Klassenhabitus oder: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!

Nur mal kurz zwischendurch. Florian Kessler auf Zeit online: „Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so brav und konformistisch? Weil die Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim alle aus demselben saturierten Milieu kommen.“

Was für Journalisten gilt, gilt natürlich auch für Schriftsteller. Eribon (jaja, ich werde noch mehr über ihn schreiben, eine wahre Fundgrube) nennt das „Klassenhabitus“, den man nicht so einfach ablegen kann, weil dieser Habitus aus einer Vielzahl von kulturellen Techniken besteht, die man in seinem eigenen sozialen Milieu gelernt hat.

(sociology)The lifestyle, values, dispositions and expectations of particular social groups that are acquired through the activities and experiences of everyday life.

Eribon wird hierzulande aber schnell zu den Akten gelegt werden, weil marxistische Begriffe wie „Klasse“ und die Konsequenzen daraus durch die freiwillige ideologische Selbstkontrolle nicht erlaubt sind. (Eribon ist kein „Marxist“).

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Kommentare

6 Kommentare zu “Klassenhabitus oder: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!”

  1. ... der Trittbrettschreiber am November 11th, 2016 12:45 pm

    Auf dem Lande nennt man das Stallgeruch. Wer anders riecht, wird ignoriert oder fliegt raus. Gilt auch im Bienenstock. Nur wer ordentlich Kohle, Penunsen oder Leckerlies mitbringt, wird „eingenordet“ und darf bleiben und sich in der Hierachie hochrackern.
    Man kann dieses Phänomen natürlich auch wissenschaftlich erforschen und publizieren(e.g. Soziologie). Erst nach 2000 Seiten Lektüre und dem evolutionär darauf folgenden Klassenwechsel(-upgrade) darf man dann elaboriert darüber plaudern. PUHHH, welch ein olfaktorisches Dasein.

  2. LordPiccolo am November 11th, 2016 2:41 pm

    Mit Bourdieu und seinen Schülern habe ich da so meine Schwierigkeiten. Zwar zeigt er auf, wie durch ökonomische Ungleichheiten bzw. Klassenverhältnisse verschiedene Habitus zu Stande kommen.
    Aber wieso gibt es überhaupt diese Verhältnisse? Wieso ist, wie er sagt, das ökonomische Kapital die alles determinierende Form?
    Dazu hat er leider wenig zu sagen :(

    http://www.trend.infopartisan.net/trd7809/t677809.html

  3. blu_frisbee am November 12th, 2016 1:37 am

    @Trittbrettschreiber es hängt nicht so sehr am Geld, das Bildungsbürgertum hat als Eigentum nur die Bildung. Es hängt wesentlich am Benehmen und ist Ausdruck von geistigen Haltungen, wie man die Welt sieht. Da prägt das Elternhaus sehr, ein entspr. Bildungskanon (Kunst) ist unabdingbar für small talk.

  4. Dirk am November 13th, 2016 12:05 am

    Bourdieu und Marx verwenden einen ähnlichen Praxisbegriff. Bourdieus Kritik an Marx bezieht sich auf die Lesart Althussers. Bourdieu geht davon aus, dass Märkte erst durch politische Entscheidungen konstituiert werden. Daher bestreitet er, dass es ein autonomes ökonomisches System gibt. Sein Ansatz kann aber sehr wohl zeigen zeigen, welche Akteure mit welchen Entscheidungen den neoliberalen Umbau von Staat und Gesellschaft voran treiben. Dies würde ich als Stärke sehen da Bourdieu hier politische Konflikte im Blick behält und politische Entscheidungen nicht auf allgemeine Gesetzmäßigleiten reduziert.

  5. ... der Trittbrettschreiber am November 13th, 2016 3:04 pm

    @blu_frisbee

    Ja, Metaphern sind nicht immer so treffend, wie man das so möchte – aber immer einen Versuch wert, um Perspektiven zu wechseln. Ein aussagekräftiger Small Talk ist natürlich auch ein Mitbringsel,um im Stall aufgenommen zu werden oder bleiben zu dürfen. Nicht umsonst hat sich das Bildungsbürgertum unter die 68er gemischt, um dann im „richtigen“ Moment wieder, mit neuen Geruchsproben in der Krokotasche, in den konservativen Ohrensessel zu plumpsen und den 1000 jährigen Muff wieder unter den Talaren zu verstecken. So ist das Spiel, wer die Gegenwart zu ernst nimmt, hat in der Zukunft oft das Nachsehen.
    Ob Herr Dutschke heute wohl an den Unis bewundert würde, wie ein Fußballer in den Kneipen „Echt jetzt, Herr Professor – Sie waren mal dagegen, damals?“

    PS Bildung als Eigentum?

  6. Najanun am November 15th, 2016 12:40 pm

    Na das ist mir denn doch zu einfach heruntergebrochen. Natürlich erzeugt ein (schon allein im Namen anachronistische) „Studiengang Schriftstellerei“ in Gefahr der gleichförmige stehende Persönchen. Die nichts mit der inhärenten Pflicht der Schriftstellerei anfangen können, Gesellschaften und ihre Entwicklung zu hinterfragen, zu assoziieren oder als Utopie weiterzudenken.

    Aber diese paar Schreiberlinge, die meinen, sich dank eines Diploms bereits „Schriftsteller“ nennen zu dürfen, sind nicht das Problem.

    Das Problem, das ich sehe, ist, daß es zwar viele kritische, hinterfragende, stilistisch sattelfeste, nicht-stallgerüchige Kolleginnen und Kollegen gibt. Aber deren teilweise inhaltlich udn sprachlich, manchmal auch akademisch hervorragenden Werke kommen schlicht nicht bis zur Druckerei: Die Verlage sind daran nicht interessiert.

    Und je mehr wir uns mit einem dienstleistenden Agentenwesen (vulgo: autorenbezahltes Vorlektorat) umgeben, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, daß sich daran etwas ändert.

    Da ein Buch nur lebt, wenn es gelesen wird, sind renommierte Kleinverlage kein Ausweg aus der Misere. Nein, lattemacchiatotrinkende Möchtegernschriftstellerchen mit Mainstreamfrisur sind nicht der Kern des Problems.

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