Gemeinschaftsentzug und reine Versammlungen

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Das hat bestimmt nichts mit Religion oder sexuellem Missbrauch zu tun.

Was haben wir? Vor anderthalb Jahren verließ F. die Gemeinde der Zeugen Jehovas, teilte die Staatsanwaltschaft Hamburg mit. Er sei „freiwillig, aber nicht im Guten“, gegangen. (…) Ein anonymes Schreiben, das der Polizei vorliegt, soll Hinweise auf die psychische Verfassung des Täters gegeben haben. Demnach habe F. unter einer psychischen Erkrankung gelitten, sich aber nicht in ärztliche Behandlung begeben.

Das reicht mit schon. Vermutlich kenne ich mich bei dem Thema besser aus als fast alle Journalisten in Deutschland, weil ich einer der wenigen mit persönlicher Sektenerfahrung bin. Ich weiß, was es bedeutet, wenn jemand so eine Gruppe verlässt und welche Konsequenzen so etwas hat.

Natürlich darf Religion totaler Unsinn sein. Es gibt aber perfide Mechanismen psychischer Gewalt, so dass manche religiöse Praktiken schlicht Körperverletzung sind. Gewalt liegt immer dann vor, wenn Menschen gezielt oder fahrlässig physisch oder psychisch geschädigt werden. Gewalt ist ein Moment von Macht.

Ein besonders prägnantes Beispiel ist der so genannte Gemeinschaftsentzug. Sinngemäß heißt das: Wenn das verkündet wird, muss man weiterhin überall mitmachen, aber keiner redet ein Wort mit einem. Das gilt sogar innerhalb einer Familie – cancel culture auf religiös.

Die Zeugen Jehovas kommentieren das so: Ein Ausschluss erhält die Versammlung rein. Der Apostel Paulus warnte die Korinther vor der Gefahr, jemand in ihrer Mitte zu dulden, der vorsätzlich sündigt. Er verglich dessen Einfluss mit Sauerteig, weil „ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert“. Dann forderte er sie dazu auf: „Entfernt den bösen Menschen aus eurer Mitte“.

Ich habe das bei meiner eigenen Mutter erlebt, die Mitglied der Neuapostolischen Kirche (NAK) war. Dort gibt es den so genannten Gemeinschaftsentzug nicht als Strafe, er wird dennoch de facto praktiziert. Als meine Mutter sich vor mehr als dreißig Jahren entschloss, die Sekte zu verlassen, stand sie vor dem Dilemma, dass alle ihre Freunde, Bekannten, Verwandten ab dem Zeitpunkt, als sie das erfuhren, sie wie Luft behandelten. Niemand besuchte sie mehr, niemand redete mehr mit ihr außer über Belanglosigkeiten und das Nötigste. Es kamen sogar Pfaffen zu ihr, die ihr verkündigten, bliebe sie bei ihrem Entschluss, würde sie als „Trauerkloß“ enden – Depression mit Ansage. Ich war damals 500 Kilometer entfernt. Wäre ich dabei gewesen, hätte ich dem Kerl die Ohren langgezogen und ihn achtkantig aus der Wohnung geworfen. (Ich bin schon vor mehr als einem halben Jahrhundert ausgetreten.)

Meine Mutter war mit niemandem befreundet, der nicht Mitglied der NAK war. Das wird so gewünscht, und das wird den Mitglieder seit der frühesten Kindheit so eingetrichtert. Meine Mutter wurde in die NAK hineingeboren. Ihr Mann – mein Vater – war „Amtsträger“, also auch Pfaffe, und lebte weiterhin mit ihr zusammen. Aber über die Sekte wurde kein Wort mehr verloren. Wie fühlt sich jemand, der plötzlich seine gesamte Peer group verliert?

Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich auch die private Gespräche in so einer Sekte fast ausschließlich um Religion drehen. Alles anderen ist „Babylon“, die „Welt“, mit der man nichts zu tun haben will. Bei der NAK galt zudem, dass jemand, der Mitglied war, aber die Sekte verlässt und „lästert“, also abfällig über sie redet, für immer in der tiefsten Hölle schmoren wird – das glauben die -, weil das die einzige Sünde ist, die Gott nie vergibt – genannt die „Sünde wider den heiligen Geist„.

Jetzt weiß das Publikum mehr über die „psychische Verfassung des Täters“. Die Zeugen Jehovas sind übrigens noch restriktiver und schlimmer als andere Sekten wie die NAK.

The Independent (2017): „Russian Government files lawsuit against Jehovah’s Witnesses to declare it an extremist group“. Gut so. Und nicht nur die.

Haben die „Grünen“ schon davor gewarnt, Religion dürfe nicht verunglimpft werden?

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Kommentare

10 Kommentare zu “Gemeinschaftsentzug und reine Versammlungen”

  1. RuePoe am März 10th, 2023 4:26 pm

    Solche abgekapselten, religiösen Gemeinschaften sind reiner Terror gegenüber Individuen. Zu diesem Thema gibt es eine gute True-Crime-Serie, eine kurze Serie ohne weitere Staffeln, bei Netflix: ‚Mord unter Mormonen‘. Sehenswert.

  2. nh am März 10th, 2023 4:51 pm

    Mein aufrichtiges Beileid in solchem Umfeld grossgeworden zu sein. Hineingeboren, ja.
    Menschenfänger.
    Scientology und Grüne nehmen sich da nicht viel, ausser vom CIA gepampert zu werden.
    Mir kommt eine Halde an Assoziationen auf, die ich hier leider nicht rezitieren darf.
    Alles Gute für Ihre Vorgeborene, und Ihr Seelenheil.
    Pragmatismus und Realismus muss gelebt werden.
    Beten kann man, wenn der IQ auf Raumtemperatur liegt oder man sich hat vollverarschen lassen.
    Dass man jemand labilen Charakter geradezu zu solch einer Tat treibt, ist bezeichnend.
    Der Islam hat noch Überraschendes mit uns vor :)
    Die Baumaschinenindustrie freut sich darauf.
    Gelebte Anteilnahme am diversen Miteinander, MdB
    Göring-Eckhard freut sich drauf.
    Sie sollte sich demgemäss aber auch als erstes Opfer freiwillig stellen.
    Wenn die Ihrem Glauben nachhängt, fress ich ein Schwein.

  3. name am März 10th, 2023 5:39 pm

    Auf der Suche nach Parallelen.

    „Der neue linke Glauben als eine religiös-psychische Disposition“

    Es geht um eine Buchrezension von Fleischhauer,
    aua Fleischhauer, viel mir aber zu Liebesentzug
    und Gruppenentzug von Sektierern ein.

    https://janfleischhauer.de/tag/ein-falsches-wort/

  4. blu_frisbee am März 10th, 2023 6:09 pm

    Religion macht blöd.
    Alle.
    Manch aber mehr, sogar krank im Kopp.

  5. Juri Nello am März 10th, 2023 7:46 pm

    Es ist doch eher verwunderlich, dass sowas nicht viel häufiger passiert. Gerade, wenn diese Sekten auch noch repressiv und präventiv gegen Spaß vorgehen, wie die Zeugen Jehovas. Wo den lieben Kleinen auch Klassenfahrten verboten werden.

    Passender Weise haben die Zeugen Jehovas ihr Schulungszentrum auf Malle. Direkt im Touristenghetto Paguera (deutsche Beschriftung inkl.).

    Religion kann vielen Leuten Halt und Führung geben. Es geht da um Regeln und Feindbilder, wie bei allen Kartellen der Macht. Diese Kraft ist auch monetär nicht zu unterschätzen, weshalb die Nachricht es auch geschafft hat, den Ukrainekrieg zu dominieren. Und das sogar international.

    Dabei sind Schießereien mit Toten und Verletzten nun eher der Regelfall in Großstädten.

    Je weniger Freiraum das Kartell der Macht zulässt, desto wirksamer ist das Feindbild und natürlich die Bestrafung. Das es dabei streng hierarchisch zugeht und den Oberen Freiheiten vergönnt sind, die dem normalen Mitglied nicht vergönnt sind, ist dabei Bedingung. Das fällt sogar der katholische Kirche auf die Mütze. Da darf man auch gespannt sein, wie das mit dem synodalen Weg so laufen wird. Um die 1000 Jahre haben sie ja noch Zeit. Dann müsste historisch gesehen auch dort wieder eine Veränderung stattfinden.

    Amen.

  6. multiplikato am März 11th, 2023 2:10 pm

    mein „Gott“ Religion ist das halt.
    warum ist man so erstaunt.

  7. ... der Trittbrettschreiber am März 11th, 2023 9:45 pm

    Wie haben die es den nmit „Sekt nach der Ehe“ – oder sind die immer voller Hopfen?

  8. Wolf-Dieter Busch am März 12th, 2023 2:04 pm

    Danke für den umfassenden Artikel, und ja, er erklärt einiges. Der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe – auch ungeliebt – ist ein traumatisches Ereignis.

  9. Wolf-Dieter Busch am März 12th, 2023 3:04 pm

    Natürlich darf Religion totaler Unsinn sein.

    Dass Religion unsinnig, weil bloßer sozialer Unterdrückungsmechanismus sei, ist Narrativ ders Marxismus, geformt in den Unruhen des 19. Jahrhunderts – „halt du sie dumm, ich halt sie arm“ – und beruht auf dem eurozentrischen Missverständnis, Religion mit den Konfessionen und Sekten im westlichen Kulturkreis gleich zu setzen.

    Die Naturreligionen sind die „Gesetzbücher“ der Naturvölker, die die Sozialleben innerhalb der Stämme als Regelwerke stabilisieren.

    Der Monotheismus der jüdischen Stämme ersetzte die vielen einzelnen durch ein einheitliches gemeinsames Regelwerk, so dass Konflikte zwischen Stämmen nicht mehr wie zuvor kriegerisch, sondern mit Intrige etc. ausgetragen wurden – schonender für die Ressourcen des Volks.

    Ich selbst bin mit Eintritt ins Arbeitsleben aus der Kirche ausgetreten, wodurch sich mein Verhältnis zum Christentum entspannt hat; aber ich habe – erziehungsbedingt – nicht aufgehört, dazu zu lernen.

    Mein Austritt ist ein Vorgang ohne Umkehr, hält mich aber nicht ab, eine Publikation des kürzlich verstorbenen Benedikt XVI zu lesen.

  10. nh am März 12th, 2023 5:21 pm

    Ist doch alltäglich in diesem unseren Land, in dem wir gut und gerne leben :
    Messerattacken und Vergewaltigungen 24/7, nur totgeschwiegen.
    „Einmann“ ist der böse, nicht zu identifizierende
    Passinhaber Deutschlands.
    Der Glaube tötet seit 2015 verstärkt mit zerschnetzelnden Gesichts-OPs durch chirurgische Fachkräfte, einfachen Stichen in Halsarterien durch geschulte Schlachtmeister und deren minderjährigen Lehrlingen.
    Hier einen Vergleich zum hasserfüllten Zeugen Jehovas -mit Waffe!!!- zu ziehen wäre Äpfel mit Birnen.
    Weil die erlebnisorientierte Jugend eigentlich nur spielen will (wer hier das Sagen hat) .
    Gerade in den Ballungsgebieten :
    ICH GÖNNE ES EUCH AUS VOLLEM HERZEN !!!
    Vote Shit, get Shit.
    Der Islam schreitet voran.

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