Innenpolitischer Wetterwinkel

schützinger bürgerkrieg

Ich habe mir aus Gründen der Familien-Recherche ein antiquarisches und höchst interessantes Bändchen zugelegt, bei dem mich eine Seite ungefähr einen Euro gekostet hat: Herrmann Schützingers „Bürgerkrieg“ (weder auf Amazon noch Ebay noch im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher erhältlich), erschienen 1924 im Verlag Ernst Oldenburg, Leipzig, 64 Seiten mitsamt Karten. Im ersten Band von Erhard Lucas‘ Märzrevolution fand ich den Hinweis:
Der Verfasser war höherer Polizeioffizier in der Staatlichen preußischen Polizei. Sein Ziel ist: es, die richtige Strategie und Taktik bei der Bekämpfung von Aufständen, sei es von links oder von rechts, zu entwickeln. Für Schützinger ist es selbstverständlich, daß nicht nur die Polizei, sondern auch das Militär im Innern zur „Erhaltung das Staates“, der „demokratischen Republik“ eingesetz wird. Wichtig ist ihm die Frage, nach welchen Grundsätzen der Einsatz erfolgt, und seine Stellungnahme geht dahin, daß das nicht die Grundsätze des Militärs sein dürfen, die auf Vernichtung des Gegners zielen, sondern „die Polizei-Technik und -Taktik“. Bei Aufständen von links zum Beispiel, argumentiert Schützinger, ist es keine Kunst, militärisch gegen die rebellierenden Arbeiter vorzugehen; das Ergebnis wird sein, daß sie erst recht ins Lager der Kommunisten („kleine Clique von Narren und Desperados“) getrieben werden. „Viel höher steht uns jedoch das Ziel, den Brandherd eines rebellierenden Industriegebietes zu löschen durch die gefühlsmäßige und tatsächliche Trennung der staatstreuen Arbeiterschaft von den antirepublikanischen Kampfgruppen und die Bändigung dieser aktivistischen Reste durch Isolierung und möglichst unblutige Beugung unter Recht und Gesetz.“

Diese Ausführungen, die Verfeinerung der alten „Rädelsführer“-Theorie, sind sozusagen die Anfänge der Polizeipsychologie in Deutschland. Dabei ist es interessant zu sehen, wie die eigentlichen politischen Fragen zu Fragen der psychologisch geschichten Behandlung der Massen werden. Am Beispiel des Arbeiteraufstands von 1920 an der Ruhr (nach Schützinger der bisher einzige Arbeiteraufstand in Deutschland, der bis zum höchaten Stadium kam, nämlich zur Bildung einer geschlossenen Front gegenüber Militär und Polizei): hier seien, so Schützinger, von der militärischen Führung „Fehler“ und „Dummheiten“ gemacht worden, z. B. als der Vormarsch ins Ruhrgebiet vor den vertraglich festgesetzten Terminen begonnen wurde, als Standgerichte eingesetzt wurden, oder auch als zu Beginn des Aufstandes Truppen unter der alten Flagge der Monarchie ins Aufstandsgebiet einmarschierten. Solche „Fehler“ und „Dummheiten“ sollen künftig durch „staatsbürgerliche“ Erziehung von Polizei und Militär vermieden werden.

In gewisser Weise kann Schützinger als Sprachrohr seines obersten Vorgesetzten verstanden werden, eines führenden Sozialdemokraten, der 1919 von den beiden Regierungen des Reiches und des Landes Preußen als politischer Kommissar ins Ruhrgebiet entsandt wurde, und der dann selbst ab 1920 als preußischer Innenminister die von Schützinger formulierten Grundsätze in der staatlichen Polizei praktisch durchsetzte: Carl Severing. 1927 veröffentlichte Severing seine Erinnerungen an seine Tätigkeit im Ruhrgebiet unter dem Titel 1919/1920 im Wetter- und Watterwinkel. Als innenpolitischer „Wetterwinkel“ galt das Ruhrgebiet wegen seiner starken sozialen Gegensätze seit langem; Watter war, der Name des seit Januar 1919 amtierenden Oberbefehlshabers der in Rheinland und Westfalen stehenden Truppen mit dem Sitz in Münster.

Schützinger beschäftigt sich auch damit, wie ein Aufstand von Rechts, den er für gefährlicher hielt, bekämpft werden könne und müssen. Interessant ist sein Blick auf die Perspektive: Heute würden bürgerliche Historiker nicht von einem Bürgerkrieg reden, sondern von Aufständen, was die Sache gleich entpolitisiert und die Aufständischen zu Illegalen, ja zu Terroristen macht.

schützinger bürgerkrieg

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Kommentare

3 Kommentare zu “Innenpolitischer Wetterwinkel”

  1. Martin Däniken am Februar 3rd, 2020 3:07 pm

    „Fieberzustand“ „Condotierris“ schöne altmodische worte.erfreuen das Herz!
    Vor zig Jahren(!991/93) ist das US-Army-Handbuch für den Nahkampf auf die Notwendigkeit eingegangen das sich normale G.I.s mit zivilen Demonstranten ggf regulär auf dem Boden herumrollen müssen…
    Also das man das professionell angeht…
    Man hat dazu 2 Brazilian Jujitu Könner geholt um so ein paar Basics zu unterrichten und ins Handbuch zubringen.
    Interessanterweise war das vorher der reguläre Job der Militärpolizei gewesen aber der Einsatz in Somalia,ex-Jugoslavien machte Modifikationen notwendig.
    Und es gab die,
    die sagten das es nicht der Job von Soldaten wäre sich mit Demonstranten am Boden zuwälzen…

  2. postgeschichtler am Februar 4th, 2020 1:02 pm

    Hallo,

    hier hat sich ein Tippfehler eingeschlichen. Der Arbeiteraufstand an der Ruhr war 1920:

    „Am Beispiel des Arbeiteraufstands von 1930 an der Ruhr“

    Spannender Artikel,auch die früheren zum Kampf der Arbeiter!

    Herzliche Grüße
    Robert Stuhr

  3. admin am Februar 4th, 2020 5:04 pm

    Das war kein Tippfehler,sondern ein Softwarefehler. Ich habe den Originaltext fotografiert und dann von einer Texterkennungssoftware einlesen lassen, um mir das Abtippen zu sparen. Funktioniert zu 95 Prozent…aber man muss noch händisch korrigieren.

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