Hugo Schröder

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Mein Großvater Hugo, *07.01.1902 in Mittenwalde, heute Dąbrowa Mała, †26.4.1992 in Unna, als 18-Jähriger (1919 oder 1920).

Wenn man sich überlegt, wie und in welchen lächerlichen Posen sich heute 18-Jährige auf Instagram oder oder Snapchat und sonstwo präsentieren…

Kurt Waldemar Schröder *16.10.1927 †03.10.2020

kurt schröder
Eintrag im Kirchenbuch der Evangelischen Kirche Holzwickede

Ein Nachruf auf meinen Vater

kurt schröder

Mein Vater ist gestern um ca. 19.30 Uhr friedlich eingeschlafen. Er hat einen Nachruf verdient wie jeder andere „wichtige“ Mensch auch. Man könnte einwenden, ein Nachruf sei entweder etwas sehr Privates, und die Details, womöglich negative, interessierten nur die engsten Freunde und Verwandten, oder seien zu öffentlich, als dass man Dinge erwarten könne, die wirklich etwas aussagen und nicht nur an der sichtbaren Fassade hafteten. Das Leben meines Vaters ist jedoch exemplarisch für eine Generation, deren Erfahrungen für uns – nur eine Generation später – Äonen weit weg zu sein scheinen. Können wir, kann ich das verstehen?

Mein Verhältnis zu meinem Vater war schwierig und kompliziert: Wir konnten uns nicht sehr nahekommen, weil unsere Ansichten zu weit auseinander lagen und nichts das hätte ändern können. Aber je älter ich wurde, um so mehr begriff ich, wie er seine Zuneigung ohne Worte äußerte – auf eine Art, die ich früher nicht verstand, und schon gar nicht als Jugendlicher. Ich hatte vielleicht auf Worte gehofft, aber er konnte das nicht so, wie ich es erwartete – dafür machte er es mit Gesten. Wir handeln und sprechen im Rahmen dessen, was uns möglich ist, was uns begrenzt, auch in den Gefühlen – aber dennoch haben wir alle ähnliche Emotionen, die, wenn wir sie auf unsere gelernte Art äußern, für andere vielleicht erst „übersetzt“ werden müssen.

Mein Vater hat in seinem Leben, außer in der Schulzeit und Jugendzeit, nur ein einziges Buch gelesen – die für ihn heilige Schrift – die Lutherbibel Version 1884. Er war zu jung, um Soldat im 2. Weltkrieg zu werden – das ist mein Glück, sonst hätte es mich vielleicht nicht gegeben. Er war auch nicht alt genug, um zu begreifen, was in der Zeit, die ihn prägte, politisch geschah.

Meine Versuche in den sechziger Jahren, über die Zeit des Faschismus zu reden, scheiterten allesamt. Mein Vater hätte vermutlich auch nicht viel sagen können. Für ihn galt die Devise aus Römer 13, Vers 1: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Ich fand das abscheulich. Ich wollte die Welt verändern, und lebe, vermutlich heute auch noch, nach dem Motto, dass mich jedwede Obrigkeiten kreuzweise können und dass Religionen allesamt bekämpft werden sollten. Obrigkeitshörigkeit ist für mich ein schlimmes Schimpfwort.

Für Politik interessierte er sich nicht. Ich vermutete damals, dass meine Mutter recht hatte, wenn sie behauptete, mein Vater würde auf Wahlzettel einen Satz aus der Bibel schreiben – Jesaja 41. Vers 24: Siehe, ihr seid aus nichts, und euer Tun ist auch aus nichts; und euch wählen ist ein Greuel. Heute muss ich schmunzeln, wie sich meine Meinung dem angenähert hat, aber natürlich aus anderen Gründen.

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Meine Vater mit seiner älteren Schwester, vermutlich 1929 oder 1930, Holzwickede

Mein Vater wurde evangelisch getauft, eine Tatsache, mit der ich ihn noch vor wenigen Jahren, als ich nach einiger Recherche im betreffenden Kirchenbuch fündig geworden war, aufzog: Er war neuapostolisch und alle andere Religionen waren „Feindsender“. Mein Großvater hatte gelehrt, mich auch, dass insbesondere die Katholiken die große Hure Babylons der heutigen Zeit seien. Die Protestanten waren fast genauso schlimm, vor allem weil sie seinem Glauben so ähnlich waren. Mein Vater hat nie eine „fremde“ Kirche betreten, noch nicht einmal eine leere, etwa im Urlaub, um sie zu besichtigen – alles Teufelswerk, um wahre Gläubige zu verwirren. Auch das bringt mich heute zum Lachen, weil ich das manchmal exakt so handhabe – ich würde nie eine neuapostolische Kirche mehr betreten, vielleicht nur auf die Fußmatte spucken. Da kommt wieder Lichtenberg ins Spiel: Grade das Gegenteil tun, heißt auch nachahmen, es heißt nämlich, das Gegenteil nachahmen.

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Sonntagsschule der Neuapostolischen Kirche Holzwickede, vermutlich 1933 oder 1934. Mein Vater steht in der mittleren Reihe, 2. von rechts. Rechts oben mein Großvater Hugo, der damals schon Prediger war, obwohl er erst 1933 zur NAK konvertierte. Die Laienprediger der Neuapostolischen hatten und haben keinerlei theologische Ausbildung.

Was lernt man als Kind, wenn in den Schulen nur Nationalsozialismus gelehrt wird und man gleichzeitig durch eine fundamentalistische christliche Sekte geprägt wird? Zum Glück war mein Großvater, ein Bauernjunge aus Westpreußen und als Bergmann im Ruhrgebiet Kommunist, bis er fromm wurde, gegen Hitler – für ihn war die Religion wichtiger. Meinem Vater verbot er den Besuch einer Adolf-Hitler-Schule, obwohl die Schulleitung das empfohlen hatte. weil der kleine Kurt einer der besten Schüler sei. „Dann hätte ich keinen Sohn mehr“, ist als Zitat meines Opas überliefert, eine Einsicht, die heute noch meinen Respekt fordert.

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Mein Vater 1934 als Schüler, Holzwickede

Meine Familie war immer aufstiegsorientiert. So weit man sich erinnern konnte, gab es unter den Vorfahren, den Verwandten und Freunden ausschließlich Bauern, Arbeiter und kleine Angestellte. Man hatte es „geschafft“, wenn man Beamter wurde – auf der sicheren Seite war. Künstler und ähnlich windige Existenzen waren nicht vorgesehen. Als ich meinen Eltern erklärte, dass ich den Lehrerberuf aufgeben und Journalist werden, womöglich Bücher schreiben wolle, war mein Vater entsetzt – er konnte das nicht verstehen. Er hat mich aber nicht versucht davon abzuhalten, was nicht möglich gewesen wäre, weil ich genau so stur wie er bin, und respektierte mich damit, was ich erst sehr spät verstanden habe.

Jahre später, als mein Vater aufgefordert wurde, schriftlich zu der damals seltenen Tatsache Stellung zu nehmen, warum ich den Kriegsdienst verweigerte, antwortete er sinngemäß: Man hielte mich, seinen Sohn, für in der Lage, entscheiden zu können, Soldat zu werden, und das müsse dann doch auch für das Gegenteil gelten – eben das nicht zu tun?

Dieses Glück hatte mein Vater nicht. Noch während seiner Zeit am Gymnasium wurde er als Luftwaffenhelfer abkommandiert: Luftwaffenhelfer hatten nicht den Status von Soldaten. Sie erfüllten zwar wie Soldaten Aufgaben an Geschützen und Geräten und lebten in den Flakstellungen wie sie, waren jedoch gleichzeitig Schüler, die von Lehrern unterrichtet wurden. Offiziell galten sie als Mitglieder der Hitlerjugend, was ihnen oft missfiel. (…) Freiwillige Meldungen waren nicht möglich, die Schüler wurden klassenweise und innerhalb der Schulklassen jahrgangsweise zum Einsatz abgeordnet. Mein Vater musste nach Köthen in Sachsen-Anhalt.

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Mein Vater als Luftwaffenhelfer in Köthen, 1943 und 1944

Als der Krieg vorbei war, ging es nur um’s Überleben. Das Abitur hatte mein Vater verpasst. Der einträglichste Beruf war Bergmann – das lernte er, wie sein Vater. Handwerkliches hat ihm immer Spaß gemacht. Ja, er war berühmt dafür! Als ich im zweiten Schuljahr war, sollten die Schüler ein Papiermodell ihrer Wohnung oder ihres Hauses basteln und mitbringen. Mein Vater baute ein kleines Modell unseres vierstöckigen Wohnhauses, mit maßstabsgetreuem Grundriss und Wänden aus Pappe und vier entnehmbaren Etagen, ein kleines Wunderwerk, an das ich mich noch heute erinnern kann – und daran, dass die Lehrer und anderen Schüler ehrfürchtig staunten und es kaum zu berühren wagten. (Ich darf darauf hinweisen, dass alle, die das von mir gebaute Hochbett in meinem Gästezimmer sehen, ehrfürchtig staunen.)

Mein Vater hat bis ins hohe Alter mir immer Werkzeug geschenkt oder etwas für mich gebaut, Schränke oder die Anrichte, die noch heute in meiner Küche steht, die er noch mit knapp 80 Jahren zu meiner Hochzeit gebastelt hatte – natürlich in Perfektion. Sein Maßstab, alles müsse perfekt sein, hat mich manchmal zum Wahnsinn gebracht. Als ich als Junge meinen Koffer packte, für ein paar Tage im Schullandheim, machte er den wieder auf und packte alles neu, aber jetzt so, dass man ihn schließen konnte. Damals war ich genervt, heute muss ich mich zurückhalten, wenn ich in einer ähnlichen Situation bin. Ich neige dazu, alles besser zu wissen und zu können als andere – und das denen auch zu sagen und zu zeigen. Damit macht man sich nicht unbedingt beliebt.

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Mein Vater (rechts) als Laienprediger („Priester„), Anfang der 50-er Jahre. In der Mitte mein Großonkel Otto Mey, der damalige „Vorsteher“ der neuapostolischen Gemeinde Holzwickede. Ich mochte „Onkel Otto“: Der war ein sehr kleiner Mann, aber trat um so energischer auf. Im 1. Weltkrieg hatte er eine Medaille für große Tapferkeit bekommen, weil er allein 17 Franzosen gefangen genommen hatte. Er erzählte bei Familientreffen Geschichten aus Ostpreußen, wie er den Teufel „ausgetrickst“ hätte und wie man gemeinsam in Opherdicke dafür gesorgt habe, dass ein Selbstmörder nicht mehr in einem Haus spukte und mehr in der Art. Das war spannender als jeder Horrorfilm. Otto war für meinen Vater eine wichtige und prägende Figur.

Wir erzieht man Kinder, wenn man durch Nazis zum „kulturellen“ Nazi erzogen wird? Man Vater hatte gelernt, man müsse zunächst den eigenen Willen von Kindern brechen, um sie dann erziehen zu können. Etwas anderes kannte er nicht, und so praktizierte er es an mir. War mein „Konto“ an Missetaten „voll“, prügelte er mich mit einem Stock. Das war schlimmer als ein spontaner Ausraster – kalt und berechnend. Später hat er das bitter bereut, schämte sich aber so sehr, dass er mir das selbst nicht sagen konnte, sondern meine Mutter bat, das für ihn zu tun. Ich war zu jung und damals zu wenig in der Lage, meine Emotionen ausdrücken zu können, um ihm zu sagen, dass ich seine Entschuldigung akzeptiert hatte.

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Mein Vater und ich, ca. 1956 oder 1957, im Sauerland in der Nähe der Daubermühle

Als ich auf ein Gymnasium geschickt werden sollte, protestierte mein Großvater – das würde meinen Glauben zerstören. Meine Eltern setzten sich durch, wofür ich ihnen dankbar bin. Die Religion war in den folgenden Jahrzehnten ein großes Hindernis, über mehr als Smalltalk hinauszukommen – ich war mit 20 aus der NAK ausgetreten und zu feige, das meinem Vater ins Gesicht zu sagen. Er wusste es aber von meiner Mutter. Als ich meine Staatsexamenarbeit mit Bestnote machte und sie stolz meinen Eltern präsentierte, sagte mein Vater nichts. Meine Mutter beichtete mir später, mein Vater habe nicht begriffen, was das sollte und es „Geschwätz“ genannt.

Auf seine Art war er der zuverlässigste Mensch, den ich kannte. Wenn er ankündigte, etwas zu tun, dann geschah das auch – ohne Wenn und Aber. Keine Kompromisse! Man zieht eine Sache, von der man überzeugt ist, durch oder lässt es ganz, auch wenn alle ringsum empört aufheulen – eine Haltung, die mir heute sehr bekannt vorkommt. Von meinem Vater habe ich unbewusst gelernt, wie man den inneren Schweinehund besiegt und der öffentlichen Druck aushält. Mit 16 oder 17 Jahren „musste“ ich oft an einem Tag in der Woche mit ihm zusammen „Zeugnis bringen“ – das heißt: Man geht kurz nach der „Tagesschau“ raus (wir besaßen keinen Fernseher) und klingelt bei wildfremden Leuten, die erstaunt die Tür öffnen, und fragt sie, ob man mit ihnen über Gott reden könne. Das muss man sich als Jugendlicher erst einmal trauen. Ich erinnere mich immer an Jack Londons Abenteuer eines Tramps, ein Buch, das ich als Junge begeistert gelesen habe: Ein Tramp, der bettelt, muss, wenn sich eine Tür öffnet, in weniger als einer Sekunde zu dem Gesicht, was erscheint, die „passende“ Geschichte erfinden, um etwa zu bekommen. Man lernt, sich „volkstümlich“ auszudrücken.

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Ich besuche meinen Vater in der Klinik, 2015

Bis ins Greisenalter fuhr mein Vater noch Auto und mich sogar manchmal zur Nachtschicht, wenn ich vorher meine Eltern besucht hatte. Wir versuchten ihm klarzumachen, dass er die Poller vor dem Supermarkt nicht unbegrenzt oft umfahren könne, und was wäre, wenn ein Kind vor den Wagen liefe? Irgendwann schlossen wir dann einen Kompromiss. Wir nahmen ihm das Auto weg, aber er durfte seinen Führerschein behalten. Ich war mit meinem Vater einmal in einem Autoladen, um einen Leasing-Vertrag abzuschließen oder zu verlängern, und der Kerl hinter der Theke hielte den Führerschein meines Vaters wie eine ägyptische Schriftrolle in der Hand und wusste nicht, was das für ein exotischer Lappen war. Mein Vater hat auch nie einen Unfall gebaut, dazu war er viel zu korrekt und pflichtbewusst. Wir spotteten immer, er würde auch in der Wüste Sahara vor einer roten Ampel anhalten, selbst wenn 300 Kilometer ringsum niemand sei. So war er eben, und er hatte nie die Absicht, daran was zu ändern.

Im Alter von 88 sprang er dann dem Tod von der Schippe. In einer Nacht sackte er schreiend zusammen, und meine Mutter rief die Feuerwehr. In der Klinik stellte man ein Aorta-Aneurysma fest, eine geplatzte Bauchschlagader. In dem Alter ist das ein Todesurteil. Aber nicht bei meinem Vater. Der operierende Chirurg sagte mir am nächsten Morgen, ein Aneurysma der Aorta überlebe man nur, wenn man sofort auf den Operationstisch springe. „Wir glaubten nicht ihn durchzubringen.“ Mein Vater war aber noch mit Blaulicht durch halb Berlin gefahren worden. Als er auf der Trage lag und am nächsten Tag auf die Intensivstation gefahren wurde, winkte mein Vater mir zu. Das medizinische Personal machte große Augen oder schüttelte den Kopf. Ich hätte ihnen am liebsten gesagt: Mein Papa ist stur und zieht das jetzt durch, ob das jemandem gefällt oder glaubt oder nicht. Die Rehabilitationmaßnahmen dauerten drei Monate. Er bekam einen künstlichen Darmausgang und einen Herzschrittmacher.

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Zu seinem neunzigsten Geburtstag bekam mein Vater von seinem ersten Urenkelkind ein Blümchen geschenkt.

Irgendwann ging es nicht mehr. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater und konnte ihn nicht mehr pflegen. Immer wenn das Thema aufkam, wurde mein Vater extrem ängstlich und fing laut an zu weinen. Wir waren froh, dass er einen klaren Kopf behielt, nur der Körper verfiel zusehends. Vor wenigen Monaten war ein schönes Pflegeheim ganz in der Nähe der Wohnung meiner Eltern gefunden.

Aber schon nach wenigen Wochen aß mein Vater nichts mehr. Sogar der Fernseher, das einzige „Vergnügen“ neben den Besuchen der Kinder, interessierte ihn nicht mehr. Noch vor zwei Wochen konnte meine Mutter ihn noch einmal besuchen. Es war für sie ein Abschied – so hat sie es empfunden. Bei meinem letzten Besuch, als er noch flüstern konnte, sagte er mir: „Das ist alles so unwirklich.“

Gestern (am 3. Oktober) rief man uns an, wir sollten bitte so schnell wie möglich kommen: Die Rasselatmung habe eingesetzt. Er öffnete nicht mehr die Augen und reagierte nicht spürbar und lag friedlich mit den Händen auf dem Bauch. Wenige Stunden später war er tot.

Papa, ich habe mehr von dir gelernt und übernommen, als du dir je zu träumen gewagt hast. Neben mir steht seine Armbanduhr, die ich von seinem kalten Arm nahm. Sie läuft noch.

Nachtrag: Meine Mutter (94) liegt nach einem schweren Sturz auf den Kopf im Krankenhaus. Sie konnte weder sprechen noch schlucken und war halbseitig gelähmt, ein Blutgerinnsel im Kopf drückt auf das Gehirn. Laut ihrer Patientenverfügung verboten wir alle Maßnahmen wie künstliche Ernährung per Magensonde. Wir wussten nicht, wer von unseren Eltern eher sterben würde, meine Mutter oder mein Vater. Als ich sie besuchte, konnte sie nur einzelne Wörter mühsam flüstern. Heute, zwei Tage später, rief mich meine Schwester an: „Mama kann wieder schlucken. Die Lähmung geht zurück. Sie schimpft auf die Krankenschwestern, die ihr nicht das richtige Mineralwasser bringen.“ Vielleicht werden sich Ehepaare, die siebzig Jahre verheiratet waren, irgendwann immer ähnlicher.

Meine Urgrosseltern Anna Emilie Kukuk und Gustav Reinhold Schröder

Urgrosseltern

Meine Urgroßmutter Anna Emilie Kukuk, Bäuerin (geb. 22.5.1864 in Elsendorf, Westpreußen heute Dąbrowa Wielka, Polen) und mein Urgroßvater Gustav Reinhold Schröder, Bauer (geb. 14.5.1859 in Mittenwalde, heute Dąbrowa Mała, Polen) bei ihrer Diamantenen Hochzeit am 11.12.1942. Mein Urgroßvater war damals 84, meine Urgroßmutter fünf Jahre jünger.

Die evangelische Kirche, in der Taufen und Trauungen vorgenommen wurden, stand in Dambrowa Wielka (Elsendorf). Wie der Registerauszug vom Standesamt Kirschgrund (Leszyce) zeigt, waren die Familien in Mittenwalde schon lange ansässig und alle untereinander verheiratet. In Krossen (Chrosna) ist mein Großvater Hugo auf die Dorfschule gegangen. Der Hof meiner Urgroßeltern ist 1943 abgebrannt. Allgemein wurde angenommen, der polnische Knecht habe den Hof angesteckt, weil er anschließend verschwunden blieb. Meine Urgroßmutter Emilie erlitt schwerste Verbrennungen, als sie versuchte, ein Kind aus den Flammen zu retten. Sie ist nur wenige Wochen später gestorben. Mein Urgroßvater, der noch ein Jahr vor seinem Tod „mit der Sense das Feld vor dem Großknecht mähnte“, wie mein Großvater mir erzählte, starb kurz darauf „an gebrochenem Herzen“.

Unter Pappkartenbenutzern

monatskarte

Da kommt man sich uralt vor – eine Monatskarte für die Bahn aus Pappe, und 27 Jahre lang benutzt. Wer kennt sowas noch? Mein Großvater Hugo Schröder hat die Karte also in meinem Geburtsjahr zum ersten Mal benutzt. 1952 konnte er wegen Staublunge nicht mehr als Bergmann bzw. Zimmerhauer arbeiten und bekam einen Job in der Kreisverwaltung Unna (damals Lüningstrasse 30) in der Poststelle.

Nachdem er Rentner geworden war, suchte er sich einen neuen Job, obwohl er das finanziell nicht nötig hatte, – und bekam ihn im Lager der Kettenfabrik Unna. (Die Kettenfabrik scheint sich schon sehr früh ihre Domain gesichert zu haben!)

Mein Opa hat erst mit knapp achtzig Jahren aufgehört zu arbeiten. Das Publikum wird daher vermuten, das Arbeiten nach Eintritt des Rentenalters sei in meiner Familie irgendwie genetisch bedingt.

Brothers in Arms

rote ruhrarmee
Kämpfer der Roten Ruhrarmee in Dortmund. Credits: Wikipedia/unknown

… reaktionäre Elemente haben es verstanden, mit lügenhaften Worten, Schriften und Plakaten die Volksseele zu vergiften. Sie senden gekaufte Hetzer unter die Arbeiter, um diese irrezuführen.
Genossen, hört nicht auf diese Lügen! Die reaktionären Elemente (…) möchten Euch gerne zu Pogromen gegen die Juden verleiten, um wieder im Trüben fischen zu können. Was ihnen bisher trotz aller Mühe nicht gelungen ist, wollen sie jetzt, wo die Volksseele erregt ist, durchführen.
Genossen, die Juden sind nicht Arbeiterfeinde, aber die, welche Euch gegen die Juden aufwiegeln. Die Juden sind von jeher von dieser Richtung ebenso unterdrückt worden, wie wir Arbeiter! Die böswillig verbreiteten Gerüchte, daß die Juden aus ihren Häusern auf die Arbeiter geschossen haben, und daß sie Maschinengewehre und Waffen in ihren Häusern verbergen, haben sich nach stattgefundenen scharfen Untersuchungen auch alle als unwahr erwiesen….“
(Vollzugsrat der Roten Ruhrarmee, Hamborn, 24. März 1920, zit. nach Erhard Lucas: Märzrevolution 1920)

bewaffnete Kämpfe

Leider ein Fehlkauf und enttäuschend: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918-1923, Berlin, Militärverlag der DDR, 1988.

Ich versuche herauszufinden, was genau zwischen 1920 in Aplerbeck passierte. Mein Opa Hugo Schröder war damals Lehrhauer auf der Zeche Vereinigte Margarete in Aplerbeck-Sölde – beide heute Stadtteile von Dortmund. Er hat also die Rote Ruhrarmee live erlebt. Leider habe ich ihn nie danach gefragt, und er hat nie darüber geredet. Mein Vater, geboren 1927, also zu spät, um sich erinnern zu können, weiß nur, dass mein Opa damals „Kommunist“ gewesen sei, was auch immer das hieß.

Das obige Buch aus dem Militärverlag der DDR ist weder wissenschaftlich (es fehlen Quellennachweise) noch politisch brauchbar. Wichtige Fakten werden schlicht weggelassen, zum Beispiel die Rolle der nicht unbedeutenden anarchosyndikalistischen Gewerkschaften im Ruhrgebiet bei den bewaffneten Kämpfen. Die KPD (es gab mehrere davon, auch das wird unterschlagen) war mitnichten die „Spitze“, wie behauptet wird, sondern hoppelte oft planlos hinterher. So dargestellt ist das Geschichtskittung und reine Propaganda. Man findet nur Daten und Fakten ohne Analyse aneinandergereiht, dazwischen die üblichen sinnfreien Textbausteine („Jahre heftigster Klassenkämpfe“) stalinistischer Art.

Man kann das Buch eventuell als Datensammlung für weitere Recherchen benutzen. Die meisten Namen der damals Beteiligten sind heute vergessen. Was an Denkmälern übrigblieb, haben fast ausnahmslos die Nationalsozialisten zerstört. Die staatstreue Geschichtsschreibung will gar nicht daran erinnert werden, und auch nicht an die schändliche Rolle der Funktionäre und Parteiführung der SPD während der Ruhrkämpfe.

Ich kenne nur ein einziges Buch, das die damalige Zeit korrekt und interessant beschreibt: Erhard Lucas: Märzrevolution 1920, erschienen im Verlag Roter Stern 1973. Ich besitze leider nur den zweiten Band. Den ersten haben ich mir gerade für einen Haufen Geld bestellt – den dritten kaufe ich mir, wenn ich mal reich bin.

bewaffnete Kämpfe
Credits: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918-1923, Berlin (DDR) 1988

Arbeitsbuch

Arbeitsbuch

Das so genannte „Arbeitsbuch“ meines Großvaters Hugo Schröder. Als mir das in die Hände fiel, wusste ich noch nicht, worum es eigentlich geht – Geschichtsunterricht live! Das Arbeitsbuch „war ein von staatlichen Stellen ausgestelltes Dokument, das einem Arbeitgeber [Kapitalisten] bei der Einstellung verpflichtend vorzulegen war. Ziel war es, die berufliche Mobilität von Arbeitnehmern [Arbeitern] zu kontrollieren und von der Zusage durch den früheren Arbeitgeber [Kapitalisten] abhängig zu machen. Damit sollte es Arbeitnehmern Arbeitern unmöglich gemacht werden, Lohnunterschiede zwischen Unternehmen oder Branchen mittels eines Firmenwechsels auszunutzen. Das Arbeitsbuch war somit ein Mittel, die Berufsfreiheit grundsätzlich einzuschränken, nach 1935 zudem ein Instrument der wirtschaftlichen Mobilmachung zur Vorbereitung des Vierjahresplans. In einigen Ländern wie Slowenien ist das Arbeitsbuch noch gebräuchlich und für jeden Arbeitnehmer gesetzlich vorgeschrieben. In der DDR wurde das Dokument teilweise bis 1967 geführt.“

Es wird gern vergessen, dass eines der wichtigsten Anliegen des Nationalsozialismus war, die Rechte des Proletariats abzuschaffen. Die NSDAP nannte sich „sozialistisch“, in Wahrheit war sie genau das Gegenteil – eine Partei, die den Interessen des Kapitals diente – mit Terror. Deswegen hat die deutsche Großindustrie die NSDAP auch teilweise finanziell gefördert.

Unbestreitbar ist, dass in den frühen dreißiger Jahren Unterstützungsgelder der Industrie an die NSDAP flossen. Spenden kamen außer von dem bekennenden Nationalsozialisten Thyssen auch von Fritz Springorum, Paul Silverberg, Kurt Schmitt und Friedrich Flick. Kollektiv kam Geld von der so genannten Ruhrlade, dem Verein für die bergbaulichen Interessen, dem Arbeitgeberverband für den Bezirk der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller sowie dem I.G.-Farben-Konzern. Allein Thyssen hat von 1930 bis 1933 etwa 400.000 Reichsmark der NSDAP zukommen lassen. Auch bei dem Erwerb und der Renovierung des Palais Barlow (Braunes Haus) in München war er beteiligt. Allerdings unterstützte Thyssen wie auch die übrigen Industriellen wenn möglich solche Nationalsozialisten wie Hermann Göring oder Walther Funk, die sie für gemäßigt hielten.

Die Quellenlage ist allerdings relativ dünn. Die Interessen des Kapitals waren damals genausowenig einheitlich wie heute. Deswegen halte ich die vulgärmarxistische These, „das Kapital“ habe die Nazis finanziert und damit an die Macht gebracht, für unsinnig.

Die überwiegende Mehrzahl der deutschen Industriellen unterstützte laut Turners Forschungen in der Endphase der Weimarer Republik nämlich nicht Hitler und die NSDAP, sondern Papen und die DNVP. An sie ging der ganz überwiegende Teil der politischen Spenden. (…) Erst nach der Machtübernahme kann von einer massiven finanziellen Unterstützung der NSDAP durch die Großindustrie gesprochen werden.

Es gibt jedoch ein relativ neues Buch von Karsten Heinz Schönbach zum Thema, das ich mir trotz den hohen Preises bestellt habe: Die deutschen Konzerne und der Nationalsozialismus 1926-1943.

Der Historiker Karsten Heinz Schönbach widerspricht wiederum in seiner 2015 veröffentlichten Dissertation der Auffassung, die Unterstützung der NSDAP durch die Großindustrie sei vor 1933 eher marginal gewesen. Nach Schönbach zeigten die Quellen, dass die NSDAP von Großindustrieellen von 1927/28 an erheblich unterstützt worden sei. Allerdings könne von einer vorwiegend NS-freundlichen Haltung der Großindustrie erst nach der Wahlniederlage der konservativen Rechten am 6. November 1932 die Rede sein.

Mit dem kleinen „Arbeitsbuch“ meines Großvaters könnte man ein ganzes Seminar an einer Universität bestreiten, und eine Schulstunde sowieso. Das „Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches“ stammt vom 26.02.1935.

Mein Opa war damals Bergmann, zuerst auf der Zeche Margarete in Dortmund-Sölde, die 1926 stillgelegt wurde, dann auf Zeche Caroline in Holzwickede (wo ich geboren bin). Die Zeche wurde 1951 stillgelegt.

Stadtfeind, Pömpel et al

stadtfeind

Die Stadt hat mich wieder, und ich bin ihrer verworrenen Wunder voll. Das obige Gedicht habe ich in einer Art Poesiealbum meines Großvaters Hugo Schröder gefunden. Bauernsohn aus dem so genannten Warthegau, dann Bergmann im Ruhrgebiet, dann Kommunist, dann (leider) religiös geworden und Laienprediger. Das Zitat stammt vom Arbeiterdichter Karl Bröger, aus Flamme. Brögers Lebenslauf ist sehr interessant: Er war Sozialdemokrat, sogar im KZ, wurde aber von den Nazis vereinnahmt, obwohl er nichts mit ihnen zu tun hatte.

Ich frage mich, woher mein Opa dieses Gedicht kannte. Der Inhalt ist mit der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis kompatibel. „Stadtfeind“ passt sowohl zum Mainstream „Landlust“ aka Stadtflucht (die auch zur Weimarer Zeit bei kleinbürgerlichen Aussteigern beliebt war), aber auch zur Stadtfeindlichkeit Pol Pots und der „Roten Khmer“ in Kambodscha.

Das Doofe am Älterwerden ist eben, dass man erkennt: Alles ist schon mal dagewesen, nur das historische Kostüm ändert sich. Das macht es aber auch leichter, Dinge einzuordnen.

Liebe Freunde, ich habe immer noch Urlaub, aber so viel zu tun, dass ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll.

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[ ] Eribon „Rückkehr nach Reims [x] lesen und [ ] besprechen
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[ ] Buch über Caesars De Bello Gallico [x] lesen und [ ] besprechen
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[ ] Harald Haarmann Auf den Spuren der Indoeuropäer: Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen weiterlesen (sehr interessant!)
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Schon wieder der Lünschermannsweg

großeltern

Meine Großeltern Elise Marie Schröder, geb. Klang, genannt Lieschen (1906-1976) und Hugo Schröder (1902-1992) sowie mein Vater. Das Foto wurde vor 1939 in Holzwickede auf der damaligen Hengser Straße (heute: Hauptstraße) aufgenommen; hinten rechts sieht man den Lünschermannsweg.

(Mal sehen, wann Burks‘ Blog bei der Sucheingabe Lünschermannsweg an erster Stelle angezeigt wird…)

Roots oder: Arbeiter und Bauern [Update]

familie schröder

Das Foto zeigt meinen Urgroßvater Gustav Reinhold Schröder, Bauer in Westpreußen (1859-1943, 4. von rechts), meine Urgroßmutter Anna Emilie geb. Kukuk, Bäuerin, (1864-1943) und ihre Kinder.

Leider weiß ich nicht, welche Namen der anderen zu welchem Gesicht gehören – zwei Personen kann ich gar nicht identifizieren.

Die Namen, die mir bekannt sind: Alma Schröder (1883-1973), Selma Schröder (1945 auf der Flucht aus Westpreußen umgekommen), Friedrich Schröder (1887-1972), Willy Schröder (1889, Todesjahr unbekannt, Lokführer in Altenburg/Thüringen), Minna Schröder, Walter Schröder, Sattler (1893-1978), Kurt Schröder (1895-1918, gefallen als Soldat im 1. Weltkrieg), Hugo Schröder (1902-1992), Helmut Schröder (1897-1942: wurde als Kind von einem Blitzschlag so erschreckt, dass er einen schwere Behinderung, wahrscheinlich eine Art Epilepsie, zurückbehielt, wurde von den Nazis im Zuge des Euthanasie-Programms in einer Anstalt in Westpreußen ermordet).

Das Foto wurde vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht. Wenn die Frau mit dem Baby meine Urgroßmutter ist, dann ist das Baby mein Großvater Hugo, der ein „Nachkömmling“ (geb. 1902) war. Und die alte Frau ist dann meine Ururgroßmutter Caroline Schmidt (die Mutter meiner Urgroßmutter), Leibgedingerin, die 1916 starb. Das Todesjahr meines meines Ururgroßvaters Gottlieb II Kukuk (gab. 1824), Bauer, ist unbekannt, es muss aber dann vor 1902 gewesen sein.

Ich muss zugeben, dass ich nicht richtig wusste, was eine Leibgedingerin ist. In der Mailingliste „Posen“ steht: „Mostly it was a contract between farm-owner and somebody else (f.e. family). The owner delivers the property (here the farm) and is with this contract sure, he will not die from hunger…“ Es meint also die Garantien (Unterhaltsverpflichtung) gegenüber den alten Bauern, die den Hof an die Nachommmen abgaben, noch mit Naturalien versorgt zu werden. Bekannter ist der Begriff Altenteil.

Mensch, Oppa!

Hugo Schröder

Das hätte mir mein Großvater Hugo (geb. 07.01.1902 in Mittenwalde – Klein Dombrowo, heute Dabrowa Mala -, gest. 26.4.1992 in Unna) erzählen können… Wieso muss ich das erst jetzt erfahren, kurz vor seinem zwanzigsten Todesdatum?

Mein Vater erzählte mir gestern, dass sein Vater – also mein Großvater – „bei den Kommunisten“ gewesen sei, kurz nachdem er aus Westpreußen nach Holzwickede im Ruhrgebiet gekommen sei. Ich war schon immer stolz darauf, aus einer waschechten Arbeiter- und Bauernfamilie zu stammen. Der Komperativ von „Arbeiter“ ist natürlich „Bergmann“, und nicht nur beide Großväter waren Bergmann, sondern auch mein Vater. (Es ist auch kein Zufall, dass die „Helden“ meines historischen Romans „Die Konquistadoren“ ebenfalls Bergleute sind.)

Mein Großvater mütterlicherseits war ohnehin als Nazi-Gegner bekannt, der im kleinen Kreis Adolf Hitler mit Begriffen wie „Arschloch“ titulierte. Aber dass mein anderer Großvater ähnlich dachte, bevor er dann Laienprediger in einer christlichen Sekte wurde, erklärt meine politischen Gene natürlich irgendwie. Aber ich habe ihn leider auch nie gefragt.

Das Foto zeigt meinen Opa (im Ruhrpott sagte man „Oppa“) Hugo Mitte der sechziger Jahre in Mittelberg im Kleinen Walsertal.

Unter Schtieseln

konfirmation NAK
Meine Konfirmation 1966 oder 1977. Ein grandioses Foto, das meine Kindheit anschaulich zusammenfasst. Alle außer mir sind schon tot. Von links nach rechts: Meine Tante Leni (Hausfrau, neuapostolisch und Ehefrau eines Priesters/Laienpredigers der NAK), mein Vater Kurt (Bergmann, später kaufmännischer Angestellter, Priester in der NAK), meine Oma Caroline Baumgart (Hausfrau, neuapostolisch), neben mir mein Opa Hugo Schröder (Bergmann, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK), vorn rechts mein Opa Peter Baumgart (Bergmann, Priester der NAK), ganz rechts mein Onkel Otto Mey (Bahnangestellter, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK). Leni war die Tochter meines Onkels Otto.

Jetzt brüllen auch in Dresden die Muezzine herum. Ein Fall für Arthur Harris? Die Weltläufte geben zur Zeit nichts Überraschendes her. Daher darf ich – das Einverständnis des Publikums vorausgesetzt – einen Besinnungsaufsatz schreiben eine religionssoziologische Studie verfassen.

Vorab sollten einige anthropologischen Fragen geklärt werden.

Warum tragen alle Männer schwarze Anzüge, der Konfirmand eingeschlossen? Ein normaler Anzug, aber ganz in schwarz, ist die „Uniform“ der „Geistlichen“ in der NAK. Niemand hat eine theologische Ausbildung, und sie machen trotzdem das, was Pfaffen so tun. Und da das funktioniert, ist das für sie ein „Beweis“, dass der Heilige Geist aus ihnen spricht. Der „Straßenanzug“ soll genau das zeigen.

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt. (Karl Marx) Die protestantischen Sekten ebnen die Hierarchie zwischen Glaubensvolk und Paffen konsequent ein. Jeder (Mann) kann alles sein und werden. Mein Opa Peter konnte, als er 1918 nach Deutschland kam, weder richtig lesen noch schreiben. Prediger wurde er trotzdem.

Was machen die da, und wo sind die anderen Frauen? Natürlich wurde immer und permanent und ausschließlich über die Bibel (liegt auf dem Tisch) und religiöse Themen geredet. Frauen mussten die Klappe halten und wurden dabei nur geduldet. Meine Oma Caroline widersetzte sich dem unausgesprochenen Verbot – sie gesellte sich zu den Männern, sagte aber nichts, sondern hörte nur zu. Ich durfte auch nichts beitragen, ich war noch zu jung.

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.“ (Paulus, 1. Brief an die Korinther 14, 34)

Wiederholt sich das nicht alles unendlich oft? Nein, die „theologischen Themen“ wurden mit persönlichen Geschichten angereichert. Wie sich ein ostpreußischer Bauer mit dem Teufel verschworen hatte und mein Onkel Otto, der aus Gumbinnen stammte und in seiner Jugend als Bauernknecht arbeitete, ihn überlistete, mit Gottes Hilfe. Wie meinem Vater in einem Hohlweg in Holzwickede der Geist eines Selbstmörders erschien. Wie ein „Apostel“ der NAK in Opherdicke den Geist eines Selbstmörders vertrieb, der dort in einem Haus herumspukte. Wie Onkel Otto im 1. Weltkrieg ganz allein und mit Gottes Hilfe mehr als ein Dutzend Franzosen gefangen nahm und dafür einen Orden bekam. Wie mein Opa Peter in Russland während der Revolution zu Tode verurteilt wurde und aus dem Gefängnis floh, mit Gottes Hilfe.

Wie informierte man sich über die Weltläufte? Information wird überschätzt. Fernsehen war verboten. Radio eigentlich auch – mein Opa Hugo hat das bis zum Lebensende konsequent durchgezogen. Mein Opa Peter aber hatte ein Radio, weil er aus dem damals russischen Polen stammte und Russisch verstand und hören wollte. Die „Welt“ – also known as Babylon – brauchte man nicht, und man sollte sie auch meiden. Tanzstunde oder Disko? Verboten? Kirmes oder Schützenfest? Verboten. Freundschaften mit Leuten, die nicht neuapostolisch waren? Verboten, vor allem für Kinder von „Amtsträgern“ – wie mich. Bücher? Sind gefährlich. Mein Opa Hugo riet meinen Eltern, mich nicht auf ein Gymnasium zu schicken. Kino? Verboten. Meine Mutter erzählte mir noch gestern, wie sich sich als junges Mädchen in Hamm heimlich einen Kinofilm ansah und dabei ein fürchterlich schlechtes Gewissen und viel Angst hatte, Gott (der bei den Neuapostolischen meistens „der himmlische Vater“ genannt wird) würde sie dafür bestrafen. Die Verbote mussten gar nicht ausgesprochen werden. Man wusste einfach, was zu tun und zu lassen war.

Und jetzt zur religionssoziologischen Studie. Kann sich das Publikum vorstellen, warum mir Filme wie Shtiesel, Unorthodox oder Rough Diamonds (empfehlenswert!) „unheimlich“ bekannt vorkommen und warum mir die oft ein beklemmendes Gefühl erzeugen, das sich gleich verwandelt in das Bedürfnis, in diese Milieus hineinzufahren wie der Teufel unter die armen Seelen und alles auszuräuchern?

Petrus, geboren 1751

ahnenpass

Auszug aus dem mit Schreibmaschine Mitte der 90-er Jahre abgetippten Ahnenpass meines Großonkels Walter Erich Schröder (der Bruder meines Großvaters Hugo). Eigentlich ist es albern, bei diesen Vorfahren noch den Zusatz „Eltern“ zu benutzen. Aber aus reiner Neugier und aus mathematischer Insuffizienz: Wenn dieser Petrus der Ur-Ur-Urgroßvater meines Großonkels war, wie viele Urs kommen dann vor, wenn ich den in Bezug auf mich bezeichne?

Übrigens: Petrus könnten den Alten Fritz noch live gesehen haben.

Wenn die Liebe nicht wär [Update]

Ich brauche Hilfe beim Übersetzen (sorry für die reißerische Überschrift, aber ich wollte euch anlocken):
1) Ist es denkbar, dass der gesamte Text von einer Person geschrieben wurde oder sind das eindeutig zwei verschiedene Schriften?
2) Was steht unten rechts (schräg) über „am 25.5.21 geschrieben“?
3) Oben „im einsamen Stübchen“ ist von meinem Großvater H(ugo) Schröder. Ist der Buchstabe des Vornamens unten rechts etwa ein G oder ist das auch ein H? Wenn es ein G ist, dann wäre die Schrift unten von meinem Urgroßvater Gustav Schröder. Das ist aber unwahrscheinlich, denn Hugo hat das Poesiealbum 1920 geschenkt bekommen und es mit nach Dortmund genommen.

[Update] Ich wurde gerade darauf hingewiesen, dass es wohl ein H in Kurrentschrift sei.

Willkürlich herrschende Schufte und Sicherheitsmaßnahmen

schufte

Im Nachlass meines Großvaters Hugo Reinhold Schröder (1902-1992) hat sich noch ein kleines Buch gefunden, das wir für ein Poesiealbum gehalten und unbeachtet gelassen hatten. Beim Entziffern fanden wir jetzt heraus, dass er auf den letzten beiden Seiten Tagebuch geschrieben hat. Hier geht es um das Jahr 1929. Beim Opa war damals Lehrhauer auf der Zeche Vereinigte Margarete in Dortmund-Sölde. Die Schachtanlage Margarethe wurde am 15. Juni 1926 stillgelegt. Mein Großvater verlor seinen Job, wurde „an die Fürsorge überwiesen“ und musste „Stempeln gehen“. Danach heißt es im Tagebuch:

Pflichtarbeit muss geleistet werden. Von den willkürlich herrschenden Schuften dazu gezwungen. Gegenaktion eingeleitet aus der ungerechten Behandlung heraus geboren.

Pflichtarbeit, also Zwangsarbeit bei Arbeitslosigkeit wurde 1923 in der Weimarer Republik eingeführt. „Die Verordnung zur Pflichtarbeit legte fest, daß sich jeder Arbeitslose, der nach Auslaufen der Arbeitslosenversicherung auf Krisenunterstützung angewiesen war, für gemeinnützige Arbeit zur Verfügung stellen mußte, ohne dafür entlohnt zu werden. Auf diese Weise wurden nicht nur zahlreiche Produktivkräfte außerhalb geregelter Arbeitnehmerrechte, wie Organisations- und Streikrecht, beschäftigt. Die Verordnung zur Pflichtarbeit sah auch erstmalig den Entzug der Unterstützung bei Arbeitsverweigerung und Sabotage vor, was praktisch der Verurteilung zum Hungertod gleichkam. (…)

Im Gegensatz zur ‚unterstützenden Erwerbslosenfürsorge‘, die zur Sicherung des Existenzminimums beitragen sollte, war die Sicherung des Überlebens von nun an an die Verrichtung von Notstandsarbeiten gebunden. Auch hier stand weniger der ökonomische denn ein pädagogisch-disziplinierender Faktor im Vordergrund, wie aus dem folgenden Zitat aus der Begründung zum Entwurf der Änderungsbestimmungen von 1925 deutlich hervorgeht:

‚Vor allem aber ist die produktive Erwerbslosenfürsorge das beste Mittel, um die Verelendung des Erwerbslosen und den Verfall seiner Arbeitskraft und seines Arbeitswillens zu verhüten; sie wirkt heilend und vorbeugend. (…) Wenn Arbeitslosigkeit in dicht zusammendrängender Bevölkerung in größerem Umfange und mit längerer Dauer eintritt, sind Störungen der öffentlichen Ordnung zu befürchten, besonders dann, wenn unter gewissen bekannten Einwirkungen der Wille der Massen in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. (…) Notstandsarbeiten bilden eine Sicherheitsmaßnahme, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.'“

Von meinem Vater weiß ich, dass mein Großvater damals Kommunist gewesen sein soll. Leider wird sich nicht mehr feststellen lassen, um welche „Gegenaktionen“, die er im Tagebuch erwähnt, es sich handelte. Wenige Monate später hat er auf der Zeche Achenbach Arbeit als Bergmann gefunden.

Das erinnert mich doch sehr an heute – an Hartz IV und 1-Euro-Jobs.

Die wilden Sechziger

friedrich Schröder

06.10.1967 – 80-ster Geburtstag meines Großonkels Friedrich Schröder (1887-1972, der Bruder meines Großvaters Hugo), da bin ich 14 und sehe doof aus.

Rechnen und Raumlehre

Zeugnis

Das Abschlusszeugnis (1915) meines Großvaters (Vater meines Vaters) Hugo Reinhold Schröder, Bergmann, geb. 07.01.1902 in Mittenwalde (Klein Dombrowo, nördlich von Elsendorf im Kreis Thorn), gest. 26.4.1992 in Unna.

Ich habe 1982, als ich durch Polen und das ehemalige Westpreußen gewandert bin, das Gebäude der ehemalien Volksschule von Mittenwalde fotografiert, ich finde es nur gerade nicht.

Ich musste überlegen: Was ist denn der Unterschied zwischen „Rechnen“ und „Raumlehre“ und warum gab es getrennte Zensuren dafür?

Burks‘ Roots

Urgrosseltern

Oben: Meine Urgroßmutter Anna Emilie Kukuk, Bäuerin (1864-1943) mein Großvater Hugo Reinhold Schröder, (Bergmann, 1902-1992) und mein Urgroßvater Gustav Reinhold Schröder, Bauer (1859-1943). Das Foto wurde 1905 gemacht.

Unten: Meine Urgroßmutter Marie Elise Pomowitz, Hausfrau (1879-1963) und mein Urgroßvater Franz Klang, Bergmann (1872-1946). Das Foto stammt aus dem Jahr 1942.

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