Mein neunter November oder: Als ich einmal über die Mauer kletterte

Über meinen privaten Helden Georg Elser muss ich den wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser nichts erzählen. Elser war ein guter Terrorist. Er hat acht Menschen getötet, und ich verehre ihn.

Man muss nur Wikipedia lesen, um die offizielle staatliche Heuchelei um Elser einordnen zu können: „Der Chemnitzer Politologe Lothar Fritze, Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT), sprach 1998 in seiner Antrittsvorlesung Elser das moralische Recht ab, als Schreiner und Einzelgänger ein Attentat auf Hitler zu verüben und dabei den Tod von Unschuldigen in Kauf zu nehmen.“ Ich spreche Elser das moralische Recht zu, basta.

Nicht zu vergessen: Die Totalitarismus-Doktrin (Rot gleich Braun, Hitler gleich Stalinl, Bautzen gleich Auschwitz, KPD gleich NSDAP) ist immer noch die heimliche Staatslehre und wird bei jeder Gelegenheit („gegen Extremismus“) hervorgeholt. Sogar die Piraten haben diesen begrifflichen Quatsch („Mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten begünstigen totalitäre Systeme“) in ihre Programm aufgenommen.

Da ich über meinen ganz privaten neunten November schon vor fünf Jahren gebloggt habe, zitiere ich heute einfach mein damaliges Posting:

Revolutionen haben viele Vorteile, aber immer einen gravierenden Nachteil: Wer an einer teilnimmt, merkt es kaum. Am 9. November 1989 war alles wie immer in Kreuzberg. Abendessen am großen Tisch der Wohngemeinschaft, schon wieder irgendwelche fremden Leute zu Besuch, die Fabrikeetage im ehemals größten Getreidespeicher Europas bedurfte dringend einer Putzkolonne, wieso wäscht wieder niemand ab? Der Blick aus dem vierten Stock (roter Pfeil) schweifte über die Oberbaumbrücke. Drüben waren die Ossis, die damals noch nicht so hießen, sondern „Bürger der DDR“. Die Brücke durften nur Fußgänger passieren, die Bewohner der „selbständigen politischen Einheit Westberlin„. Die Einheit war gar nicht selbständig, sondern hing am finanziellen Tropf.

Kurz nach Mitternacht rüttelte jemand an meiner Schulter und schreckte mich aus dem Schlaf. „Die Mauer ist auf.“ – „Du spinnst. So ein Quatsch.“ – „Doch! Schau doch aus dem Fenster! Die kommen alle rüber!“ In der Tat – da liefen zahlreiche Menschen gen Westen. Also raus aus den Federn. Die anderen sind schon zum Brandenburger Tor. Rein in die Hosen, rein ins Auto, ab zur Mauer. Da stehen sie zu Tausenden oder sitzen gar auf der Mauer. Meine Mitbewohnerin und ich tun es ihnen gleich. Wie sind offenbar schon zu spät dran, der Platz vor dem Tor ist leergefegt, obwohl die West-Berliner die Mauerkrone dicht besetzt halten, die Fuße baumeln lassen und durcheinander schreien.

Wir schauten uns nur kurz an, nickten, und sprangen hinunter. Zögernd, mit kleinen Schritte, wie jemand, der von einer Lähmung genesen ist, tappten wir bis unter das Tor, schauten ungläubig nach oben. Auf der anderen Seite waren Schutzgitter, dahinter drängten sich auch die Volksmassen und winkten und riefen nach Westen. Irgendwie fühlten wir uns in Gefahr. Warum schießt keiner auf uns? Warum verhaftet uns niemand? Wo sind eigentlich die Vopos oder die Grenztruppen der DDR? Also hin zu den Ossis. Ein lächelnder Volkspolizist öffnete uns das Gitter. Wir waren in der DDR, umgeben von Menschen, die etwas freudig erwarteten. Aber was? Kam jetzt ein Posaunenchor aus Jericho – und die Mauer wurde einfach umfallen?

Zurück ging es nicht mehr. Verboten. Also mussten wir uns durchfragen, wo der Westen und die Oberbaumbrücke sei. Erst in diesem Moment fiel mir ein, dass man mir schon den siebziger Jahren ein Einreiseverbot den der DDR ausgesprochen hatte. Linksabweichung fanden die gar nicht gut. Und, wie oft in historischen Momenten: mein erster Gedanke war banal – ich hatte zudem noch meinen Ausweis vergessen. Würde man mich jetzt nach Sibirien schicken? Oder einstweilig erschießen? Drohten Bautzen oder die Straflager in Rüdersdorf?

Wir marschieren quer über „Unter den Linden“. Da war das Rote Rathaus. Dann die Fischerinsel. Den Rest des Wegs habe ich vergessen. Aber wir erreichten die Oberbaumbrücke dann doch. Polizisten standen dort ein wenig ratlos herum. Mir fiel nur die Wahrheit ein: Keine Reisedokumente vorhanden. Und dann streifte uns doch der Mantel der Geschichte. Ein Grenzer entgegnete auf unsere hilflosen Gesten cool: „Heute ist alles möglich. Geh’n Sie mal wieder rüber in den Westen.“ Ich war sprachlos – das kommt nur selten vor.

Am nächsten Tag muss ich den Freunden in „Westdeutschland“ am Telefon erklären: Ich bin gestern über die Mauer am Brandenburger Tor geklettert, ohne gültige Papiere und trotz Einreiseverbots. Das glaubt mir doch keiner…..

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Kommentare

5 Kommentare zu “Mein neunter November oder: Als ich einmal über die Mauer kletterte”

  1. Serdar Günes am November 9th, 2009 12:53 am

    Das was du über Totalitarismus schreibst teile ich auch. Würdest du aber sagen, das man „totalitär“ trotzdem gebrauchen kann?

    Das ich dieses Wort benutze heißt ja nicht, das ich gleich das Konzept akzeptiere.

  2. admin am November 9th, 2009 1:04 am

    Aber was sagt es aus?

  3. Serdar Günes am November 9th, 2009 10:42 pm

    Ich kann mich erinnern, das wir im Politikstudium ne Unterscheidung zwischen autoritär und totalitär hatten.

    ich würde z.b saudi-arabien mit seiner totalen kontroller über die menschen, die auch deren phyische vernichtung ganz leicht einbeziehen kann als totalitär bezeichnen.

    aber die ddr würde ich nie als totalitär bezeichnen.
    das ist natürlich subjektiv, aber ich weiß nicht, welches wort man sonst für totalitär benutzen kann?
    ne idee?

  4. Fluxkompensator am November 10th, 2009 4:34 am

    Revolution? Du glaubst wirklich das war damals eine Revolution? Deutsche und Revolution? Eher wachsen irgendwo auf der Welt lila Kirschen.

  5. 9. November, revisited : Burks' Blog – in dubio pro contra am November 9th, 2020 6:46 am

    […] 11 Jahren schrieb ich: Über meinen privaten Helden Georg Elser muss ich den wohlwollenden Leserinnen und […]

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