Fratzenbuch, einmal anders

Gesichter

Ich schaue mir gern auf Bahnhöfen aus rein völkerkundlichen wissenschaftlichen Motiven die Plakate an und wie dieselben Menschen beeinflussen wollen, dieses zu tun und jenes zu unterlassen.

Man könnte aus den Gesichtern ein Rätsel konstruieren: Welches transportiert wie welche Botschaft? Ein Gesicht ist ja wie ein kurzer Videoclip oder Trailer, der in extrem verkürzter Form etwas zusammenfasst und mitteilt.

Die Dame links oben kannte ich bisher nicht, und es gibt vermutlich auch keinen Grund, das zu ändern, obwohl sie angeblich Single ist. Man erkennt jedoch unschwer die Ikonografie eines bestimmten sozialen Milieus, das mitnichten das proletarische ist und auch nicht das der neuen grünalternativen Mittelschichten. Allein schon der Schmuck und die aus unerklärlichen Gründen halb ausgerupften Augenbrauen passten nicht in mein Beuteschema wirklich zum Outfit einer anderen sozialen Klasse. Ich vermute, um bei Clichés Klischees zu bleiben, dass ältere Leserinnen etwa der „Gala“, der „Bunten“ oder der „Berliner Morgenpost“ sich angesprochen fühlen. Leser, die die Vornamen Désirée Amneris Saskia Pamela Aida mögen, mögen auch: Friedrichstadtpalast, Rasenmäher, Franz Lehar, die „Alternative für Deutschland“, Heino und den MDR.

Rainer Hunold, dessen Namen ich nicht im aktiven Gedächnis vorrätig hatte, kenne ich flüchtig aus irgendeiner Fernsehserie, zu der ich vor gefühlten Jahrzehnten nur im Minutentakt zappte, weil dort die schönste aller Frauen mitspielte, mit der Hunold, obzwar deren Ehemann, noch nicht mal echte Küsse austauschen durfte. Die anderen beiden Männer auf dem Plakat sagen mir nichts. Die etwas verkrampft grinsenden Gesichter sollen vermutlich dem Betrachter suggerieren, dort werde irgendeine Art von Humor geboten. Und warum eine Männergruppe? Es kann sich also auch nicht um Daily Soap handeln; immerhin hat man die Gesichter so ausgewählt, dass man mit etwas Mühe drei Generationen männlicher Spießer erkennt. Menschen, die Rainer Hunold mögen, mögen auch längsgestreifte Herrenhemden, Einbauküchen, das HB-Männchen, Minigolf und Wasserbetten, aber keinesfalls Cargohosen, Ensiferum oder Burks‘ Blog.

Ganz rechts – Berliner erkennen natürlich Harald Martenstein, dessen Frisur zu dem passt, was er so schreibt. Könnte Martenstein auch Haargel benutzen und einen Schlips tragen? Nein, das wäre dann eine andere Art von Lesung, etwa eine für Volkswirtschaftler über die Anbetung des gebenedeiten freien Markts. Leser, die Martenstein mögen, mögen auch den „Tagesspiegel“, die „Zeit“, Vernissagen, Stehempfänge mit Champagner, Oberstudienräte und Rechtsanwälte, Bilder von Matisse, aber keinesfalls die „Konkret“, Thomas Müntzer, Guinea Pig mit brauner Soße oder Stalin.

Links unten sehen wir Männer, zumal ältere Männer, dürfen hässlich auf Plakaten sein, wenn sie reich sind oder über andere vergleichbare Qualitäten verfügen. (Für Frauen gilt das eben nicht.) Menschen, die Hallervorden mögen, mögen auch kleinbürgerlich-anarchistischen Humor, Schlösser in der Bretagne, Currywurst, den Dalai Lama, Rosamunde Pilcher, die SPD, aber keinesfalls die „Jungle World„, das Fermatsche Theorem oder Veganismus-Asketismus.

Wer zum Teufel ist denn die Dame im roten Overall und wer trägt so etwas warum? Was will mir der Künstler das Plakat damit sagen? Da es die erwähnte Domain nicht gibt, ist das Thema, auf das mich die Ikonografie und das Outfit hinweisen wollen, irgendwas mit Partnersuche und was alles dabei schiefgehen kann. Leute, die Jasmin Wagner mögen, mögen auch Dieter Bohler, Dieter Nuhr, Sonnenstudios, Blümchen, Cheerleader, DJ BoBo, aber keinesfalls Julius Cäsar, Primzahlen, altgriechisch, die Relativitätstheorie oder Putin.

Habe ich etwas vergessen? Ich hatte gestern und teilweise auch heute eine zeitlich und getränkemäßig ausschweifende Party und brauche jetzt den zweiten Liter Kaffee…

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Kommentare

3 Kommentare zu “Fratzenbuch, einmal anders”

  1. kynik am April 15th, 2014 5:40 pm

    manmanmanman. wat machst du bloss ohne das stumpfe eck?
    schon ein ausweichquartier gefunden? ich wage ja nicht von einer ersatzkneipe zu sprechen.

  2. Alexander Eppner am April 15th, 2014 9:48 pm

    Plausible Analyse. Mein erster Eindruck (=Bauchgefühl): stimmt, was Sie schrieben.

  3. Wolf-Dieter am April 16th, 2014 10:05 pm

    Hallervorden mag als Klamauk-Didi bekannt sein – von der darstellerischen Substanz her ist er aber nicht zu verachten!

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