In Ungnade oder: Zombies und der Twitter-Mob-Slacktivism

pranger
Drei Frauen am Pranger, China, Anonym, um 1875

Cancel culture refers to the popular practice of withdrawing support for (canceling) public figures and companies after they have done or said something considered objectionable or offensive. Cancel culture is generally discussed as being performed on social media in the form of group shaming.

Der Tagesspiegel publizierte vor einem Jahr eine überraschend kritische Definition:
Gerade nach #Metoo erwuchs in den sozialen Netzwerken eine Praxis, die heute im englischsprachigen Raum als „Cancel Culture“ zusammengefasst wird. Ziel ist die systematische Boykottierung und „Annullierung“ einer Person, die durch zweifelhafte Aussagen oder diskriminierende Handlungen auf sich aufmerksam gemacht hat. Eine Verbannung aus dem öffentlichen Leben als Strafmaß für Verstöße gegen die politische Korrektheit.

Markus Gelau (Link führt zu RT Deutsch – der Twitter-Mob würde gleich triggern!) schrieb auf Fratzenbuch:
Es gibt im Englischen einen Begriff für die moderne Form des Bildersturms, dessen Zeugen wir werden: Man spricht von Cancel Culture. Alles, was nicht den moralischen Anforderungen genügt, muss den Augen und Ohren entzogen werden. Das können Filme sein. Oder Denkmäler. Oder Straßennamen. Wer glaubt, der Bildersturm gehe an Deutschland vorbei, hält die Grüne Jugend auch für eine Nachfolgeorganisation der Pfadfinder. Was geht da vor sich? John Cleese hat eine Theorie. Je emotional instabiler ein Mensch sei, desto größer seine Neigung, sich aufzuregen. „Wenn Leute ihre eigenen Emotionen nicht im Griff haben, müssen sie anfangen, das Verhalten anderer zu kontrollieren“, sagte er in einem Interview. Ich glaube, da ist was dran.

Schwache Charaktere neigen zur Identifikation mit dem Stärkeren, deshalb üben Ideologien auf sie einen so großen Reiz aus. Sie sind auch die Ersten, die ihre Loyalität durch besondere Aufmerksamkeit gegenüber Glaubensverstößen unter Beweis stellen. Es sind selten die gefestigten, in sich ruhenden Persönlichkeiten, die überall moralische Verfehlungen wittern – es sind in der Regel die Unglücklichen, vom Schicksal Niedergedrückten und Gebeutelten.

Mein Verdacht ist, dass der Kampf gegen den Rassismus die Empörungsbereitschaft auch deshalb befördert, weil viele Teilnehmer den Vorwurf fürchten, sie wollten sich in Wahrheit nur auf die Schnelle ein gutes Gewissen verschaffen. Es gibt für diese Form des Protests, der bequem zwischen Yogastunde und Urlaubsplanung passt, ebenfalls schon ein Wort: Slacktivism. Es ist eine Kombination aus „Aktivismus“ und „Slacker“, dem englischen Begriff für „Bummelant“.

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Frans Hogenberg: The Calvinist Iconoclastic Riot of August 20, 1566 (Hamburg, Kunsthalle). Text: Nach wenigh Predication / Die Calvinische Religion / Das bildenssturmen fiengen an / Das nicht ein bildt davon bleib stan / Kap Monstrantz, kilch, auch die altar / und wess sonst dort vor handen war / Zerbrochen all in kurtzer stundt / Gleich gar vil leuten das ist kundt. Anno Dnj. M. D. LXVI XX Augusti

Das ist zwar phänotypisch richtig beobachtet, zu psychologisieren greift aber zu kurz. Ich stelle die Klassen-, nicht die Charakterfrage: Welche sozialen Klassen betreiben (Online-)Pranger – und immer öfter? Und warum?

Das ist ganz einfach. Interessiert so ein Quatsch die herrschende Klasse? Nur, wenn der Profit sänke. Auch das ununübersetzbare Diversity wird nur akzeptiert, weil man sonst die zahlungskräftigen Mittelschichten tendenziell als Käufer verlöre.

Was sagt das Proletariat ähm… die Unterschicht die Arbeiterinnen dazu? Die haben eh keine Zeit, sich damit zu beschäftigen, weil sie andere Sorgen plagen. („Liebe Arbeiter*innen, wir müssen Sie leider freisetzen…“ Dagegen hätte unsere politisch korrekte Sprachpolizei vermutlich nichts.)

Der politische Ikonklasmus ist weder „links“ noch irgendwie fortschrittlich. Diese Leute sind nur die Wiedergänger des Protestantismus unter kapitalistischen Bedingungen: Den Mittelschichten, die zwischen denen da oben und denen da unten ökonomisch zerrieben werden, fällt, wie gewohnt, nichts besseres ein, als auf ein „korrektes“ (Sprach)Verhalten zu pochen, als sei damit ihr sozialer Status garantiert, was – auch wie gewohnt – ein tragischer Irrtum ist.

Mein Mitleid für diese Art des schleimigen moralischen Opportunismus hält sich in Grenzen. Das gilt auch für die „Diversity“-Mischpoke. Wenn es hart auf hart käme, würden die sich alle in die Arme der Herrschenden flüchten und mit dem denunzierenden Finger auf die da unten zeigen, die sich nicht so verhalten, wie die Gendersprecher „man“ es soll. (Pegida lässt grüßen.)

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Kommentare

4 Kommentare zu “In Ungnade oder: Zombies und der Twitter-Mob-Slacktivism”

  1. Some1Bln am Juni 25th, 2020 1:09 pm

    „Pegida lässt grüßen.“ – Also die Grüße müsstest Du nochmal erklären. Wo kommen die her?

  2. admin am Juni 25th, 2020 1:14 pm

    Ich meine: Auch „Pegida“ verhält sich nicht so, wie „man“ soll. Ich vermute, dass man viele, die dort mitliefen, mit Michael Moore erklären kann: https://www.burks.de/burksblog/2016/11/09/der-kollektive-mittelfinger

  3. ... der Trittbrettschreiber am Juni 25th, 2020 2:28 pm

    ;-)… Wiedergänger… danke, ich dachte schon ich spinne. Überall Charaktermasken neuerdings. Gestern lief mir meine Urtante Linna über den Weg. Kalte Dusche hat nix gebracht. Nun ists klar – evangelisch, all das Hier*.

    *…und Jetzt.

  4. Martin Däniken am Juni 25th, 2020 7:10 pm

    Wir sollten nicht vergessen das es bei uns Menschen immer die Tradition gab, Leute an den Pranger zustellen oder mundtot zumachen…
    Oder eine Kombination von Beiden zuverwenden z.B.
    „Megans Law“
    und auch nur einigermaßen clevren Leuten,diese Anprangerung zu umgehen?!
    Und wenn man Geld und Macht hat odetr es glaubt, diese zuhaben…naja manchmal geht der Schuss nach hinten los….

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