„Man darf keinen Mut brauchen, um frei zu sprechen“

martenstein

„Niemand ist mehr sicher, auch dann nicht, wenn zahlreiche Blechorden in Form von Journalistenpreisen an der Brust baumeln. Das ist eine klare Botschaft an junge Journalisten, niemals einen Satz zu schreiben, mit dem nicht schon mindestens zehn Kollegen durchgekommen sind, ohne unliebsam aufzufallen.“ Ein großartiger Satz. lieber Kollege Martenstein, Und meine allergrößte Hochachtung.

Mein obiger Kommentar wurde von der „Welt“, obwohl ich Abonnent bin, nicht veröffentlicht. Vielleicht wollen die nur, dass niemand versehentlich nach meiner Website googelt und dann nackte Avatarinnen Avatare sieht?

Nein, ich stimme mit Martenstein nicht überein. Was soll denn „totalitär“ heißen? Den gefühlten Druck aus Wokistan kann man aushalten, zumal die Shitstormer in ihrer eigenen Blase bleiben. Wer aber denkt, die „Welt“ etwa sei liberaler als der „Tagesspiegel“, sollte dort kurz die Rubriken „Wirtschaft“ und „Geschichte“ streifen: Was einem da für ein hanebüchener Unsinn entgegenquillt, geht auf keine Kuhhaut.

Ich habe die „Welt“ abonniert, weil ich gern die Nachrichten genderdoppelpunktfrei lese. Eine Meinung habe ich schon, da ist es egal, wo ich mir den Rest abhole.

„Es ging mir darum, dass man im Dialog mit anderen nicht sofort den größtmöglichen Vorwurf auffahren sollte, auch im Dialog mit solchen Impfgegnern. Ich kann jeden verstehen, der es anders sieht. Manche sehen es ähnlich, etwa Ralph Levin, der dem Schweizer Pendant zum deutschen Zentralrat der Juden vorsteht und über Demonstranten mit Judenstern gesagt hat, sie seien „vor allem dumm“, aber „nicht per se antisemitisch“. Auch er kann sich irren. (…)

Meinungsfreiheit ist nicht der historische Normalfall, sie ist eine kostbare Ausnahme. Man muss Tag für Tag um sie kämpfen, sonst ist sie schnell weg, und das ist nicht gut für die Gesundheit. (…)

Martenstein unterliegt der Illusion aller klassischen Liberalen, die bürgerliche Presse garantiere Meinungsfreiheit. Sie tut das nur so lange, wie das System, auf dem sie fußt, nicht gefährdet wird. Das ist sehr dünnes Eis, auf dem man sich bewegt, appellierte an den Anspruch, die Medien bildeten alle Meinungen ab, womöglich auch noch „objektiv“. Das war noch nie so.

Interessant in Martensteins Artikel ist aber vor allem, dass – wenn es stimmt – der „Tagesspiegel“ glatt gelogen hat, wenn man dort behauptete, das normale Procedere eingehalten zu haben, wenn es Beschwerden gegen einen Artikel gibt – etwas, den Autor zunächst zu fragen, was er dazu zu sagen habe:

Nach der Veröffentlichung passierte tagelang gar nichts, niemand vom „Tagesspiegel“ meldete sich.(…) Ich bekam keinen einzigen Leserbrief zu dieser Kolumne. Briefe oder sonstige Stellungnahmen zu meinen Texten werden natürlich immer an mich weitergeleitet, damit ich reagieren kann. Ich war also arglos.

Acht Tage nach Erscheinen der Kolumne gab es ein Telefonat: …es dauerte nur wenige Minuten. Ich kann daraus nur sinngemäß zitieren, mitschreiben konnte ich nicht. Die Leserschaft der Zeitung sei empört über mich, gerade auch Leser, die meine Texte bisher mochten. Auch die Kollegen seien empört über mich, einschließlich derer, die bis jetzt immer noch zu mir gehalten hätten. Er nannte den Namen einer Person, mit der ich seit Jahrzehnten befreundet bin. Sie hätten Experten befragt, mein Text verharmlose Antisemitismus. Auf die Frage, wer das gewesen sei, nannte er zwei Namen, den einen habe ich vergessen, der andere war der Historiker Michael Wolffsohn, der diese Diagnose aber gegenüber WELT inzwischen bestritten hat. Das also war die Botschaft: Du stehst allein. Niemand hält zu dir. Du hast jeden Kredit verspielt.

…man habe „selbstverständlich auch mit dem Autor gesprochen“. Das war mir neu. In der Erklärung wurden „Standards dieser Redaktion“ vorgetragen, zum Teil Grundlagen jedweden Journalismus’, die ich, dieser Schluss musste sich für die Leser aufdrängen, offenbar allesamt verletzt hatte. Durch was und wie genau, ging aus dem Text nicht hervor. Es war eine Art Vernichtungsversuch, was meine berufliche Reputation angeht.

So hätte ich das auch empfunden. Jetzt muss ich kurz nachsehen: 2014 brachte der „Tagesspiegel“ die Schlagzeile „Muslime sind die neuen Juden“, eine These, die der Chefredaktion offenbar bis heute plausibel vorkommt, der Text steht noch im Netz. Dafür, dass der deutsche Staat einen Massenmord an Muslimen plant, würde man doch gern den einen oder anderen Beleg sehen.

Da drängt sich etwas auf: Genderdoppelpunkte, „Muslime sind die neuen Juden“ und Zensur – da wächst zusammen, was eh schon immer zusammengehörte.

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Kommentare

6 Kommentare zu “„Man darf keinen Mut brauchen, um frei zu sprechen“”

  1. Gottfried24 am Februar 27th, 2022 12:28 pm

    Liest jemand die Kommentare unter den Artikeln des Tagesspiegel?

    Mehr und mehr Diskutanten (?) gehen dazu über den Martenstein zu schmähen und die Tagesspiegel Moderation löscht das nicht. Teilweise passiert das völlig sinnfrei, z. B. unter einem Artikel zu Putin vergleicht ein Forist den Putin plötzlich mit Martenstein und ist froh das der TP den M. rauswarf. So unbeliebt wie der Herr Maaßen ist der Herr Martenstein bei den TP-Foristen und TP-Autoren aber noch nicht.

    Was soll denn „totalitär“ heißen?

    Ha ha ha! Das ist eine tolle Frage von einem Ex-Maoisten, der damals gerne den Mao Kommunismus in Deutschland eingeführt hätte. Ich lese gerade die Ausschwitz „Akten“. Bisher hat das noch keiner der Angeklagten vorgebracht. Ich bin aber noch lange nicht bei den Schlußplädoyers.

  2. Corsin am Februar 27th, 2022 10:43 pm

    „Wokistan“ ist seit Donnerstag eine historische Randnote.

  3. Jens am Februar 28th, 2022 8:43 am

    Guten Tag zusammmen,
    ich bin der festen Überzeugung, dass da im Hintergrund Dinge passiert sein müssen, über welche beide Parteien nicht so gerne reden wollen.
    Irgendwas auf der persönlichen Ebene. Plus evtl. irgendwelche Banalitäten die sich subsummiert hatten — die leere Klopapierrolle nicht ersetzt, Harzer Käse unverpackt im Gemeinschaftskühlschrank etc. Plus ein paar flapsige Bemerkungen von „oben herab“ an ein paar Schnellbeleidigte — da ist man auch ggf. „wegen nix“ plötzlich Paria und weg vom Fenster.

    Gruß
    Jens

  4. ... der Trittbrettschreiber am Februar 28th, 2022 9:28 am

    @Jens

    Volle Zu-Stimmung. Mir geht das jeden Monat so mit der Voicebox meiner Bank – und am Ende ist ist nix mehr auf dem Konto. Die Welt muss einfach professioneller werden.

  5. jens am Februar 28th, 2022 2:46 pm

    … „Die Welt muss einfach professioneller werden.“
    Blöderweise geht es mittelfristig in die andere Richtung.
    (so im Sinne von: ich finde dich scheisse, weil du keine Gendersternchen benutzt …)

    Gruß
    Jens

  6. ... der Trittbrettschreiber am Februar 28th, 2022 3:34 pm

    @Jens

    ;)… danke für dieses Bild zur Kaffezeit. Ich stelle mir gerade einen Bio-Scheißhaufen vor, umkreist von Silber- und Goldsternchen*

    *
    Bitte auch beim Gendern nicht die Klassenunterschiede außer Acht lassen!

    https://www.youtube.com/watch?v=s06gViwsKqs

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