Ein paar Zeilen zur wirklichen Situation

Raphaele Lindemann (Facebook!): „…nach nun fast vier Wochen im Erstaufnahmelager, finde ich endlich mal die Zeit ein paar Zeilen zur wirklichen Situation vor Ort zu schreiben und diese in Absprache mit der Camp-Leitung hier zu veröffentlichen.
In der aufgeheizten Stimmung zwischen allen politischen Lagern können ein paar Fakten aus erster Hand nicht schaden. Ich habe mir vorgenommen, diesen Bericht möglichst neutral zu verfassen. Das ist mir allerdings aufgrund der erschütternden Realität nicht gelungen und am Ende ist doch die Polemik und meine eigene Meinung mit mir durchgegangen… aber das wird man ja wohl noch sagen dürfen… Ich bin zur Zeit als Arzt für die medizinische Erstversorgung der neu in Deutschland ankommenden Flüchtlinge zuständig. (…)“.

Sollte man lesen.

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Kommentare

6 Kommentare zu “Ein paar Zeilen zur wirklichen Situation”

  1. kynik am Januar 30th, 2016 11:23 am

    hallo,
    den text hat auch der kollege klaus baum übernommen. da braucht man nicht unbedingt zu facebook zu gehen. https://klausbaum.wordpress.com/2016/01/29/aufnahmelager-erfahrungsbericht-eines-arztes/

  2. ... der Trittbrettschreiber am Januar 30th, 2016 1:48 pm

    Ja, ein sehr wichtiger emotionaler Text. Für mich ein Beweis für die parallel vorrangige Bearbeitung des Themas „Notwendiges Verhalten Einzelner zur Komplexität, dessen Teile sie sind“. Vielleicht sollte sich jeder nur um seinen eigenen Kram kümmern, das aber richtig. Stößt man dann an Grenzen, sind das dann aber auch Grenzen, die nicht mehr im Verantwortungsbereich der Einzelnen liegen, welche „politschen“ Ansprüche auch immer dies zu verneinen versuchen. Ich weiß, diese Haltung ist langweilig und uralt (Schuster bleib bei deinen Leisten). Ein Arzt kann sicher viel. Manch einer ist schon Held, Heiliger oder auch Märtyrer geworden. „Heilen“ kann man eine Gesellschaft aber nicht mit medizinischen oder verbal nicht unbedingt elaborierten Sofortmaßnahmen – leider.

    PS Ich kann im Moment nichts tun außer meinen Pullover und ein paar Socken an geschäftsorientierte Altkleidersammlungen zur Unterstützung von Flüchtlingen geben. Motiviert bin ich allemal, also Herr Doktor – wo steht das Klavier?

  3. Vox Populist am Januar 30th, 2016 6:58 pm

    Ich sehe das ein wenig anders: Diese Menschen müssen möglichst nahe an ihrer Heimat einquartiert werden, erstens damit sie nur einen möglichst kurzen und sicheren Weg zurücklegen müssen, zweitens damit sie nach Kriegsende (wann immer das in Syrien einmal sein wird) auch relativ schnell und einfach wieder in ihre Heimat zurückkehren können, um diese wieder aufzubauen. Wer soll Syrien wieder aufbauen, wenn nicht seine geflohene Mittelschicht? Wie sähe Deutschland aus, ohne die Expats die nach Kriegsende wieder zurückgekehrt sind?

    Die meisten Menschen kommen eben nicht direkt aus Kriegsgebieten zu uns, sondern aus Flüchtlingslagern vor Allem in den Nachbarländern wie dem Libanon und der Türkei. Sie waren dort in Sicherheit vor den Kriegshandlungen, aber schlecht versorgt – und erhoffen sich hier nicht nur verständlicherweise eine bessere Versorgung, sondern auch eine neue Lebensperspektive (Schule für die Kinder, Berufsausbildung, die Möglichkeit den Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen). Diese Lebensperspektive gibt es in Deutschland aber nicht, weil die Millionen dafür notwendigen neuen Arbeitsplätze nicht existieren und es auch niemals werden – diese Einladung an die Flüchtlinge – zumindest so, wie sie im Irak und Co vom Mann auf der Straße verstanden werden – ist somit eine große Lüge, eine Luftnummer, eine Illusion deren Zerplatzen diese Menschen aber erst merken, wenn sie bereits hier sind und im Lager feststecken für die nächsten Jahre.

    Unsere schrankenlose Aufnahme von Flüchtlingen – als mittlerweile einziges Land auf der ganzen Welt – hat dazu geführt, dass sich viele Hunderttausende überhaupt erst auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer und die Balkanroute machen. Viele von ihnen wären noch am Leben, wenn die reichen Industriestaaten nicht jahrelang das Betteln des UNHCR um mehr Geld für die Flüchtlingslager ignoriert hätten. Die Gelder die das UNHCR, die Türkei, der Libanon und Jordanien gebraucht hätten, sind Peanuts verglichen mit den Mitteln, die wir jetzt aufwenden müssen.

    Die Flüchtlingspolitik ist von vorne bis hinten gescheitert. Es gibt keine kurzfristig schlüssigen Pläne, wie 60 Millionen Flüchtlinge weltweit versorgt werden sollen. Es gibt keine mittelfristig schlüssigen Pläne, wie die im Bürgerkrieg versunkenen Heimatländer der Flüchtlinge wieder befriedet werden können. Die Industrieländer beliefern weiterhin Diktatoren und Terroristen mit Kriegswaffen, ohne Einsicht. Es gibt keine langfristig schlüssigen Pläne, wie die Weltwirtschaftsordnung fundamental geändert werden muss, um das Entstehen von immer mehr failed states von vorneherein zu verhindern. Die Südhalbkugel versinkt weiterhin in Krieg, Armut, Überbevölkerung und Umweltzerstörung. Alleine in Afrika tragen sich 40 % der Einwohner wegen der desolaten Lage in ihren Heimatländern mit dem Gedanken, auszuwandern – das entspricht der Einwohnerzahl der kompletten EU. Wir stehen hier vor existenziellen Fragen, die keinen Menschen auf der Welt in den nächsten Jahrzehnten nicht massiv am eigenen Leibe betreffen werden.

    Die Bundeskanzlerin hat auf diese Fragen keinerlei Antworten. Sie stellt diese Fragen nicht einmal selbst, was der erste Schritt wäre um überhaupt auch nur eine Suche nach Lösungen zu starten. Das ist viel zu wenig, um der Anführerin der viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt ein Lob für ihre Politik auszusprechen. Deutschland ist keine Supermacht, aber groß genug, um diese Lösungssuche auf internationaler Ebene anzustoßen.

    Das ist das Minimum, was wir von unseren Volksvertretern erwarten dürfen. Wenn da nichts passiert, wird die Million Flüchtlinge die dieses Jahr wieder zu uns kommt, lange nicht die Letzte sein. Mir macht das Angst, denn eine Machtübernahme von rechtsradikalen, erzkonservativen Parteien wie sie in Polen und Ungarn schon passiert ist und in Frankreich droht, ist dann auch bei uns nur noch eine Frage der Zeit.

  4. flurdab am Februar 1st, 2016 12:17 am

    Man sollte nicht alles glauben was im Netz verbreitet wird.
    Vor allem wenn es dazu dient, die jetzige Situation und das Versagen der Regierung als „Glücksfall“ hoch zujubeln.
    Liest sich für mich wie Propaganda aka „Unsere Mauern brachen, unsere Herzen nicht“.

  5. andreas am Februar 1st, 2016 5:02 pm
  6. andreas am Februar 3rd, 2016 7:25 am

    „Bitte erlauben Sie mir, diese Einladung auszuschlagen und mein Leben wie bisher fortzuführen: Ich folge meinen ethischen und ärztlichen Grundprinzipien und setze mich kompromisslos für humanitäre Belange unabhängig von Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Religion oder politischer Gesinnung ein. Meine Erfahrungen im Erstaufnahmelager des BAMF/DRK in Erding mit Menschen, die in größter Not zu uns kommen, finden Sie in meiner Schilderung gezeichnet, und aus meiner Empörung über das, was an Kenntnislosigkeit, Verleumdungen, Hasstiraden und bewusster populistischer Verdummung zu hilfsbedürftigen Menschen im Umlauf ist, habe ich keinen Hehl gemacht. Ich wünsche mir, dass dies deutlich wurde und keiner Ergänzung bedarf.“
    Raphaele Lindemann (Zitat aus der AZ-Mainz)

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