中国特色社会主义 oder: Systemvergleich

chinese propaganda

Interessanter Artikel in der FAZ, dem Organ der gefühlten Bourgeoisie: „China gewinnt im Systemvergleich“. (Dieser Artikel wurde Ihnen von einem Abonnenten geschenkt und kann daher kostenfrei von Ihnen gelesen werden.)

„In einem atemberaubenden Tempo hat das Reich der Mitte in fast allen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung den Abstand zu den westlichen Gesellschaften verringert. Dies gilt für die Wohlstandsentwicklung und die Anzahl der Menschen, die jenseits der Armutsgrenze leben, ebenso wie für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur und neuer Technologien, für die Wissenschaftsentwicklung, die Entwicklung des Bildungssektors und den Aufbau von Stadtkernen mit globaler Strahlkraft wie in Schanghai.“

„Zur Disposition steht letztlich die Legitimität unterschiedlicher Gesellschaftssysteme.“

Schon klar. Man darf natürlich von bürgerlichen Medien keine tief schürfende Analyse erwarten, welches System nun denn die chinesische Gesellschaft sei: Staatskapitalismus? Sozialismus? Marktsozialismus? Oder gar noch etwas anderes?

Dazu schon einmal vorab eine allerwärmste Buchempfehlung (Standardwerk, wird noch besprochen): Wu Yiching: Die andere Kulturrevolution: 1966–1969: Der Anfang vom Ende des chinesischen Sozialismus.

Wu Yichings mit Fakten und Quellen gespicktes Werk hat mich „umgehauen“ – ich musste alles, was ich meinte über China zu wissen, neu überdenken. (Der Übersetzer entblödet sich leider nicht, Gendersprache einzuschmuggeln.) Es gibt noch keine vernünftige Rezension. Das muss ich vermutlich wieder machen…

Der Autor lehrt mittlerweile in Kanada, ist aber Marxist geblieben und argumentiert auch so. Das ist höchst interessant, weil seine Thesen in China verpönt und verboten sind. Das erinnert mich irgendwie an die „Linksabweichler“ der KPD der Weimarer Zeit, die in der Sowjetunion und natürlich auch in der DDR verschwiegen wurden. Die Frage, die er stellt, sollte die Linke (nicht die Partei) beantworten: Gibt es im Sozialismus Klassenkampf? Wer kämpft gegen wen und wie? Und wo soll das alles enden? Und ist China Sozialismus oder tut die herrschende Klasse dort nur so? (Da ich diesen Terminus benutze, die Staatsdoktrin in der VR China aber selbstredend behauptet, von einer „herrschenden Klasse“ könne nicht die Rede sein, errät das hiesige Publikum vermutlich, wo meine Sympathien liegen.)

Der Artikel der FAZ ist weniger originell, als die Überschrift suggeriert. Er käut die altbekannte Propaganda-Textbausteine wieder, aber zwischendurch entfahren den Autoren Jürgen Gerhards und Michael Zürn zähneknirschend Sätze wie „Wer innerhalb von drei Jahrzehnten mehrere hundert Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit, kann auf einen historisch einmaligen Erfolg verweisen.“ Und: „Der Einwand, dass nur autoritäre Regime in der Lage sind, durch Überwachung der Bürger und Zwangsmaßnahmen die Pandemie effektiv zu begrenzen, greift zu kurz, da auch Länder wie Japan, Taiwan, Neuseeland oder Südkorea die Ausbreitung des Virus sehr gut im Griff haben.“

Die FAZ ist immerhin ideologisch flexibler als die „Linke“: „…kommt man nicht darum herum, Informationen über das Bewegungsverhalten der Bürger und ihre Kontakte zu erheben. Dies stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Wie bei allen politischen Zielkonflikten wäre hier eine öffentlich diskutierte Güterabwägung zwischen den drei zentralen Zielen „Vermeidung hoher Infektionen und einer hohen Sterblichkeit“, „Vermeidung eines Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden“ und „Schutz der informationellen Privatsphäre“ nötig gewesen.“

Man merkt, dass die hiesige Bourgeoisie in Gestalt ihrer medialen Lautsprecher nicht umhin kann, die Regierung Chinas zu bewundern. Fazit: „Es bedarf einer scharfen Kontrolle der Unternehmen bei gleichzeitiger Handlungsermöglichung des Staates, insoweit er Gemeinwohlzwecke wie Gesundheit oder Verbrechensbekämpfung verfolgt.“

Scharfe Kontrolle der Unternehmen? Full ack. Mehr Staat wagen? Auch gut. Aber wieso fordert das die FAZ? War der Zensor pinkeln? „Dabei ist natürlich auch der Staat dem Recht unterworfen und muss einer scharfen Kontrolle unterliegen. Für jeden Euro, der für den Aufbau staatlicher Digitalkompetenz ausgegeben wird, muss ein Euro in die Missbrauchskontrolle fließen.“

Kommt gleich auf die To-Do-Liste nach der Machtübernahme der Arbeiterinnen- und Soldatinnenräte.

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Kommentare

One Kommentar zu “中国特色社会主义 oder: Systemvergleich”

  1. Crazy Eddie am Januar 16th, 2021 3:07 am

    China, Korea und Japan haben eins gemeinsam, den Konfuzianismus. Ihm entspringt eine Loyalität gegenüber höhergestellten Personen bzw. Autoritäten, vom Familienoberhaupt, über den Dorfältesten bis hin zum Regierungschef, die Nordkorea im Extrem veranschaulicht. Aus dem Vertrauen, daß Autorität mit Verantwortung ausgeübt wird, entsteht eine Disziplin und auch ein Mut, der in großem Widerspruch zum Ideal der westlichen individuellen Freiheiten zu stehen scheint. Vom Konfuzianismus wird nur das Autoritäre wahrgenommen, als sozialistische Autokratie schubladisiert -heile Welt. Die Kriegs- und Fastenschulen der Schinesen lassen grüßen.

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