Therapie – eine unendliche Geschichte II

– Aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg? (1993)

[Fortsetzung von Therapie – eine unendliche Geschichte I]

Doch was ist das Fazit? Die Diskussion um Drogen und Therapie krankt daran, dass sie in der Regel den bloßen Konsum, die körperliche Abhängigkeit und unkontrolliertes Suchtverhalten auf eine Stufe stellt. Niemand wird bestreiten, dass Heroin-Abhängige oft therapiebedürftig sind. Das ist häufig eine Folge der desolaten Situation, in die sie nicht zuletzt die Kriminalisierung der Droge gebracht hat. Die repressive Drogenpolitik in der Bundesrepublik habe, sagt Jan Heudtlass von der Klinik für Psychiatrie und Neurologie in Lengerich, «in den vergangenen Jahren die Entwicklung einer zunehmenden Verelendung begünstigt und gefördert, was möglicherweise von ihren Erfindern nicht beabsichtigt gewesen ist». (1) Die Folgen: Ausweitung der Aids-Infektionen in der Drogen-Subkultur und die «Erreichung der westeuropäischen Spitzenstellung für die Bundesrepublik bei der Anzahl der Drogentoten».

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Credits: Association of American Universities: „Study reveals how drug abstinence changes gene expression, making relapse more likely“

Die Einrichtung CLEANOK in Lengerich praktiziert ein Konzept, das in Deutschland bis jetzt einmalig ist. Motto: «Warmer Entzug in warmer Atmosphäre.» Es geht primär nicht um das hehre, aber zunächst unerreichbar scheinende Ziel der Abstinenz, sondern um pragmatische Schadensminimierung und akute Krisenintervention. Die Junkies können mit Polamidon «ausschleichen». (2) Der zweite Teil der fünfwöchigen Therapie, nach dem Entzug, besteht in der Wiederherstellung der Gesundheit durch Behandlung der Folgeschäden des Konsums und der Lebensbedingungen der HeroinAbhängigen wie Infektionen und anderen Krankheiten. Jan Heudtlass: «Wir verzichten in diesem Rahmen auf konfrontativ-aufdeckende psychotherapeutische Verfahren. Vielmehr stehen begleitende, stützende Verfahren im Kontext des Entzugsprogramms: Akupunktur, Hydrotherapie, Massage, Bewegungstherapie, ein ergotherapeutisches Angebot.» Einige Angebote sind freiwillig, andere obligatorisch. Daneben gibt es geschlechtsspezifische Angebote in Gruppen- und Einzelform.

Der zeitweilige Ausstieg aus der Drogenkarriere soll eine Initialwirkung haben und die Resignation aufbrechen, die bei vielen Junkies nach gescheiterten Therapien und einer Vielzahl von Entzügen in Eigenregie vorherrscht. Man müsse sich wundern, sagt Heudtlass, wie «gern» die Therapeuten die häufigen Selbstmordversuche mit einer Überdosis übersähen – «im Rahmen von Verdrängungsmechanismen». Der überwiegende Anteil der Klienten verfüge jedoch «über einen mehr oder weniger . stark ausgeprägten Gesundungs- und Genesungswillen». Das Konzept setze «eher mittelfristig» darauf, dass sich der Ausstiegswunsch verstärkt – aber ohne angedrohten Zwang. Man verzichtet auf «gebetsmühlenartige Appelle an die Willenskraft». CLEANOK erfreut sich mittlerweile einer so hohen Akzeptanz, dass die Warteliste mehrere Monate beträgt, vor allem bei denen, die noch nie bei einer Drogenberatungsstelle aufgetaucht sind.

Die Frage ist also, was therapiert werden soll: Der Drogengebrauch selbst?

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Credits: Deccan Chronicle

Die Frage ist also, was therapiert werden soll: Der Drogengebrauch selbst? Oder muss man versuchen, ein risikobewusstes und kontrolliertes Verhalten zu erreichen – und ist das überhaupt möglich?

Heroinabhängigkeit läuft nicht «natürlich» in Richtung Verelendung oder Abstinenz.

Neben der Gruppe von Junkies, die sich in bestimmten Phasen «zuknallen», also alles konsumieren, was irgendein euphorisches Gefühl bewirkt, gibt es die gelegentlichen Konsumenten von Heroin, die nur in bestimmten Situationen und kontrolliert die Droge benutzen. «Kontrolliert» heißt, dass sie eine physische Abhängigkeit, die sich in Entzugssymptomen äußert, vermeiden. «Kontrollierter» Umgang kann auch heißen, zwar abhängig und deshalb gezwungen zu sein, regelmäßig Heroin zu rauchen, zu sniefen oder zu injizieren, aber sozial unauffällig zu leben. Das ist eine finanzielle Frage, aber auch eine der intakten sozialen Situation: Ob man die Distanz zur kriminalisierten Szene wahren kann, ob man sein Geld rational einteilt, ob man andere Dinge wie Arbeit oder Freizeitgestaltung für wichtiger hält, ob man die Droge nicht zur Krisenbewältigung oder zur Selbstbelohnung benutzt. Es gibt eine große Anzahl von Personen – die berühmte «Dunkelziffer» -, die es geschafft haben, «den Drogengebrauch in konventionelle Lebenskontexte zu integrieren und ihren Opiat/Kokaingebrauch auf einem Level zu verwalten, der in der Regel weit unterhalb einer physischen Abhängigkeitsschwelle liegt.» (3)

Heroinabhängigkeit laufe nicht «natürlich» in Richtung Verelendung oder Abstinenz. Drogengebraucher seien, so eine neue Untersuchung, «nicht generell behandlungsbedürftig und handlungsunfähig. Die Chancen zum selbstorganisierten Ausstieg sowie zur Etablierung regelorientierter, nicht dysfunktionaler Gebrauchsmuster werden von nicht wenigen selbst unter kriminalisierten Lebensbedingungen genutzt.» (4)

So gut wie nie gelingt es aber zu Beginn der Drogenkarriere, mit einer stark euphorisierend wirkenden Substanz wie Heroin so umzugehen, dass der Abstieg in die «Szene» vermieden wird. Das Einstiegsalter liegt in der Regel um zwanzig, wenn nicht erheblich darunter. Nur sehr wenige Fixer haben erst später mit der Droge begonnen, die meisten der Älteren sind von Alkohol auf Heroin umgestiegen. Wie jemand eine Droge gebraucht, ist offenbar abhängig von seiner persönlichen Entwicklung und Situation.

Opiatabhängigkeit ist eine vorübergehende Störung, die sich selbst begrenzt.

US-amerikanische Forschungen, zu denen es in Deutschland kaum Parallelen gibt, bestätigen, dass sich die Abhängigkeit von Heroin nach einem Zeitraum von gut zehn Jahren von selbst erledigt in der Regel am Ende des dritten oder zu Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Dieser Prozess wurde unter dem Begriff «maturing out» («Herauswachsen») in die Forschung eingeführt. Der Berliner Gerichtsmediziner Prof. Friedrich Bschor hat als einer der ersten Wissenschaftler Langzeitbeobachtungen von Heroin-Konsumenten angestellt. Sein Fazit: Es handele sich bei der Opiat-Abhängigkeit um eine «passagere [vorübergehende] Störung», die sich selbst begrenze.

Die Sterblichkeit sei bei ungefähr zwei Prozent im Jahr anzusetzen und «vergleichbar Herzkranker im mittleren Lebensalter». (4) «Die in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellung eines extremen Ausmaßes der Sterblichkeit Drogenabhängiger trifft nicht zu.» Die Störung sei zwar langwierig, doch das von amerikanischen Autoren beschriebene «maturing out» «lässt sich auch bei uns bestätigen».

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Credits: The National Council on Drug Abuse (NCDA) in Jamaica

Diese These wird durch neueste Forschungen auch in Deutschland untermauert. Ein wissenschaftliches Projekt der Universität Münster hat die Bedingungen untersucht, unter denen Drogenabhängige sich selbst heilen. Zwang- oder Strafandrohung wirken offenbar wenig, selbst der Druck durch das soziale Umfeld wie Freunde oder die Eltern – «spielen eine untergeordnete Rolle». (5)

Wenn eine Therapie nicht akzeptiert werde – was bei der heute gängigen Alternative «Gefängnis oder Therapie» die Regel sein dürfte, sei ohnehin, so die Untersuchung, der Rückfall vorprogrammiert. Einer der wichtigsten Faktoren, die zum Ausstieg motivieren, ist die Veränderung der Selbstwahrnehmung. Der oder die Abhängige sehen sich selbst und die Folgen der Abhängigkeit realistischer. Dieser Moment wird in der US-amerikanischen Forschung als «Naked-Lunch-Erfahrung» bezeichnet. Der oder die Abhängige wollen ihr Leben bewusst gestalten und kontrollieren, sehen aber ihren Drogenkonsum als Hindernis dafür. Sie setzen sich mit ihrer Situation auseinander: Ein sogenannter «retroaktiver Sozialisationsprozess» kommt in Gang. Entschluss und Ausstieg erfolgen nicht spontan und plötzlich, sondern sind ein Prozess. In vielen Fällen spielen Personen, denen der oder die Heroinabhängige vertrauen und die sie unterstützen, eine ausschlaggebende Rolle.

Die Folgen der geplanten Abstinenz müssen einen hohen Wert haben, damit sich die Anstrengung lohnt.

Die Folgen der geplanten Abstinenz müssen einen hohen Wert haben, damit sich die Anstrengung lohnt: Prestigegewinn, eine höhere Selbstachtung und -bewertung sowie materielle Perspektiven. «Die Übernahme sozialer Etikettierungen wie einmal süchtig – immer süchtig blockiert in einigen Fällen sogar selbstorganisierte Ausstiegsprozesse und deren Stabilisierungen gravierend.“ Ein Fazit, das den «Laientherapeuten» à la Synanon gar nicht gefallen wird.

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(1) Jan Heudtlass: Zwischen Abstinenz und Akzeptanz – Versuch einer neuen Funktionsbestimmung der Drogenentzugsbehandlung, unveröffentl. Manuskript, Lengerich 1992, S. 3 (im Besitz des Autors)
(2) «Ausschleichen»: Heroin wird durch Polamidon ersetzt, das Medikament dann langsam herunterdosiert.
(3) G. Weber/W. Schneider (1992), Manuskript, S. 22
(4) Bschor, F.: Langzeitbeobachtungen bei jungen Drogenabhängigen
vom Opiattyp. In: Die Berliner Ärztekammer, [heute: Berliner Ärzte] 20. Jg., Heft 11/83, S. 749 (1983)
(5) Weber, G. /Schneider, W.: Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen. Selbstheilung, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg – ein Resümee, Münster 1992 (Forschungsprojekt der Westf. Wilhelms-Universität Münster, Institut für Soziologie/Sozialpädagogik), Manuskript, S. 26 (im Besitz des Autors)

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Kommentare

2 Kommentare zu “Therapie – eine unendliche Geschichte II”

  1. Die Anmerkung am Mai 8th, 2023 4:32 pm

    Hamburgs Drogen-Elend
    Stand: 15:14 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten
    Von Denis Fengler, Julia Witte genannt Vedder

    Straßensozialarbeiter beklagen die zunehmende Verelendung und Verwahrlosung der Süchtigen rund um den Hamburger Hauptbahnhof und in St. Georg. Die Not ist groß, der Anblick erschreckend. Wie konnte es zu dieser Verschärfung der Lage kommen?

    https://www.welt.de/regionales/hamburg/plus245165558/Hauptbahnhof-und-St-Georg-Das-Drogen-Elend-von-Hamburg.html

  2. Jo dr. weigl am Mai 9th, 2023 10:30 am

    das einzige was therapiert wird, ist der geldbeutel des ganzen therapiezirkuses drum rum. ein paar intelligente selbsttherapierer schaffen es immer. ohne therapeuten. die unendliche geschichte würde bei zwangsarbeit und drill schnell ein ende finden. und vergesst nicht die pharmalobby mit ihren ersatzpillchen. wann kommt biontech mit der drogenimpfung um die ecke? wirkt und entsorgt. mit garantie.

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