Unter Schtieseln

konfirmation NAK
Meine Konfirmation 1966 oder 1977. Ein grandioses Foto, das meine Kindheit anschaulich zusammenfasst. Alle außer mir sind schon tot. Von links nach rechts: Meine Tante Leni (Hausfrau, neuapostolisch und Ehefrau eines Priesters/Laienpredigers der NAK), mein Vater Kurt (Bergmann, später kaufmännischer Angestellter, Priester in der NAK), meine Oma Caroline Baumgart (Hausfrau, neuapostolisch), neben mir mein Opa Hugo Schröder (Bergmann, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK), vorn rechts mein Opa Peter Baumgart (Bergmann, Priester der NAK), ganz rechts mein Onkel Otto Mey (Bahnangestellter, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK). Leni war die Tochter meines Onkels Otto.

Jetzt brüllen auch in Dresden die Muezzine herum. Ein Fall für Arthur Harris? Die Weltläufte geben zur Zeit nichts Überraschendes her. Daher darf ich – das Einverständnis des Publikums vorausgesetzt – einen Besinnungsaufsatz schreiben eine religionssoziologische Studie verfassen.

Vorab sollten einige anthropologischen Fragen geklärt werden.

Warum tragen alle Männer schwarze Anzüge, der Konfirmand eingeschlossen? Ein normaler Anzug, aber ganz in schwarz, ist die „Uniform“ der „Geistlichen“ in der NAK. Niemand hat eine theologische Ausbildung, und sie machen trotzdem das, was Pfaffen so tun. Und da das funktioniert, ist das für sie ein „Beweis“, dass der Heilige Geist aus ihnen spricht. Der „Straßenanzug“ soll genau das zeigen.

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt. (Karl Marx) Die protestantischen Sekten ebnen die Hierarchie zwischen Glaubensvolk und Paffen konsequent ein. Jeder (Mann) kann alles sein und werden. Mein Opa Peter konnte, als er 1918 nach Deutschland kam, weder richtig lesen noch schreiben. Prediger wurde er trotzdem.

Was machen die da, und wo sind die anderen Frauen? Natürlich wurde immer und permanent und ausschließlich über die Bibel (liegt auf dem Tisch) und religiöse Themen geredet. Frauen mussten die Klappe halten und wurden dabei nur geduldet. Meine Oma Caroline widersetzte sich dem unausgesprochenen Verbot – sie gesellte sich zu den Männern, sagte aber nichts, sondern hörte nur zu. Ich durfte auch nichts beitragen, ich war noch zu jung.

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.“ (Paulus, 1. Brief an die Korinther 14, 34)

Wiederholt sich das nicht alles unendlich oft? Nein, die „theologischen Themen“ wurden mit persönlichen Geschichten angereichert. Wie sich ein ostpreußischer Bauer mit dem Teufel verschworen hatte und mein Onkel Otto, der aus Gumbinnen stammte und in seiner Jugend als Bauernknecht arbeitete, ihn überlistete, mit Gottes Hilfe. Wie meinem Vater in einem Hohlweg in Holzwickede der Geist eines Selbstmörders erschien. Wie ein „Apostel“ der NAK in Opherdicke den Geist eines Selbstmörders vertrieb, der dort in einem Haus herumspukte. Wie Onkel Otto im 1. Weltkrieg ganz allein und mit Gottes Hilfe mehr als ein Dutzend Franzosen gefangen nahm und dafür einen Orden bekam. Wie mein Opa Peter in Russland während der Revolution zu Tode verurteilt wurde und aus dem Gefängnis floh, mit Gottes Hilfe.

Wie informierte man sich über die Weltläufte? Information wird überschätzt. Fernsehen war verboten. Radio eigentlich auch – mein Opa Hugo hat das bis zum Lebensende konsequent durchgezogen. Mein Opa Peter aber hatte ein Radio, weil er aus dem damals russischen Polen stammte und Russisch verstand und hören wollte. Die „Welt“ – also known as Babylon – brauchte man nicht, und man sollte sie auch meiden. Tanzstunde oder Disko? Verboten? Kirmes oder Schützenfest? Verboten. Freundschaften mit Leuten, die nicht neuapostolisch waren? Verboten, vor allem für Kinder von „Amtsträgern“ – wie mich. Bücher? Sind gefährlich. Mein Opa Hugo riet meinen Eltern, mich nicht auf ein Gymnasium zu schicken. Kino? Verboten. Meine Mutter erzählte mir noch gestern, wie sich sich als junges Mädchen in Hamm heimlich einen Kinofilm ansah und dabei ein fürchterlich schlechtes Gewissen und viel Angst hatte, Gott (der bei den Neuapostolischen meistens „der himmlische Vater“ genannt wird) würde sie dafür bestrafen. Die Verbote mussten gar nicht ausgesprochen werden. Man wusste einfach, was zu tun und zu lassen war.

Und jetzt zur religionssoziologischen Studie. Kann sich das Publikum vorstellen, warum mir Filme wie Shtiesel, Unorthodox oder Rough Diamonds (empfehlenswert!) „unheimlich“ bekannt vorkommen und warum mir die oft ein beklemmendes Gefühl erzeugen, das sich gleich verwandelt in das Bedürfnis, in diese Milieus hineinzufahren wie der Teufel unter die armen Seelen und alles auszuräuchern?

Häuschenbau von Laien

Faller-Häuser

Zu meiner Konfirmation bekam ich, wie das Foto dokumentiert, diverse Gebäude für meine Modelleisenbahn, eine Gärtnerei und eine Windmühle. Mein Opa und meine Schwester schauen beim Zusammenbau zu.

Wer sich fragt, warum die Männer auf den alten Familienfotos immer einen Schlips tragen: Die waren alle Laienprediger, und am Sonntag ging man gemeinsam zwei Mal (!) zur Kirche.

Kurt Waldemar Schröder *16.10.1927 †03.10.2020

kurt schröder
Eintrag im Kirchenbuch der Evangelischen Kirche Holzwickede

Ein Nachruf auf meinen Vater

kurt schröder

Mein Vater ist gestern um ca. 19.30 Uhr friedlich eingeschlafen. Er hat einen Nachruf verdient wie jeder andere „wichtige“ Mensch auch. Man könnte einwenden, ein Nachruf sei entweder etwas sehr Privates, und die Details, womöglich negative, interessierten nur die engsten Freunde und Verwandten, oder seien zu öffentlich, als dass man Dinge erwarten könne, die wirklich etwas aussagen und nicht nur an der sichtbaren Fassade hafteten. Das Leben meines Vaters ist jedoch exemplarisch für eine Generation, deren Erfahrungen für uns – nur eine Generation später – Äonen weit weg zu sein scheinen. Können wir, kann ich das verstehen?

Mein Verhältnis zu meinem Vater war schwierig und kompliziert: Wir konnten uns nicht sehr nahekommen, weil unsere Ansichten zu weit auseinander lagen und nichts das hätte ändern können. Aber je älter ich wurde, um so mehr begriff ich, wie er seine Zuneigung ohne Worte äußerte – auf eine Art, die ich früher nicht verstand, und schon gar nicht als Jugendlicher. Ich hatte vielleicht auf Worte gehofft, aber er konnte das nicht so, wie ich es erwartete – dafür machte er es mit Gesten. Wir handeln und sprechen im Rahmen dessen, was uns möglich ist, was uns begrenzt, auch in den Gefühlen – aber dennoch haben wir alle ähnliche Emotionen, die, wenn wir sie auf unsere gelernte Art äußern, für andere vielleicht erst „übersetzt“ werden müssen.

Mein Vater hat in seinem Leben, außer in der Schulzeit und Jugendzeit, nur ein einziges Buch gelesen – die für ihn heilige Schrift – die Lutherbibel Version 1884. Er war zu jung, um Soldat im 2. Weltkrieg zu werden – das ist mein Glück, sonst hätte es mich vielleicht nicht gegeben. Er war auch nicht alt genug, um zu begreifen, was in der Zeit, die ihn prägte, politisch geschah.

Meine Versuche in den sechziger Jahren, über die Zeit des Faschismus zu reden, scheiterten allesamt. Mein Vater hätte vermutlich auch nicht viel sagen können. Für ihn galt die Devise aus Römer 13, Vers 1: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Ich fand das abscheulich. Ich wollte die Welt verändern, und lebe, vermutlich heute auch noch, nach dem Motto, dass mich jedwede Obrigkeiten kreuzweise können und dass Religionen allesamt bekämpft werden sollten. Obrigkeitshörigkeit ist für mich ein schlimmes Schimpfwort.

Für Politik interessierte er sich nicht. Ich vermutete damals, dass meine Mutter recht hatte, wenn sie behauptete, mein Vater würde auf Wahlzettel einen Satz aus der Bibel schreiben – Jesaja 41. Vers 24: Siehe, ihr seid aus nichts, und euer Tun ist auch aus nichts; und euch wählen ist ein Greuel. Heute muss ich schmunzeln, wie sich meine Meinung dem angenähert hat, aber natürlich aus anderen Gründen.

kurt schröder
Meine Vater mit seiner älteren Schwester, vermutlich 1929 oder 1930, Holzwickede

Mein Vater wurde evangelisch getauft, eine Tatsache, mit der ich ihn noch vor wenigen Jahren, als ich nach einiger Recherche im betreffenden Kirchenbuch fündig geworden war, aufzog: Er war neuapostolisch und alle andere Religionen waren „Feindsender“. Mein Großvater hatte gelehrt, mich auch, dass insbesondere die Katholiken die große Hure Babylons der heutigen Zeit seien. Die Protestanten waren fast genauso schlimm, vor allem weil sie seinem Glauben so ähnlich waren. Mein Vater hat nie eine „fremde“ Kirche betreten, noch nicht einmal eine leere, etwa im Urlaub, um sie zu besichtigen – alles Teufelswerk, um wahre Gläubige zu verwirren. Auch das bringt mich heute zum Lachen, weil ich das manchmal exakt so handhabe – ich würde nie eine neuapostolische Kirche mehr betreten, vielleicht nur auf die Fußmatte spucken. Da kommt wieder Lichtenberg ins Spiel: Grade das Gegenteil tun, heißt auch nachahmen, es heißt nämlich, das Gegenteil nachahmen.

kurt schröder
Sonntagsschule der Neuapostolischen Kirche Holzwickede, vermutlich 1933 oder 1934. Mein Vater steht in der mittleren Reihe, 2. von rechts. Rechts oben mein Großvater Hugo, der damals schon Prediger war, obwohl er erst 1933 zur NAK konvertierte. Die Laienprediger der Neuapostolischen hatten und haben keinerlei theologische Ausbildung.

Was lernt man als Kind, wenn in den Schulen nur Nationalsozialismus gelehrt wird und man gleichzeitig durch eine fundamentalistische christliche Sekte geprägt wird? Zum Glück war mein Großvater, ein Bauernjunge aus Westpreußen und als Bergmann im Ruhrgebiet Kommunist, bis er fromm wurde, gegen Hitler – für ihn war die Religion wichtiger. Meinem Vater verbot er den Besuch einer Adolf-Hitler-Schule, obwohl die Schulleitung das empfohlen hatte. weil der kleine Kurt einer der besten Schüler sei. „Dann hätte ich keinen Sohn mehr“, ist als Zitat meines Opas überliefert, eine Einsicht, die heute noch meinen Respekt fordert.

kurt schröder
Mein Vater 1934 als Schüler, Holzwickede

Meine Familie war immer aufstiegsorientiert. So weit man sich erinnern konnte, gab es unter den Vorfahren, den Verwandten und Freunden ausschließlich Bauern, Arbeiter und kleine Angestellte. Man hatte es „geschafft“, wenn man Beamter wurde – auf der sicheren Seite war. Künstler und ähnlich windige Existenzen waren nicht vorgesehen. Als ich meinen Eltern erklärte, dass ich den Lehrerberuf aufgeben und Journalist werden, womöglich Bücher schreiben wolle, war mein Vater entsetzt – er konnte das nicht verstehen. Er hat mich aber nicht versucht davon abzuhalten, was nicht möglich gewesen wäre, weil ich genau so stur wie er bin, und respektierte mich damit, was ich erst sehr spät verstanden habe.

Jahre später, als mein Vater aufgefordert wurde, schriftlich zu der damals seltenen Tatsache Stellung zu nehmen, warum ich den Kriegsdienst verweigerte, antwortete er sinngemäß: Man hielte mich, seinen Sohn, für in der Lage, entscheiden zu können, Soldat zu werden, und das müsse dann doch auch für das Gegenteil gelten – eben das nicht zu tun?

Dieses Glück hatte mein Vater nicht. Noch während seiner Zeit am Gymnasium wurde er als Luftwaffenhelfer abkommandiert: Luftwaffenhelfer hatten nicht den Status von Soldaten. Sie erfüllten zwar wie Soldaten Aufgaben an Geschützen und Geräten und lebten in den Flakstellungen wie sie, waren jedoch gleichzeitig Schüler, die von Lehrern unterrichtet wurden. Offiziell galten sie als Mitglieder der Hitlerjugend, was ihnen oft missfiel. (…) Freiwillige Meldungen waren nicht möglich, die Schüler wurden klassenweise und innerhalb der Schulklassen jahrgangsweise zum Einsatz abgeordnet. Mein Vater musste nach Köthen in Sachsen-Anhalt.

kurt schröder
Mein Vater als Luftwaffenhelfer in Köthen, 1943 und 1944

Als der Krieg vorbei war, ging es nur um’s Überleben. Das Abitur hatte mein Vater verpasst. Der einträglichste Beruf war Bergmann – das lernte er, wie sein Vater. Handwerkliches hat ihm immer Spaß gemacht. Ja, er war berühmt dafür! Als ich im zweiten Schuljahr war, sollten die Schüler ein Papiermodell ihrer Wohnung oder ihres Hauses basteln und mitbringen. Mein Vater baute ein kleines Modell unseres vierstöckigen Wohnhauses, mit maßstabsgetreuem Grundriss und Wänden aus Pappe und vier entnehmbaren Etagen, ein kleines Wunderwerk, an das ich mich noch heute erinnern kann – und daran, dass die Lehrer und anderen Schüler ehrfürchtig staunten und es kaum zu berühren wagten. (Ich darf darauf hinweisen, dass alle, die das von mir gebaute Hochbett in meinem Gästezimmer sehen, ehrfürchtig staunen.)

Mein Vater hat bis ins hohe Alter mir immer Werkzeug geschenkt oder etwas für mich gebaut, Schränke oder die Anrichte, die noch heute in meiner Küche steht, die er noch mit knapp 80 Jahren zu meiner Hochzeit gebastelt hatte – natürlich in Perfektion. Sein Maßstab, alles müsse perfekt sein, hat mich manchmal zum Wahnsinn gebracht. Als ich als Junge meinen Koffer packte, für ein paar Tage im Schullandheim, machte er den wieder auf und packte alles neu, aber jetzt so, dass man ihn schließen konnte. Damals war ich genervt, heute muss ich mich zurückhalten, wenn ich in einer ähnlichen Situation bin. Ich neige dazu, alles besser zu wissen und zu können als andere – und das denen auch zu sagen und zu zeigen. Damit macht man sich nicht unbedingt beliebt.

kurt schröder
Mein Vater (rechts) als Laienprediger („Priester„), Anfang der 50-er Jahre. In der Mitte mein Großonkel Otto Mey, der damalige „Vorsteher“ der neuapostolischen Gemeinde Holzwickede. Ich mochte „Onkel Otto“: Der war ein sehr kleiner Mann, aber trat um so energischer auf. Im 1. Weltkrieg hatte er eine Medaille für große Tapferkeit bekommen, weil er allein 17 Franzosen gefangen genommen hatte. Er erzählte bei Familientreffen Geschichten aus Ostpreußen, wie er den Teufel „ausgetrickst“ hätte und wie man gemeinsam in Opherdicke dafür gesorgt habe, dass ein Selbstmörder nicht mehr in einem Haus spukte und mehr in der Art. Das war spannender als jeder Horrorfilm. Otto war für meinen Vater eine wichtige und prägende Figur.

Wir erzieht man Kinder, wenn man durch Nazis zum „kulturellen“ Nazi erzogen wird? Man Vater hatte gelernt, man müsse zunächst den eigenen Willen von Kindern brechen, um sie dann erziehen zu können. Etwas anderes kannte er nicht, und so praktizierte er es an mir. War mein „Konto“ an Missetaten „voll“, prügelte er mich mit einem Stock. Das war schlimmer als ein spontaner Ausraster – kalt und berechnend. Später hat er das bitter bereut, schämte sich aber so sehr, dass er mir das selbst nicht sagen konnte, sondern meine Mutter bat, das für ihn zu tun. Ich war zu jung und damals zu wenig in der Lage, meine Emotionen ausdrücken zu können, um ihm zu sagen, dass ich seine Entschuldigung akzeptiert hatte.

kurt schröder
Mein Vater und ich, ca. 1956 oder 1957, im Sauerland in der Nähe der Daubermühle

Als ich auf ein Gymnasium geschickt werden sollte, protestierte mein Großvater – das würde meinen Glauben zerstören. Meine Eltern setzten sich durch, wofür ich ihnen dankbar bin. Die Religion war in den folgenden Jahrzehnten ein großes Hindernis, über mehr als Smalltalk hinauszukommen – ich war mit 20 aus der NAK ausgetreten und zu feige, das meinem Vater ins Gesicht zu sagen. Er wusste es aber von meiner Mutter. Als ich meine Staatsexamenarbeit mit Bestnote machte und sie stolz meinen Eltern präsentierte, sagte mein Vater nichts. Meine Mutter beichtete mir später, mein Vater habe nicht begriffen, was das sollte und es „Geschwätz“ genannt.

Auf seine Art war er der zuverlässigste Mensch, den ich kannte. Wenn er ankündigte, etwas zu tun, dann geschah das auch – ohne Wenn und Aber. Keine Kompromisse! Man zieht eine Sache, von der man überzeugt ist, durch oder lässt es ganz, auch wenn alle ringsum empört aufheulen – eine Haltung, die mir heute sehr bekannt vorkommt. Von meinem Vater habe ich unbewusst gelernt, wie man den inneren Schweinehund besiegt und der öffentlichen Druck aushält. Mit 16 oder 17 Jahren „musste“ ich oft an einem Tag in der Woche mit ihm zusammen „Zeugnis bringen“ – das heißt: Man geht kurz nach der „Tagesschau“ raus (wir besaßen keinen Fernseher) und klingelt bei wildfremden Leuten, die erstaunt die Tür öffnen, und fragt sie, ob man mit ihnen über Gott reden könne. Das muss man sich als Jugendlicher erst einmal trauen. Ich erinnere mich immer an Jack Londons Abenteuer eines Tramps, ein Buch, das ich als Junge begeistert gelesen habe: Ein Tramp, der bettelt, muss, wenn sich eine Tür öffnet, in weniger als einer Sekunde zu dem Gesicht, was erscheint, die „passende“ Geschichte erfinden, um etwa zu bekommen. Man lernt, sich „volkstümlich“ auszudrücken.

kurt schröder
Ich besuche meinen Vater in der Klinik, 2015

Bis ins Greisenalter fuhr mein Vater noch Auto und mich sogar manchmal zur Nachtschicht, wenn ich vorher meine Eltern besucht hatte. Wir versuchten ihm klarzumachen, dass er die Poller vor dem Supermarkt nicht unbegrenzt oft umfahren könne, und was wäre, wenn ein Kind vor den Wagen liefe? Irgendwann schlossen wir dann einen Kompromiss. Wir nahmen ihm das Auto weg, aber er durfte seinen Führerschein behalten. Ich war mit meinem Vater einmal in einem Autoladen, um einen Leasing-Vertrag abzuschließen oder zu verlängern, und der Kerl hinter der Theke hielte den Führerschein meines Vaters wie eine ägyptische Schriftrolle in der Hand und wusste nicht, was das für ein exotischer Lappen war. Mein Vater hat auch nie einen Unfall gebaut, dazu war er viel zu korrekt und pflichtbewusst. Wir spotteten immer, er würde auch in der Wüste Sahara vor einer roten Ampel anhalten, selbst wenn 300 Kilometer ringsum niemand sei. So war er eben, und er hatte nie die Absicht, daran was zu ändern.

Im Alter von 88 sprang er dann dem Tod von der Schippe. In einer Nacht sackte er schreiend zusammen, und meine Mutter rief die Feuerwehr. In der Klinik stellte man ein Aorta-Aneurysma fest, eine geplatzte Bauchschlagader. In dem Alter ist das ein Todesurteil. Aber nicht bei meinem Vater. Der operierende Chirurg sagte mir am nächsten Morgen, ein Aneurysma der Aorta überlebe man nur, wenn man sofort auf den Operationstisch springe. „Wir glaubten nicht ihn durchzubringen.“ Mein Vater war aber noch mit Blaulicht durch halb Berlin gefahren worden. Als er auf der Trage lag und am nächsten Tag auf die Intensivstation gefahren wurde, winkte mein Vater mir zu. Das medizinische Personal machte große Augen oder schüttelte den Kopf. Ich hätte ihnen am liebsten gesagt: Mein Papa ist stur und zieht das jetzt durch, ob das jemandem gefällt oder glaubt oder nicht. Die Rehabilitationmaßnahmen dauerten drei Monate. Er bekam einen künstlichen Darmausgang und einen Herzschrittmacher.

kurt schröder
Zu seinem neunzigsten Geburtstag bekam mein Vater von seinem ersten Urenkelkind ein Blümchen geschenkt.

Irgendwann ging es nicht mehr. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater und konnte ihn nicht mehr pflegen. Immer wenn das Thema aufkam, wurde mein Vater extrem ängstlich und fing laut an zu weinen. Wir waren froh, dass er einen klaren Kopf behielt, nur der Körper verfiel zusehends. Vor wenigen Monaten war ein schönes Pflegeheim ganz in der Nähe der Wohnung meiner Eltern gefunden.

Aber schon nach wenigen Wochen aß mein Vater nichts mehr. Sogar der Fernseher, das einzige „Vergnügen“ neben den Besuchen der Kinder, interessierte ihn nicht mehr. Noch vor zwei Wochen konnte meine Mutter ihn noch einmal besuchen. Es war für sie ein Abschied – so hat sie es empfunden. Bei meinem letzten Besuch, als er noch flüstern konnte, sagte er mir: „Das ist alles so unwirklich.“

Gestern (am 3. Oktober) rief man uns an, wir sollten bitte so schnell wie möglich kommen: Die Rasselatmung habe eingesetzt. Er öffnete nicht mehr die Augen und reagierte nicht spürbar und lag friedlich mit den Händen auf dem Bauch. Wenige Stunden später war er tot.

Papa, ich habe mehr von dir gelernt und übernommen, als du dir je zu träumen gewagt hast. Neben mir steht seine Armbanduhr, die ich von seinem kalten Arm nahm. Sie läuft noch.

Nachtrag: Meine Mutter (94) liegt nach einem schweren Sturz auf den Kopf im Krankenhaus. Sie konnte weder sprechen noch schlucken und war halbseitig gelähmt, ein Blutgerinnsel im Kopf drückt auf das Gehirn. Laut ihrer Patientenverfügung verboten wir alle Maßnahmen wie künstliche Ernährung per Magensonde. Wir wussten nicht, wer von unseren Eltern eher sterben würde, meine Mutter oder mein Vater. Als ich sie besuchte, konnte sie nur einzelne Wörter mühsam flüstern. Heute, zwei Tage später, rief mich meine Schwester an: „Mama kann wieder schlucken. Die Lähmung geht zurück. Sie schimpft auf die Krankenschwestern, die ihr nicht das richtige Mineralwasser bringen.“ Vielleicht werden sich Ehepaare, die siebzig Jahre verheiratet waren, irgendwann immer ähnlicher.

Stadtfeind, Pömpel et al

stadtfeind

Die Stadt hat mich wieder, und ich bin ihrer verworrenen Wunder voll. Das obige Gedicht habe ich in einer Art Poesiealbum meines Großvaters Hugo Schröder gefunden. Bauernsohn aus dem so genannten Warthegau, dann Bergmann im Ruhrgebiet, dann Kommunist, dann (leider) religiös geworden und Laienprediger. Das Zitat stammt vom Arbeiterdichter Karl Bröger, aus Flamme. Brögers Lebenslauf ist sehr interessant: Er war Sozialdemokrat, sogar im KZ, wurde aber von den Nazis vereinnahmt, obwohl er nichts mit ihnen zu tun hatte.

Ich frage mich, woher mein Opa dieses Gedicht kannte. Der Inhalt ist mit der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis kompatibel. „Stadtfeind“ passt sowohl zum Mainstream „Landlust“ aka Stadtflucht (die auch zur Weimarer Zeit bei kleinbürgerlichen Aussteigern beliebt war), aber auch zur Stadtfeindlichkeit Pol Pots und der „Roten Khmer“ in Kambodscha.

Das Doofe am Älterwerden ist eben, dass man erkennt: Alles ist schon mal dagewesen, nur das historische Kostüm ändert sich. Das macht es aber auch leichter, Dinge einzuordnen.

Liebe Freunde, ich habe immer noch Urlaub, aber so viel zu tun, dass ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll.

[x] Neues Smartphone einrichten und synchronisieren
[ ] Geld von der Bank holen asap
[ ] Fahrrad zur Reparatur bringen asap
[ ] Beleuchtung im Bad reparieren asap
[ ] Kaputte Dusche im Bad reparieren, Flex leihen, alte Duschwanne rausreißen, neue Duschwanne besorgen, neues Rohr und neuen Abfluss kaufen, mauern und erden, Silikon kaufen, alles abdichten asap
[ ] einkaufen asap
[ ] Eribon „Rückkehr nach Reims [x] lesen und [ ] besprechen
[ ] englische Wochenzeitung „The Voice of Gor“ in Secondlife schreiben
[ ] alle sechs Bücher über Spartacus [x] lesen und [ ] besprechen
[ ] Buch über Caesars De Bello Gallico [x] lesen und [ ] besprechen
[ ] Leere Flaschen wegbringen asap
[ ] Harald Haarmann Auf den Spuren der Indoeuropäer: Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen weiterlesen (sehr interessant!)
[ ] neuen Pömpel kaufen asap

Freihandel Frieden! Wohlstand und Glück für alle!

„Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand.“ (Joachim Gauck, Lautsprecher des Kapitals und Laienprediger der Glaubensgemeinschaft Freie Märkte(TM))

Liebe Brüder und Schwestern!

„Die Profilierung des Kerns der Netzgemeinde findet durch Akademisierung und zur Schau-Stellung des eigenen Wissens statt.“ (Frau Dingens)

Wie ich schon irgendwo und irgendwann schrieb: Die viel zitierte deutsche „Netzgemeinde“ bloggt nicht über Sex (deswegen „Gemeinde“), ignoriert alle, die sich nicht an das gesunde Nerdempfinden den Mainstream halten (typisch für Gemeinden) und followed folgt selbst ernannten eitlen Laienpredigern, die nur gefühlt wissen, wo es langgeht und die langfristig mit den Gemeindemitgliedern Geld verdienen wollen.

Die „Netzgemeinde“ kann mich mal kreuzweise.

Mensch, Oppa!

Hugo Schröder

Das hätte mir mein Großvater Hugo (geb. 07.01.1902 in Mittenwalde – Klein Dombrowo, heute Dabrowa Mala -, gest. 26.4.1992 in Unna) erzählen können… Wieso muss ich das erst jetzt erfahren, kurz vor seinem zwanzigsten Todesdatum?

Mein Vater erzählte mir gestern, dass sein Vater – also mein Großvater – „bei den Kommunisten“ gewesen sei, kurz nachdem er aus Westpreußen nach Holzwickede im Ruhrgebiet gekommen sei. Ich war schon immer stolz darauf, aus einer waschechten Arbeiter- und Bauernfamilie zu stammen. Der Komperativ von „Arbeiter“ ist natürlich „Bergmann“, und nicht nur beide Großväter waren Bergmann, sondern auch mein Vater. (Es ist auch kein Zufall, dass die „Helden“ meines historischen Romans „Die Konquistadoren“ ebenfalls Bergleute sind.)

Mein Großvater mütterlicherseits war ohnehin als Nazi-Gegner bekannt, der im kleinen Kreis Adolf Hitler mit Begriffen wie „Arschloch“ titulierte. Aber dass mein anderer Großvater ähnlich dachte, bevor er dann Laienprediger in einer christlichen Sekte wurde, erklärt meine politischen Gene natürlich irgendwie. Aber ich habe ihn leider auch nie gefragt.

Das Foto zeigt meinen Opa (im Ruhrpott sagte man „Oppa“) Hugo Mitte der sechziger Jahre in Mittelberg im Kleinen Walsertal.