Grotesco fenomeno social [Update]

habanna babilonia

Ich las gerade wieder einmal und wie immer mit großem Vergnügen Eine Nacht in Havanna von Martin Cruz Smith und wurde neugierig, ob es über Jineterismo ein Sachbuch gebe. Ja, von Amir Valle: Habana Babilonia.

Ich muss gleich warnen: Wer ein romantisches revolutionär-verklärtes Bild vom „revolutionären“ Kuba hat, sollte das gar nicht erst lesen. Das Buch ist grandios – eine Mischung aus Selbstzeugnissen kubanischer Prostituierter (weiblich und männlich) und journalistischen Fakten über die Geschichte des Phänomens schon vor der Revolution. Ein Standardwerk – nur leider mit den Folgen, dass die KP Kubas die Realität lieber unter den Tisch kehrt und Amir Valle nicht mehr einreisen lässt. Unfassbar, wie unsouverän und kleinkariert die sind. Das müsste nicht so sein.

Amir Valle hat das Buch auf Youtube erläutert (Spanisch, Teil 1, Teil 2).

Rezension: Considerado el mayor best-seller clandestino de las letras cubanas, Habana Babilonia es un serio acercamiento periodistico y testimonial a la actualidad de la prostitucion en Cuba, a traves de las historias reales de jineteras, proxenetas, vendedores de productos en el mercado negro, dueños de casas de prostitucion, promotres de espectaculos de travestismo, policias y funcionarios corruptos, trabajadores de turismo, y otras figuras de la vida cotidiana y el poder politico vinculadas a este grotesco fenomeno social.

Recostruyendo la vida intima de una de las mas reconocidas jineteras de La Habana, Amir Valle revela testimonios, entrevistas y papeles personales de jineteras cubanas, junto a un enjudioso ensayo historico sobre la prostitucion en la isla, todo ello con un altisimo nivel literario que convierte a este libro en un clasico vivo de la literatura latinoamericana.

granma

Gestern diskutierten wir im Freundeskreis. Meine These: Jeder hat das Recht, seinen Körper zu verkaufen. Selbstbestimmte Prostitution ist moralisch nicht zu verurteilen. Aber gibt es das?

Mir wurde entgegengehalten, dass der Jineterismo nur existiere, weil Touristen reich seien und Kubaner im Vergleich arm (obwohl die Kubaner, was die Gesundheit angeht, vermutlich besser versorgt sind als der durchschnittliche Deutsche).

Das Problem ist IMHO komplizierter. Prostitution, also Sex gegen Geld, wird es immer geben, solange die Ehe existiert – und für Alleinstehende sowieso. Dazu gibt es einen interessanten Artikel Clara Zetkins:
Die veränderte Einstellung der Jugend zu den Fragen des sexuellen Lebens ist natürlich ›grundsätzlich‹ und beruft sich auf eine Theorie. Manche nennen ihre Einstellung ›revolutionär‹ und ›kommunistisch‹. Sie glauben ehrlich, daß dem so sei. Mir Altem imponiert das nicht. Obgleich ich nichts weniger als finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte ›neue sexuelle Leben‹ der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug als rein bürgerlich, als eine Erweiterung des gutbürgerlichen Bordells. Das alles hat mit der Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiß die famose Theorie, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses, so einfach und belanglos sei wie ›das Trinken eines Glases Wasser‹. Diese Glas-Wasser-Theorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. Ihre Anhänger behaupten, daß sie marxistisch sei. Ich danke für einen solchen Marxismus, der alle Erscheinungen und Umwandlungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft unmittelbar und gradlinig aus deren wirtschaftlicher Basis ableitet. Gar so einfach liegen denn doch die Dinge nicht. (…)

Im sexuellen Leben wirkt sich nicht bloß das Naturgegebene aus, sondern auch das Kulturgewordene, mag es nun hoch oder niedrig sein. Engels hat in seinem ›Ursprung der Familie‹ darauf hingewiesen, wie bedeutsam es ist, daß sich der allgemeine Geschlechtstrieb zur individuellen Geschlechtsliebe entwickelt und verfeinert hat. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander sind doch nicht einfach ein Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Wirtschaft der Gesellschaft und einem physischen Bedürfnis, das durch die physiologische Betrachtung gedanklich isoliert wird. (…)

Die Zügellosigkeit des sexuellen Lebens ist bürgerlich, ist Verfallserscheinung.

Das halte ich, mit Verlaub, Genossin Zetkin, für gehobenen Blödsinn.

habanna babilonia
Altstadt von Havanna, fotografiert 1984

Die Ehe auch im Kapitalismus und auch in anderen Gesellschaften, die sich „sozialistisch“ nennen, ist eine ökonomische Einheit zur Aufzucht des Nachwuchses, der evolutionär erwünscht ist, und wird „veredelt“ durch Gefühle, die man gemeinhin Liebe nennt. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Die alten Griechen waren da schon viel weiter und differenzierten zwischen agápe, éros, philía, philautia, storgē, und xenia. Wenn Éros irgendwann nicht mehr da sein sollte, warum sollte man sich gegenseitig in Geiselhaft nehmen, wenn die Ehe nicht in Frage steht, und dem oder der anderen Sex aka „Seitensprünge“ verbieten? Das habe ich noch nie verstanden.

Da kommt dann Sex gegen Geld ins Spiel. In Kuba müsste es keine Zuhälter und keine illegalen Bordelle geben, wenn nicht offiziell geheuchelt würde, wenn nicht die Polizei teilweise mitspielte oder sogar korrupt ist. Verbieten kann man das Phänomen ohnehin nicht.

PS Auf Facebook wurde ich gleich für eine Woche gesperrt – weil ich den Buchtitel gepostet hatte. :-)

[Update] Ein sehr schönes Posting zum Thema: How to handle Jineteros and Jineteras.

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Kommentare

8 Kommentare zu “Grotesco fenomeno social [Update]”

  1. flurdab am Dezember 29th, 2019 9:39 am

    Ach Burks, du hast das grundsätzliche Prinzip der Ehe nicht verstanden. Man hat nicht geheiratet um monogam zu leben, erst die Ehe ermöglichte die „Zügellosigkeit“.
    Das 6. Gebot und seine völlige Fehlinterpretation bilden dafür die moralische Grundlage. Fehlinterpretation, weil ein Seitensprung die Ehe nicht brechen kann. Erst der „Betrogene“ bricht die Ehe aus meist niedrigen Motiven heraus.
    Es scheint eine Eigenschaft des Menschen zu sein sich um Arbeit zu drücken wenn es möglich ist, nur beim „Seitensprung“ wird ein Drama daraus gemacht, anstatt zu sagen „Ok hat sich schon jemand gekümmert“. Das ist doch Grotesk.
    Bei der Prostitution sehe ich persönlich immer materielle Not als Motivation.
    Der Fall das einer/ einem Prostituierten das Leben in der 20 Zimmer Villa oder auf der 80 Meter Yacht so fad geworden ist, dass er/ sie nun seinen Arsch verkauft, ist mir schlicht nicht bekannt.

  2. flurdab am Dezember 29th, 2019 9:50 am

    „Sex gegen Geld“, was ist das überhaupt für ein Thema?
    Ein manipulativer Trigger an die Spendenbereitschaft deiner Leser?
    Das hast du doch nicht nötig.
    Da gibt es doch auch andere Möglichkeiten. OK, man muss halt Zugeständnisse an die Knusprigkeit machen, aber so rösch ist man ja selber auch nicht mehr.
    Was helfen soll ist das absetzen er Brille und das dämmen des Lichts.;-)
    Frohes Frohlocken

  3. Messdiener am Dezember 29th, 2019 12:51 pm

    Wen das Thema ‚Realismo sucio‘ interessiert? Hier noch ein kubanischer Autor.

    http://www.pedrojuangutierrez.com/Biografia_Aleman.htm

  4. Godwin am Dezember 29th, 2019 3:53 pm

    erinnert ein wenig an Luther:
    die Freiheit des Christenmenschen predigen, aber wehe die Bauern begehren gegen die Ständeordnung auf…

    so ähnlich auch das Gebaren der sog. linken beim Thema Sexualität und Selbstbestimmung über den Körper.
    wenn Zetkin sich selbst als Asketin beschreibt, scheint für mich da die tiefsitzende protestantische (fast schon puritanistische) Ethik durch.
    (vgl. Thea Dorn „Abendbrot“ in „Die deutsche Seele“ – als bewusstes Absetzen von den Abendschlemmereien in katholischen Ländern)

    Da lob ich mir die Anarchisten:
    https://en.wikipedia.org/wiki/Anarchism_and_issues_related_to_love_and_sex

    Btw – man sollte nicht vergessen, dass Kuba trotz politisch verordnetem Staatssozialismus immer noch eine tief katholische Bevölkerung hat.

  5. ... der Trittbrettschreiber am Dezember 29th, 2019 6:25 pm

    Diese hybrierenden Begriffe wie Sexualität, Mortalität, Liquidität oder Frigidität sind ja schon rein bürgerlich, d.h. die Zustände oder Vorgänge wie sterben, rammeln, bumsen, pudern oder für die ganz Schamlosen auch ficken sind ja für diese Klasse, Rasse oder Spezie wie den die drei Parteien wählenden Durchschnittsbiertrinker unaushaltbar. Aus diesem Grund wird verwissenschaftlicht und theoretisiert. Man kann dann drüber reden, als hätte man (und das ist ja auch so) nichts damit zu tun. Erst im Puff, dem Ehe-Aliud, kann man es nochmal versuchen aber nur indem man dabei aus dem rot erleuchteten Fenster hinaus in Richtung Dom schaut. Dem in Langeweile routiniert gespielt lüsterner Show vibrierenden, schaukelnden und stoßenden Dienstleistungs-Tool alias Prostituiertenasrsch darf sich dabei nicht wirklich gewidmet werden, denn sonst ist der Sexgeber (also der der Geld zahlt) in permanenter Gefahr, nicht nur sein Geld sondern auch noch seine Libido los zu sein, die er aber als Hypothek auf seine Ehe beim Standesamt einst hatte eintragen lassen. Just gerade noch vor dem im alt- und fremdspermienversifften Lotterbette einsetzenden Discounterorgasmus fand sicher schon so mancher arme Lüstling den Weg zur Verzweiflungsentscheidung, ein Buch über Prostitution zu schreiben – na wenn’s half…

    Hätte die Flasche sich doch nur eine Flasche mit echtem Inhalt gekauft…

  6. Pjotr56 am Dezember 30th, 2019 7:05 pm

    @ burks: Hat Amir Valle sich irgendwann zu den internationalen Handelssanktionen gegen Kuba, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes seit der Revolution 1959 behindern, geäußert?

    Nein? Dann soll er besser den Mund halten. Die Konterrevolution ist in Kuba allgegenwärtig, da braucht es keine unproduktiven Statements aus der Berliner Szene.

  7. admin am Dezember 30th, 2019 8:12 pm

    Die Wahrheit ist unproduktiv?? Das ist doch lächerlich.

  8. flurdab am Dezember 31st, 2019 11:38 am

    OT, aber so was von:

    Ich sehe gerade die Neugestaltung des Märchens „Rumpelstilzchen“.
    Haben Ihr diese Fantasie jemals unter dem Gesichtspunkt des Marxismus betrachtet?
    Es ist die reinste Kapitalismus/ Globalisierungskritik.
    Da wird aus Stroh (Werbung) Gold (Geld) gesponnen.
    Die Müllers Tochter muss ihr Kind in den Fron des Rumpelstilzechens versprechen (Sklaverei).
    Der Name „Rumpelstilzchen“ ist nicht bekannt, das herrschende System verschweigt seinen Namen (marktkonforme Demokratie aka Kapitalismus).

    Das Märchen dürfte gut 250 Jahre alt sein, ist aber nie unter dieser Prämisse erzählt worden.

    So, jetzt geht es in den Puff!

    Grüße

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