Die Bösen sind die Anderen

Dieser Artikel von mir erschien am 01.07.1998 in der „Jungle World“ und ist gerade wieder aktuell (vgl. blockupy).

Über die Inszenierung von Gewalt

In Berlin-Kreuzberg haben zwanzig türkische Jugendliche einen deutschen Polizisten so verprügelt, daß er im Koma liegt. Der Polizist ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im brandenburgischen Pritzwalk haben zwanzig Skinheads einen Punker so verprügelt, daß er im Koma liegt. Das Opfer ist unverheiratet und hat keine Kinder. In Köln verprügeln zwanzig islamische Fundamentalisten einen algerischen Oppositionellen. Täter wie Opfer sind Asylbewerber. In Hamburg verprügeln zwanzig Albaner einen Jugoslawen. Täter wie Opfer gehören zum Rotlichtmilieu. Ausländische Hooligans (von Frankreich aus gesehen) verprügeln einen einheimischen Polizisten.

Gelogen, gut erfunden oder wahr? Nichts sagt mehr über eine Gesellschaft aus als die Art und Weise, wie sie über Gewalt redet. Der Gewalt-Diskurs ist eine Meta-Theorie, mittels derer unterschiedliche Milieus darüber kommunizieren, wie sie andere Milieus sehen. Jedes Milieu hat Lobbyisten, Experten, die vorgeben, den verschlüsselten Kode der anderen Milieus verstehen zu können. Die Experten in weniger komplexen Gesellschaften, von Ethnologen Trickster genannt, vermitteln zwischen den Menschen und den Göttern, also zwischen zwei Sphären, die kaum etwas miteinander zu tun haben oder die Sprache der anderen nur verstehen, wenn sie sich eines Dritten bedienen. Bricht der Dritte die Regeln, wie der mythische Prometheus, der den Göttern das Feuer raubt, also Teil ihres Machtmonopols, wird er bestraft.

Die Experten in hochkomplexen Systemen sind dafür da, einem Milieu einleuchtend zu erklären, daß das Böse aus dem jeweils anderen Milieu stammt. Die Experten weisen Schuld zu und aktivieren und entlasten das Milieu, das jeweils bezahlt. Das traditionell konservative Milieu macht die Erzieher der neuen Mittelschichten für den Werteverlust verantwortlich. Lehrer und Sozialarbeiter geben ihren Geldgebern die Schuld – zu wenig Mittel für Jugendarbeit sind die Ursache für Gewalt, Drogenmißbrauch usw. Parteien sehen bestätigt, was sie jeweils schon wußten: fehlende soziale Gerechtigkeit (PDS) alias Kapitalismus ist schuld. Ganz besonders gefragt sind Experten, Trickster, die sich allgemein kulturpessimistisch äußern, daß sich alle bestätigt fühlen können: Früher war alles besser, heute jedoch beoabachten wir Individualisierung und Destabilisierung sozialer Milieus. Der unverständliche und schwammige Kode der Experten suggeriert, daß es einen Meta-Code des Gewalt-Diskurses gäbe, was sie dazu prädestiniert, von verschiedenen Milieus mit unterschiedlichen Interessen positiv vereinnahmt zu werden.

Nicht die, die die Macht haben, sind böse, sondern andere. Das Gewaltmonopol der Herrschenden darf im Diskurs nicht vorkommen. Besonders die Jugend ist gefährdet, sich nicht an die Regeln zu halten, und potentiell gewalttätig und drogensüchtig. Die nachwachsende Generation ist – noch! – nicht so wie wir. Die Jugend ist aber resozialisierbar. Der Kick des Diskurses läßt sich nur steigern, wenn die Gesellschaft als Inkarnation des Bösen – neben der Jugend – marginalisierte Gruppen medial erzeugt als warnendes Beispiel dafür, daß denen nicht zu helfen ist. Nazis sind die Arbeitslosen, die sozial Schwachen, die Doofen. Skinheads haben keine Lehrstelle und keine Zukunft. Männer aus diskurs-erprobten Mittelschichten erklären, daß sexuelle Gewalt bei proletarischen Männer ein Problem ist. Türken und Araber sind Machos. Rassismus und Antisemitismus beobachten wir nur bei den Nazis.

Die Lobbyisten der Berufs-Betroffenen (Helfen und Heilen) reden über Gewalt mittels Jugendlicher. Die können nichts dafür, daß sie so sind. Die Gesellschaft will sie wiederhaben. Die Lobbyisten der harten Hand (Strafen und Einsperren) rufen: die Obrigkeit muß gegen das Böse härter durchgreifen! Nazi-Zeitungen verbieten! Mit der ganzen (nicht etwa der halben!) Härte des Gesetzes gegen Chaoten vorgehen usw. Die Bösen, die hier gemeint sind, können etwas dafür, daß sie so sind. Die Gesellschaft will sie nicht mehr. Sie sind Psychopathen – „hirnverbrannte Schläger“. Drogenmißbrauch führt zu Hirnschäden.

Wozu dient der Gewalt-Diskurs? Er verschafft der Gesellschaft Angstlust wie der Horrorfilm: Ohne Gewalt weiß niemand, was das Gute ist. Gut ist: Wollen wir mal darüber reden, mit einer Kerze in der Mitte. Runder Tisch. Reden ist erlaubte Gewalt, die Fortsetzung des Hooliganismus mit anderen Mittel. Beziehungsgespräche der neuen Mittelschichten sind ein gutes Beispiel. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie Frauen-, Männer-, Selbsterfahrungsgruppen. Reden heißt: der Sozialarbeiter zwingt dem Schläger sein Spiel und seine Regeln auf. Du mußt dich der Gruppe anpassen. Wo kämen wir denn hin. Wenn du es zu etwas bringen willst, mußt du das tun und jenes lassen. Der Arbeitsmarkt im Kapitalismus belohnt dich dafür, daß du kein Warlord bist. Geld, Frauen, Liebe und Prestige sollen die kompensatorische Gratifikation für Gewalt sein.

Wer Macht hat, redet nicht über Gewalt. Die Herrschenden können andere beauftragen, Gesetze zu erlassen, die die Beherrschten zwingen, ihren Wünschen nachzukommen (Asylgesetz alias „Ausländer raus“). Wer über Gewalt kommuniziert, demonstriert, daß er selbst über nur begrenzte Macht verfügt. Man will, daß die, die den eigenen sozialen Status potentiell bedrohen, sich an Regeln halten, die man selbst aufgestellt hat. Nur die Mittelschichten fordern von allen anderen, sich an Regeln zu halten, weil sie „Angst vor dem Absturz“ (Barbara Ehrenreich) haben. Wer aufsteigen will, muß die Werte der Gesellschaft verinnerlichen und sich selbst kontrollieren. Beherrsche dich, und nicht etwa andere! Der soziale Aufsteiger ist gegen Gewalt, weil Gewalt archaisch ist und die Regeln, die ihm ein gesichertes Leben ermöglichen, ad absurdum führt. Der klassische Radfahrer tritt nach unten, aber fordert gleichzeitig, daß die da oben das nicht tun. Sie sollen ihn dafür belohnen, daß er sich an die Regeln hält.

Gewalt ist eine Ikone, ein sinnliches, also medial vermitteltes Bild eines Phänomens, das unterschiedliche Gruppen jeweils verschieden wahrnehmen und interpretieren. Hooligans finden Gewalt geil. Sie verschafft ihnen alles, was das Leben versprechen kann: Körpergefühl, Überschreiten der Grenzen, Macht, Gruppendynamik, Thrill. Ein Trip ohne psychotrope Hilfsmittel.

Die Berufs-Betroffenen, allen voran Theologen, finden Gewalt abscheulich. Politiker distanzieren sich von Gewalt, als wenn sie es nötig hätten. Psychologen erklären Gewalt denen, die nicht wissen, woher sie kommt. Sozialarbeiter verstehen Gewalt, weil sie ihre Klientel verstehen. Lehrer reden über Gewalt mit denen, die sich ihrer nicht bedienen sollten. Mach einen Bogen um das Böse. Soldaten und Polizisten sind gewalttätig, weil sie es dürfen. Mach also einen Bogen um das Böse nur dann, wenn es verboten ist – das ist so überflüssig wie ein weißer Schimmel.

Sagt ein Experte etwas, das die Gesellschaft nicht hören will, wird er bestraft – indem man ihn nicht beachtet, ihm seinen Status als Wissender aberkennt, indem die Medien ihn nicht wahrnehmen, oder indem man ihn mit seiner exotischen Meinung als Gegenpol zu den Anerkannten akzeptiert, als Schatten, den das Licht der anderen wirft. Der Diskurs über Gewalt ist so ritualisiert wie eine katholische Messe. Alles hat seinen Platz und ist schon vorab bekannt. In komplexen Gesellschaften wie dem Kapitalismus westlicher Industrieländer ist Gewalt nur noch als physische Gewalt öffentlich existent. Gewalt als allgegenwärtige Methode, anderen meinen Willen aufzuzwingen, darf nicht das Thema sein. Wer über Gewalt redet, redet immer nur über ein Segment der Gewalt. Wer über Gewalt kommuniziert, zwingt anderen Milieus seine Definition dessen auf, welches Mittel, um sich durchzusetzen, erlaubt ist und welches nicht. Wer sich diesem Konsens verweigert, bekommt einen Titel, damit wir das Böse anthropomorph begreifen können: Hooligan, Skinhead, Drogenabhängiger, Außenseiter, Vergewaltiger, Minderheit.

Die Unterschicht wird zur Metapher, die gewaltfreien Angepaßten projizieren Physis, Erotik und Abenteuer: Die Ikonen Marlon Brando, James Dean und Che Guevara waren in ihren Inszenierung potentiell gewalttätig – wie Hooligans. Der Rocker oder Halb (!) starke ist ein verkappter Hooligan. Waffen für Nicaragua. Die Gefährlichen tragen Leder- oder Bomberjacke. An ihrer Spitze marschieren schöne Frauen mit geöffneter Bluse und der richtigen Fahne. Die an die Futterplätze drängen, die das Bestehende umwälzen, von oben nach unten, kollektiv oder nur als Individuum, sind Teil einer kollektiven Gewaltphantasie und können nur durch Sex (die höhere Tochter und der Prolet, die Schöne und das Biest) zivilisiert werden oder dadurch, daß die Männer, die von unten kommen, mit Privilegien bestochen werden. In den Fünfzigern gab es in der öffentlichen Inszenierung keine Rebellion und keine Gewalt, deshalb war das Geschlechterverhältnis umgekehrt: Die Försterliesel war besonders brav, deshalb erwählte sie der Graf zu seiner Braut.

Heute muß der junge Mann wider den Stachel löcken, um medial attraktiv zu sein. MTV und Viva inszenieren die kollektive Gewaltphantasie der Mittelschichten, ungefährlich eingebettet in den Rahmen der geschützten Bühne, und die Künstler dürfen das Hotelzimmer zu Kleinholz verarbeiten oder sich mit Drogen vollpumpen und ungezügelten Sex haben, weil sie das stellvertretend für das Publikum tun, das sich das nicht gestattet. Wo kämen wir denn hin.

Der Diskurs über Gewalt definiert immer ein Außen-Innen-Verhältnis. Gewalt ist um so gefährlicher, je mehr sie von den Rändern kommt: Jugend – ein Schritt von der Mitte entfernt, Randgruppe, zwei Schritte, Ausländer, drei Schritte. Die Inkarnation des Bösen ist ein gewalttätiger jugendlicher Ausländer. Ein Widerspruch in sich ist ein erwachsener deutscher, aber nur in der Freizeit prügelnder Hooligan, der weder sozial marginalisiert ist noch ein politisches Motiv hat, was ihn einer Randgruppe zuordnen würde. So etwas gibt es nicht, genausowenig wie es Rassisten und Antisemiten im Bundestag gibt, die man einsperren oder verbieten könnte.

Hooligans sind die Rache des Kapitalismus: Er nimmt die Wut und die Sehnsucht der armen Schweine und verkauft sie an privilegierte junge Männer aus den Mittelschichten. Die inszenieren den Aufstand so, daß er der Gesellschaft in den Kram paßt, unpolitisch, mittels erlaubter Drogen und nur punktuell die Grenzen überschreitend, daß nicht zu viele auf der Strecke bleiben. Fast wie die Bundeswehr in Bosnien.

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Kommentare

7 Kommentare zu “Die Bösen sind die Anderen”

  1. altautonomer am März 19th, 2015 7:16 am

    Sehr guter Text. Dickes Lob von mir, auch wenn es Dir unangenehm ist. Hab ich archiviert. Empfehle Wiedervorlage zum 7./8.6.2015 zum G7-Gipfel.

    Zur Definition von Gewalt fand ich noch eine von Hermann Gremlitza – als Ergänzung zu Deinem Text:
    „Gewalt ist aber nicht nur, das hat man jedenfalls noch 1968 gewußt, wenn ein Bourgeois mit grober Faust was auf die Fresse kriegt, sondern auch, wenn seine manikürte Hand mit einem goldenen Mont-Blanc-Füller die Entlassung von tausenden Proleten unterschreibt und mit diesem Federstrich das kleine Lebensglück nicht nur der Entlassenen, sondern auch ihrer Kinder zerstört. “

    flatters Text bekäme von mir auch eine Eins, wenn er den letzten Satz weggelassen hätte.

  2. altautonomer am März 19th, 2015 7:25 am

    Nachtrag: Bei der Verurteilung der Gewaltexzesse in Ffm gerät so macher Blogger schnell in das Fahrwasser der „Leitmedien“, die stets auf alles draufhauen, das schwarze Hoodies trägt und Demoauflagen bereits im Vorfeld missachtet.

    Ich erinnere an die Maidan-Aufstände mit wesentlich schlimmeren Auswüchsen, insbesondere gegen Polizisten (ab Min. 1:28), die jedoch als demokratische Revolution und Befreiungsbewegung wohlwollend medial begleitet wurden.

    https://www.youtube.com/watch?v=dnlbgfFBpoA

  3. Die Katze aus dem Sack am März 19th, 2015 3:42 pm

    Schlecht gemachten von gut gemeinten Journalismus zu unterscheiden, scheint die Aufgabe der Konsumenten zu sein, dies für sich jeweils zu entscheiden. Aber es ist denkbar einfach geworden, in einem übersichtlichen Parteiensystem, zu einer Meinung zu gelangen. Vor allem aber bequem ist es, worauf es letztlich ja auch ankam.

    Und so sind die Missionare allemal unterwegs, um uns ihre Botschaft zu verkünden. Ich höre! Ich lese! Ich sehe ja so viel! Was ich sehe, sind immer mehr Menschen, die nun auch schon tagsüber hier, nicht etwa nur im Dunkel der Nacht, kopfüber in den Mülleimern nach essbaren Resten einer nimmersatten Gesellschaft suchen. Aber meist ist Fehlanzeige. Die Flaschensammler waren schon durch, und nehmen sich mittlerweile auch nicht mehr nur Flaschen mit. Und so viel, lässt der prekäre Mittelstand schon lange nicht mehr im Müll zurück. Wachstum? Hier leider nicht.

    Und nun zur Kernfrage, warum ich und andere sich mit den Themen überhaupt beschäftigen sollen: Ja, warum und wozu eigentlich? Um etwas zu bewegen? Sich selbst? Eine Masse etwa? Menschenmassen? Ganze Staatsvölker, oder darf es auch etwas mehr sein? Die richtigen Parteien wählen? In den Widerstand gehen? Schlafende Hunde wecken? Aufrütteln das Einzelnen bis zur panischen Masse hin? Noch mehr Alternativen liefern, denen sich offenbar immer noch nicht genug zugewandt haben? Elend – ick hör‘ da trapsen.

    Viele halten das Ganze hier für normal, vernünftig und damit für alternativlos. Denn das würde ja bedeuten, dass jegliche Abweichung davon unnormal und unvernünftig wäre. So etwas wäre doch verrückt, wenn es das nicht schon ist. So können also Kritiker dieses selbstverständlichen Irrsinns demnach auch nur eines sein: Störer. Wenn nicht sogar Gestörte. Mit freundlichen Grüssen an/von Bürger Blöd.

    Du machst hier einen aufgeschrieben guten Job. Es gibt so viele Rufer in der Wüste, die ebenfalls viel herum gekommen sind und doch so wenig dabei sahen. Es ist wohl von Belang, wen man los schickt, um das zu sehen, was man selbst erst gar nicht erkennen kann. Vielleicht auch, weil es extra im Verborgenen bleiben sollte? Oh, man deckt auf. Was ist denn unter dem Leichentuch?

    SYSTEM MALFUNCTION!!
    INPUT OVERLOAD!!
    bla-bla-bla

    … shutdown in Progress …

  4. flatter am März 19th, 2015 10:41 pm

    Ich kann abstraktes Lob nicht leiden.
    Geiler Text!
    (Damit müssen wir jetzt irgendwie leben.)

  5. ... der Trittbrettschreiber am März 20th, 2015 7:03 am

    „Der Gewalt-Diskurs ist eine Meta-Theorie, …“
    Seit wann ist den ein Diskurs eine Theorie oder noch mehr eine Metatheorie, also im Habermas’schen Sinne?

  6. nh am März 20th, 2015 8:19 pm

    Wie damit umgehen ?
    Die grosse Frage.Mögen die Divergenzien des Plebs eventuell gewollt sein ? Wird nicht täglich am Feindbild geschürt, um Unruhe zu stiften Unsicherheit zu generieren um dann umso ungenierter Repressalien in Gesetze zu giessen ?
    Auf der anderen Seite sind Interessen berechtigt, den Normalo vor ausrastendenden Clans von „Asylsuchenden“ zu schützen.
    Es ist ein Ritt auf dem Hahnenkamm.
    Burks, wann ist Dir letztesmal auf dem Kiez die Brieftasche geklaut worden.
    Mit Ausweisen pipapo.
    „Angetanzt“.
    Oder breit in der U-Bahn.
    Täterprofil ? frag BILD.
    Es gibt keine Lösung.

  7. Schon wieder Lenin, Stuttgart und Unbequemes : Burks' Blog am Juni 23rd, 2020 7:46 am

    […] Zu Stuttgart (Randale und so) fiel mir ein Artikel ein, den ich vo 22 Jahren geschrieben habe und den man nicht verändern muss. Er ist […]

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