Prohibitions strengthen communities

IDF
Credits: The Israel Democracy Institute

Am frühen Morgen sollten die Gehirne der Leserschaft in Wallung gebracht werden. Ich habe versucht mich schlau zu machen, was genau die Streitpunkte sind, um die sich die Politiker in Israel gerade balgen und warum Kompromisse zur Zeit nicht möglich zu sein scheinen. Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Auch in Israel ist Politik natürlich – wie überall – schlicht Lobbyarbeit für die Gruppen, die einen gewählt haben.

Die Jerusalem Post schreibt: A third issue that reportedly was unresolved was the override clause, which would give any 61-MK majority the power to block a law from being submitted to judicial review. United Torah Judaism MKs were quoted in recent days saying that they would not remain in the coalition if the override clause did not pass. This part of the reform is especially important to the party, as it would enable the coalition to immunize laws that grant haredi (ultra-Orthodox) men an exemption from IDF service, and block the High Court from striking them down, as it has done in the past.

Das macht die Sache klarer. Die jüdischen Fundamentalisten wollen, dass für ihre Männer die Pflicht, den Militärdienst zu leisten, nicht in dem Maße gilt wie für säkulare Israelis und dass die Quote, die sie stellen müssen, nicht erhöht wird. Und sie wollen auch, dass das höchste Gericht dagegen nichts machen kann. Es geht hier um rund 1.2 Millionen Israelis, die zu diesen Ultraorthodoxen gehören. Tendenz steigend – und um Geld. Der Streit existiert seit einem Jahrzehnt: Seit 2012 müssen auch die Haredim zum Militär.

According to science: Israeli Ultra-Orthodox men study full-time in yeshiva until age 40 on average. Why do fathers with families in poverty choose yeshiva over work? Draft deferments subsidize yeshiva attendance, yet attendance typically continues long after exemption. Fertility rates are high (TFR = 7.6) and rising. A social interaction approach explains these anomalies.Yeshiva attendance signals commitment to the community, which provides mutual insurance to members. Prohibitions strengthen communities by effectively taxing real wages, inducing high fertility. Historically, the incursion of markets into traditional communities produces Ultra-Orthodoxy. Subsidies induce dramatic reductions in labor supply and unparalleled increases in fertility, illustrating extreme responses social groups may have to interventions.

Merke: Während die Mehrzahl der Wehrpflichtigen mit national-religiösem Hintergrund den normalen Militärdienst ableistet, wurde das Hesder-Programm seit seiner Einführung 1965 zunehmend beliebter. Das israelische Militär aber mag diese Ideen, gleichzeitig Soldat zu sein und den Talmud zu studieren – nicht besonders – in Elitetruppen werden die Religiösen nicht aufgenommen. Konflikte sind also vorprogrammiert.

Der Knackpunkt: Nach wie vor fehle ein Gesetz für die Wehrpflicht von Ultra-Orthodoxen. Ein neues Gesetz, das schrittweise steigende Rekrutierungszahlen und wirtschaftliche Sanktionen für Toraschulen beinhalte, würde die Bereitschaft zum Armeedienst erhöhen. Das oberste Gericht Israels hatte 2017 einen Zusatz zum Wehrpflichtsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Darin wurde den Haredim ein längerer Aufschub für ihren Militärdienst gewährt. Die ultra-orthodoxen Parteien reagierten damals „empört“ auf den Beschluss des Gerichts. Jetzt sind sie in der Regierung und wollen natürlich, dass so etwas nicht noch einmal passiert.

Die Politiker, die sich als Lobby für die Haredim verstehen, wollen auch, dass Ultra-Orthodoxe nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie sich nicht zum Militär melden. „In der Regel kommt es dabei zu einer Gefängnisstrafe von 30 Tagen mit anschließender Einberufung.“

Es werden zur Zeit ausnahmslos alle Ultra-Orthodoxen unter 24 Jahren eingezogen. Wird die gesetzliche Quote erfüllt, können Ultra-Orthodoxe ihren Dienst in den IDF bis zum Alter von 21 Jahren aufschieben, um Torah-Studien nachzugehen. Der Streit um den Dienst der Ultraorthodoxen hatte schon 2018 eine Regierung zerbrechen lassen.

Netanjahu hat sich übrigens bei diesem Thema in der Vergangenheit als äußerst flexibel gezeigt.

chabads
Mesusa- Widmungszeremonie“ im „Albam Jüdischen Bildungs- und Familienzentrum“ Berlin-Wilmersdorf, 2004, ©burks.de

Ein marxistischer ökonomischer Ansatz, das Phänomen der Ultraorthodoxen zu erklären, wäre: Druck von außen verstärkt den sozialen Kitt von Gemeinschaften. Die Haredim unterscheiden sich strukturell nicht von den Zeugen Jehovas oder den Neuapostolischen. Man muss sich also fragen, welche Funktion die Religiotisierung hat: Sie schafft eine soziale Gemeinschaft, also eine Sicherheit, auch wenn der Klassenkampf zunimmt Rest „draußen“ zerbröselt. Religion kann einen marginalisierten sozialen Status kompensieren (das nennt man „kompensatorische Gratifikation„). (Ich sage nur: Gilles Kepel „Die Rache Gottes – Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch“.)

Das ist also nicht nur ein Kulturkampf in der luftigen Höhe des Überbaus. Ein jüdischer (christlicher, muslimischer) Fundamentalist kann arm sein, ohne Beruf, aber jeder kann Gelehrter der heiligen Bücher werden – man muss sich nur anstrengen. Religiöse Orthodoxie nivelliert Klassenunterschiede – eine romantischer, aber reaktionärer Gegenentwurf zur kapitalistischen Moderne. (Das war auch Teil der Eigenwerbung der Neuapostolischen: Ohne theologische Ausbildung kann jedermann zum Pfaffen werden und laienpredigen.)

Peter Lintl schreibt in der sehr aufschlussreichen Studie: „Die Charedim als Herausforderung für den jüdischen Staat“:
Man kann eine deutliche Diskrepanz zwischen politischer Elite [der Ultraorthodoxen] und ihren Wählern erkennen, die viel radikalere Sichtweisen vertreten: 59 Prozent von ihnen wollen die Araber aus Israel vertrieben sehen. Dies scheint auch eine Generationenfrage zu sein. Tendenziell gilt bei den Charedim wie in der gesamten jüdisch-israelischen Gesellschaft: je jünger, desto weiter rechts.

Aber: Stimmen in Wissenschaft und Gesellschaft bezweifeln, dass sich das Gesellschaftsmodell der Charedim in Israel auf Dauer halten kann.

„Charedische Juden lehnen die Normen der Moderne ab und befürworten eine Rückkehr zu – teilweise neu erfundenen – traditionellen Werten.“ (Das machen auch Einwanderer, die sich ihrer neuen Heimat nicht anerkannt fühlen, vgl. Wahlverhalten der Deutschtürken.) Das kann eine Weile gut gehen, aber langfristig nur, wenn die Gruppe in der Lage ist, sich vom Rest der Welt zu isolieren. Gegen das Internet kommt aber niemand an. Auch nicht die Charedim (aka Haredim). Orthodoxie ist immer ein verzweifeltes Aufbäumen – das sagt Kepel auch über den militanten Islamismus – gegen das Scheitern der ursprünglichen Idee, wie schon bei der RAF.

Ich tippe übrigens auf Neuwahlen.

Postscriptum: Ich hätte gern einen aktuellen Artikel zu diesem Thema gelesen, der mich informierte, habe aber keinen gefunden – also musste ich ihn selbst schreiben.

image_pdfimage_print

Kommentare

7 Kommentare zu “Prohibitions strengthen communities”

  1. tom am März 16th, 2023 10:17 am

    „ist Politik natürlich – wie überall – schlicht Lobbyarbeit für die Gruppen, die einen gewählt haben.“
    Echt? Die Wahlkampffinanzierer/Parteienspender spielen keine Rolle?
    Für wen arbeitet FCKBDN z. B. Lobby?

  2. admin am März 16th, 2023 11:12 am

    „Gewählt“ kann auch heißen: Als Interessenvertreter ausgewählt und bezahlt

  3. Die Anmerkung am März 16th, 2023 12:57 pm

    Es wird weiter hardcoregesektet als sei nichts geschehen. Wie in Israel, so auch in Deutschland.
    —–
    https://www.welt.de/regionales/hamburg/article244324475/Nach-Amoktat-von-Hamburg-Polizei-sucht-nach-Mitwissern-von-Philipp-F.html

    Für die Opfer wird es am Sonntag einen ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Hauptkirche St. Petri in der Hamburger Innenstadt geben. Bei dem Gedenken gehe es darum, „der Trauer einen Raum zu geben, Trost und Fürsorge zu spenden“, teilten die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland und das Erzbistum Hamburg am Mittwoch mit, die die Veranstaltung gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen organisieren.

    Die Zeugen Jehovas hingegen wollen eine eigene Trauerfeier ausrichten. Sie zeigten sich nach Angaben eines Sprechers irritiert über den Vorstoß der großen Kirchen.

  4. ... der Trittbrettschreiber am März 16th, 2023 1:35 pm

    „Orthodoxie ist immer ein verzweifeltes Aufbäumen – das sagt Kepel auch über den militanten Islamismus – gegen das Scheitern der ursprünglichen Idee, wie schon bei der RAF.“

    So kann man den Schiss in der Hose beim Hinterherschauen der wegschwimmenden Felle auch bezeichnen – ein nettes niedliches und „anständiges“
    Elaborat. Zischt aber nicht…hx.

    Plopp.

  5. blu_frisbee am März 17th, 2023 3:40 am

    Ein Pro-gramm ist eine Vor-schrift
    Ein Vorprogramm ist ein Pleonasmus.
    Deutsch mich nicht voll.

    Die Haredim sind Aschkenasim
    Sephardim und Mizrahim sind andere.
    Israel war zutiefst rassistisch (weiß nicht obs heute noch so ist), Wohngegenden, Schulen, Einkommen etc. Herzl war Europäer.

  6. MH am März 17th, 2023 8:41 am

    Ich bin ja – ob der hiesigen Ukraine und Ökonomie Berichterstattung – häufig sehr kritisch.

    Für diesen Artikel sage ich: Danke! Da steckt echt Info drin und auch mal seriöse Wissenschaft bzw. überprüfbare Thesen anstelle des dogmatischen Marxisten Bla Bla.
    Weiter so! :)

  7. admin am März 17th, 2023 9:05 am

    Ich bin nicht dogmatisch. Das steht schon im Blog-Titel. ;-)

Schreibe einen Kommentar