick steckt nun im Hub und gewandert wird längst nur noch online. Wer will denn das? Können Wörter lügen?* Ja, das können sie. Und sie können noch viel mehr. Nur eines können sie nicht: Bleiben und Wandern zugleich.

    * http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/warald.html

  6. Holzmichel am Januar 24th, 2015 2:34 pm

    Burks Thesen in Nazis sind pop haben mir als jungen Menschem vor einigen Jahren interessante Facetten und Denkanstöße geliefert. Doch selbst in der Akademnischen Welt oder unter fitten/intelligenten Leuten kann man nicht mal im Ansatz klar machen worum es geht.
    Doch 2 Dinge blendet Burks meine Meinung nach zu sehr aus:
    1. Das im Buch immer wieder gelobte Frankreich mit seiner Identität und die USA als Schmelztiegel haben ähnliche Probleme. Nur weil man eine Nation nicht völkisch definiert, heißt das noch nicht dass Bevölkerungsgruppen/Glaubenskonflike etc verschwinden oder gelöst sind. Es geht um politische Macht, Verlust- und Kontrollängste.
    2. Es gab durchaus eine Entwicklung in den letzten 15 Jahren, ich schaue bsp. seit ich das Buch gelesen habe immer auf die Headlines und ob Rassismus auch als solcher bezeichnet wird. Geholfen ist dadurch jedoch auch noch nicht. Bleiberecht für alle bspw. würde niemals mehrheitsfähig sein. Und so hart es für eingefleischte Linke auch sein mag: Viele Menschen sehen sich nach einer Identität, ziehen diese aus der Geschichte, wollen zugehörig sein und brauchen konkrete Reibungsflächen. Der ökonomische Kampf Arm-Reich ist viel zu abstrakt und der Feind kaum sichtbar, bzw. der Kapitalismus hat große Bevölkerungsteile eben auch aus einer absoluten Armut herausgehoben. Das wird immer wieder verkannt. Die Debatte ist und bleibt müßig, ich sehe hier im Blog allerdings auch keine Lösungen oder Alternativen. Als ob sich das Rassismusproblem oder Islamfeindlichkeit löst, indem man jeden Menschen einwandern lässt. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.

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