Mittelschichtfernsehen oder: You are not smart

secondlife
Womit sich die Leute in anderen Welten so beschäftigen…

Das habe ich mich schon immer gefragt: Warum werden die Leute nicht klüger, obwohl alle Informationen da sind, um alle religiösen und andere gesellscaftlichen Wahnidenn – wie etwas den Glauben an den Markt(TM) – ad absurdum zu führen`? Der Guardian fragt sich das auch: „How intelligent are you? It’s a question that is often best left unasked – particularly on a Monday morning.“

Die British Psychological Society (BPS) hat darauf eine klare Antwort: „Googling stuff can cause us to overestimate our own knowledge“. Das Internet als knowledge base ist nicht schuld, dass die Menschen dumm bleiben (wollen): „Socrates once spoke of how the invention of writing would destroy our ability to remember, a critique that we now know is somewhat preposterous. We should be wary therefore that this new finding about the internet creating an illusion of knowledge might not be specific to the internet at all.“

Der Guardian setzt sogar noch eins drauf: „A second study, reported this month in the Journal of Experimental Psychology, finds that, counterintuitively, accumulating knowledge can lead people to become more closed-minded.“ [Das erinnert mich auch an meine Frage, die ich seit 20 rund Jahren stelle: Warum verlinken deutsche Medien online immer noch nicht dieQuellen?]

Mit anderen Worten: Wer nur Wissen anhäuft oder über den Zugang zu geballtem Wissen aka Internet verfügt, weiß nicht automatisch mehr, er oder sie läuft sogar Gefahr, ein Brett vor dem Kopf zu haben wie Esoteriker und Volkswirtschaftler, also engstirnig zu sein.

Das Fazit der Analysen bestätigt aber das, was ich als Dozent praktiziere: Studenten sollten auch während eines Examens oder der Prüfungen Zugang zum Internet haben. Bloßes Faktenwissen ist kein Garant für analytisches Denken.

There is however no evidence that in practice this is a bad thing, as we can assume that the cognitive capacity saved by not having to memorise easily accessible information can be put to good use elsewhere. We can never know everything, but we can always increase our analytic abilities. It has even been suggested by the head of the British school exam board OCR, that it is “inevitable” that students will eventually be allowed to use Google in exams, as memorising facts is no longer viewed as an important skill.

mittelschichtfernsehen

Das Neue Deutschland offeriert heute einen der interessantesten medientheoretischen Artikel, den ich seit langem gelesen habe. Britta Steinwachs schreibt „Von gefühlskalten Machos und roher Sexualität: Hartz-IV-Klischees im Fernsehformat“.

Meine Theorie, dass es kein „Unterschichtenfernsehen“ gäbe, scheint auch von anderen geteilt zu werden.

Die mechanische Konstruktion der Geschichten im »Bäumchen-wechsel-dich-Prinzip« macht den Vorwurf des moralischen Verfalls der »Unterschicht« in mehrfacher Hinsicht deutlich: Einerseits werden Persönlichkeiten in ihren ordinären und oberflächlichen Bindungen zu austauschbaren Lustobjekten degradiert. Andererseits gilt eine frühe Schwangerschaft als Beweis dafür, dass in den »unteren Milieus« kein gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein für das Wohl der Kinder vorherrsche. Das Vulgäre, das ihren Beziehungen anhafte, wird als handfeste Dummheit inszeniert, welche als aktive Bildungsverweigerung daherkommt und somit die Handelnden selbst zur Rechenschaft zieht und nicht etwa das ihnen die Bildung faktisch vorenthaltende kapitalistische System.

Diese massenmediale Erzählung etablierte sich vor 15 Jahren in der Sozialstaatsdebatte. (…) Die Lebensziele der gezeigten Akteure aus der »Unterschicht« orientieren sich meist an bürgerlichen Werten, allerdings scheitern sie mit solch einer grotesken Dämlichkeit, welche jegliche Bemühungen ins Karikaturenhafte zieht und damit jedes Mitleid unmöglich macht.

mittelschichtfernsehen

Das kann man gar nicht besser formulieren. Ich vermute schon lange, dass Studienräte, Architekten, Immobilienmakler und andere angehörige der sogenannten Mittelschicht vor der Glotze hocken und sich an der dort vorgeführen „Dumnheit“ der da unten ergötzen und sich in dem Gefühl suhlen, etwas Besseres sein. Der mediale Mainstream, zu dem auch Unterhaltung gehört, ist ohnehin, wie hier schon thematisiert, der Diskurs der Mittelschichten: Nach oben buckeln, nach unten treten. Wie schon in der Weimarer Republik – mit dem bekannten Ergebnis, wenn sich die Kämpfe der Klassen verschärfen.

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Kommentare

5 Kommentare zu “Mittelschichtfernsehen oder: You are not smart”

  1. ... der Trittbrettschreiber am November 3rd, 2015 3:39 pm

    „…läuft sogar Gefahr, ein Brett vor dem Kopf zu haben wie Esoteriker und Volkswirtschaftler,…“

    Ein Brett vorm Kopf lässt sich wunderbar als Info- und Werbefläche instrumentalisieren. Doch wehe, ich merke es irgendwann, dann wird aus dem Brett ein 16-Ender-Gehörn, gelle?

    PS Entzückende Fotos – leider boshaft und manipulierend gesetzt, wie mans halt n o c h duldet, nicht?

  2. flurdab am November 3rd, 2015 6:57 pm

    Wer denkt sich die „Scripted Reality“ denn aus?
    Die „Unterschicht“, gar das Prekariat?
    Mehr muss man doch eigentlich nicht wissen.

    Und ja, Information alleine ist zu wenig.

    OT. „Flüchtlingskrise“
    Mir wurde zugetragen das der öffentlich rechtliche Rundfunk die Ursache für die versuchte Massenmigration ist. Die Absicht ist die Erhöhung der Einnahmen über die Gebührenzentrale, durch Vergrößerung der Anzahl an Haushalten.
    Ich würde es ihnen zu trauen.

  3. Temnitzbiber am November 3rd, 2015 8:40 pm

    In Syrien, Afghanistan und Eritrea gucken alle deutsches öffentlich-rechtliches TV. Und ich denke, meine Stubenfliege knutscht einen Elch.

  4. MH am November 4th, 2015 10:31 am

    Brett vorm Kopf haben nicht nur die Angehörigen der Glaubensrichtung freier Markt but also die linksintellektuellen Marxisten die eh schon alles immer (besser) wussten und für die alles Übel im pöhsen, ausbeuterischen Kapitalismus liegt.
    Vllt täte es auch dem Bloginhaber gut sein (VWL) Spektrum zu erweitern.
    Aber Feindbilder und vereinfachende Erklärungsmuster findet man eben überall. Bei den einen ist es der Überbau (zu viel Staat) oder individuelle Defizite (zu faul/dumm). Für den Anderen ist es „das System“ bzw. Gewinnstreben/Fall der Profitrate und Krisen sowieso und seit je her ein feature und kein Bug. Interessant wäre mal herauszufinden warum der eine so und der andere genau anders denkt und wenig bis keine Verständigung darüber stattfindet.

  5. blognetnews » Jaja, die Unterschicht am November 4th, 2015 9:03 pm

    […] Koinzidenz geht kaum: Erst Burkhard Schröders schönen Artikel, dann den nicht minder schönen, von ihm zitierten Artikel Britta Steinwachsens […]

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