Be not different

mehringhof

Heute habe ich mich in Kreuzberg herumgetrieben, da mein Roller zum Check in der Werkstatt ist. Auf den ersten Blick hat sich seit zwei Jahrzehnten nicht viel geändert, auf den zweiten jedoch sehr viel, wenn man noch länger zurückdenkt. Den Mehringhof – einst das Zentrum der „Alternativszene“ – sieht noch genau so aus wie vor vierzig Jahren. Aber das legendäre „Spectrum“ (später „EX“) – zusammen mit dem Slainte in der Oranienstrasse die Autonomen- und Hausbesetzerkneipe -, ist heute woke, also kleinbürgerlich bzw. pseudopunkig. Vermutlich muss man vorher mit Gendersternchen unterschreiben, um hineingelassen zu werden.

ex spectrummehringhof

Ich kann mich noch an erinnern, als im Dezember 1993 der so genannte Einblick von den Nazis veröffentlicht wurde, und der Fotograf Dietmar Gust und ich die zweifelhafte Ehre hatte, als einzige mit Bild daran aufzutauchen mit dem Hinweis, man solle uns „unruhige Nächte“, bereiten, waren wir am Abend im „Spectrum“ (oder hieß es damals schon „EX“?), und alle „Autonomen“ und die, die es sein wollten, erkannten uns und glotzen uns grinsend an.

Lustig war ein Treffen mit der damaligen Berliner Schachmeisterin (deren Name mir leider nicht mehr einfällt) und dem heutigen Großmeister Matthias Wahls im Biergarten des Mehringhofs. Über Wahls hatte ich in meinem ersten Buch „Unter Männern“ (1988) eine kleine Reportage geschrieben. Wir überredeten ihn, einen Joint zu rauchen, was der noch nie gemacht hatte. Dem Schachmeister wurde gleich übel, und er musste sich übergeben, und wir lachten uns alle kaputt.

bergmannstrasse cafe atlantikbergmannstrasse cafe atlantik
Bergmannstrasse Ecke Nostizstrasse, heute (oben) und vor 20 Jahren (2003)

Ich kehrte auch in meiner ehemaligen Stammkneipe Café Atlantic in der Bergmannstrasse ein. Alles ist vollgestellt mit so genannten Stadtmöbeln, die den Autoverkehr verhindern einschränken sowie unzähligen rot-weiß-gestreiften Pollern und gelben Huckeln auf dem Asphalt. Man muss nur einen Kaffee trinken und kann die Lastenfahrräder zählen, die sich bis an den Horizont des Kiezes ausbreiten, oft gelenkt von Männern mit Hipster-Dutt. Da die Gegend durchgentrifiziert und die Leute, die dort wohnen, wohlhabend sind, zieht das um so mehr das menschliche Elend an, das Cafegäste anbettelt. Irgendwie gruselt mich das: Man bekommt das Gefühl, dass alles bis ins kleinste Detail protestantisch-moralisch-gutmeinend grün durchgestylt ist, und das alles, was hier nicht hinpasst, hinausgeekelt werden soll.

bergmannstrasse

Wohlhabend? Es gibt sicher noch Leute, die noch Mietverträge haben, die aus der Zeit der Hausbesetzungen stammen und bevor die Sanierung begann, also aus den 80-er Jahren. Für die wird es bezahlbar sein. Aber manche fühlen sich offenbar noch immer mehr mit der Türkei verbunden und wollen das jedem in Form von Fahnen mitteilen.

bergmannstrassebergmannstrassezossener strassezossener strassezossener strasse

Über die Markthalle hatte ich schon 2007 geschrieben. Die Atmosphäre ist weg, die Leute von damals auch. Was man kaufen kann, ist für Staatsknete-Empfänger eh zu teuer. Aber es gibt genug Touristen, die die Cafes draußen und drinnen am Leben erhalten halten. Currywurst raus, vegan rin – wie überall.

neukölln karl-marx-strasse

Ich war ganz überrascht, dass ich froh war, wieder in Neukölln zu sein, wo es vernünftige Straßennamen gibt und wo alles gewohnt und anheimelnd trashig ist.

image_pdfimage_print

Kommentare

6 Kommentare zu “Be not different”

  1. nh am Mai 24th, 2023 5:59 pm

    Die Kloake Deutschlands.

  2. Juttipat am Mai 24th, 2023 7:08 pm

    wie sagt der Couponschneider:

    Reichshauptslum

    – und wo er recht hat…

    ;-))

  3. blu_frisbee am Mai 24th, 2023 7:30 pm

    Die Frage ob 65 durchgentrifiziert wird muß mit wurde beantwortet werden. Der Charme Berlins als Four Power City war kein integraler Teil der BRD zu sein. Es gab leeren Wohnraum. Verweigerer und Türken kamen. Das Alternativpersonal und machte Berlin bunt. Techno kam aus Detroit und Berlin.

    Jetzt kommen reiche Kinder reicher Eltern wegen der Vielfalt und klagen die lauten Kneipen raus (aktuell: Tomsky). Berlin wird so langweilig wie die Provinz vor der sie geflohen sind. Und so teuer.

    Die mächtigste power group ist die Baumafia.
    Momentan stellt die wieder den Senat.

  4. Godwin am Mai 24th, 2023 9:27 pm

    „ist heute woke, also kleinbürgerlich“

    steile These: der Kern und größte Teil der Hausbesetzer-Szene war das schon von Anfang an.

  5. ... der Trittbrettschreiber am Mai 26th, 2023 9:12 am

    Bild 4 und bild 5 (von oben nach unten gezählt) zeigen den Wandel von einer eher Laissez-Faire Gesellschaft hin zum akribisch aufgeräumten Kinderzimmer, in dem das Offline-Leben weitestgehend in die IKEA-Truhe neben dem Berg der über Stunden gebrauchten Bettwäsche verbannt worden ist.
    Wo einst der Cappuccino schwappte, zieren heute rot weiß gestrichene Pseudosicherheitspömpel die asphaltierte beampelte Hinterhofpräirie und ein weit verbreitetes Spielzeug unserer infantilisierten grünschimmelnden Gesellschaft ist fein und akkurat abgestellt, statt nach der Mainier kleinerer, noch vernünftiger Kinder einfach hingeschmissen.
    Es ist nicht der Jugend zuzuschreiben sondern den in fortschreitender Überalterung wieder kindlich gewordenen und das schlechte Gewissen verdrängen wollenden Nach-nach-68er-Eltern, die wie eigentlich alle guten Eltern sich selbst anstelle ihrer Kinder eine bessere, erfolgreichere und vor allem egoistischere Zeit wünschen.
    Was aber geschieht hinter der friedlichen, an einen öden Unicampus anmutenden Fassade? In vergangenen Tagn konnte man davon ausgehen, dass hinter Gardinen bewehrten Glanzfenstern der Doppelkorn das Regiment in der vollgekotzen Küche führte – hier und heute allerdings ist FUNtasie von nöten, denn so ein Lasten-E-bike fährt ja nicht mit Jägermeister oder Rixdorfer Fassbrause.
    Ich vermute den Grund als Fan sauberer Städte, Wohnungen und vor allem Hirne den heilenden und moderne Beauty-OPs überflüssig machenden regelmäßigen Konsum eines nordischen Brauereierzeugnisses.

    Wenn Euch dieser Wokenessratgeber gefallen hat, gebt mir ein ….hx (oder gleich 2?)

    Bei Negativ-Bewertungen bitte ein ZISCH.

    BITTE KEIN PLOPP!

  6. nh am Mai 26th, 2023 6:19 pm

    @Trittbrettschreiber
    War noch nie dort und möchte da auch nicht hin.
    Das richtige Leben findet sich in den Slums, den Plattenbauten und Hamsterkäfigen des vielgepriesenen Sozialismus.
    Käfighaltung fürs Pack, Millionenvillen für die Regentschaft.
    War schon immer so, egal wer einem das Blaue vom Himmel herunterlügt und egal welcher politischen Coleur.
    Das System ist von Grund auf verrottet seit ewigen Zeiten.
    War es früher die Religion, ist es heute die Ideologie.
    Ich plädiere für jede Menge hx auch wenn es mir nicht zustehen sollte.
    Und jetzt sag ich lieber nichts mehr.

Schreibe einen Kommentar