Alle Macht der proletarischen Schwarmintelligenz

kronstadt

Kronstadt – was fällt den Nachgeborenen dazu ein? Ich will nicht jammern, aber Kronstadt muss man kennen, weil die Frage, die die Aufständischen 1921 aufgeworfen haben, immer noch ungelöst ist. Alle Macht den Räten oder der Partei oder noch was anderes?

Klaus Gietinger schreibt: Vor 76 Jahren am 16. März 1921 griffen 50000 Rotarmisten unter General Tuchatschewski die Festung Kronstadt an, in der sich 14000 Matrosen verschanzt und zweieinhalb Wochen lang, zusammen mit der Zivilbevölkerung der Stadt, die „Dritte Revolution“ gelebt und verkündet hatten. Es waren jene Matrosen, die von Trotzki einmal als „Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution“ gepriesen worden waren. weil sie über drei Jahre zuvor den Bolschewiki zum Sieg verholfen hatten.

Kronstadt gab einem Aufstand den Namen, der den Niedergang der Oktoberrevolution symbolisiert, wie kein anderer. Kronstadt ist der point of no return der russischen Revolution. Danach war die Sache praktisch gelaufen.

Ich suchte in meiner winzigen Bibliothek und fand nur ein Buch zum Thema: „Die revolutionären Aktionen der russischen Arbeiter und Bauern. Die Kommune von Kronstadt“. Vermutlich sind auch die Namen der Verfasser heute nicht jedem geläufig: Johannes Agnoli, großbürgerlicher Herkunft, Faschist, dann Sozialdemokrat [sic], dann einer der Vordenker der APO und des SDS, also der Studentenbewegung der 68-er. Von ihm muss man sich vermutlich den Satz merken: „Der Weg zur Emanzipation kann nicht mit Leichen gepflastert werden“. Cajo Brendel, niederländischer Rätekommunist. Ida Mett, russische Anarchistin und Kommunistin. Alle sind schon tot.

Ich schrieb am 24.11.2017 über das lesenswerte Standardwerk Bini Adamczaks Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman über die russische Revolution, wie sie hätte sein können und sollen: „Ich sehe mich durch die Lektüre bestätigt, das nicht nur mit dem Tod Lenins und der Machtübernahme Stalins die Konterrevolution in der Sowjetunion begann, sondern dass schon viel früher so viele entscheidende Fehler gemacht wurden, dass die Sache verloren war. Die Frage ist nur, ob diese “Sache” unter den damals gegebenen Umständen überhaupt eine ernsthafte Chance hatte.“

kronstadt

Das Kleinbürgertum weiß nicht genau, was es will, und kann es auch, seiner Stellung nach, nicht wissen. Deshalb auch deckte es die Verwirrung seiner Wünsche und Hoffnungen so bereitwillig mit den verschiedensten Flaggen zu – die der Anarchisten, der Sozialrevolutionäre, oder einfach der „Grünen“. (Leo Trotzki, 1938)

Lenin und Trotzki haben, das weiß man heute, über den Aufstand in Kronstadt gelogen und die Fakten verdreht, dass die Balken sich nicht nur bogen, sondern krachten. In der DDR wurde auch alles totgeschwiegen oder nur nachgeplappert, was die stalinistische Parteilinie zum Thema vorgab.

Einige Thesen des Buches (es ist eine Sammlung von Artikeln):
– Wer die russische Revolution als sozialistische Revolution ansehe, müsse den Kronstädter Aufstand als konterrevolutionär beurteilen. Wer aber die Kronstädter für Revolutionäre halte, könne den späteren sowjetischen „Sozialismus“ nicht mehr als solchen sehen.
– Die russische Revolution sei in Wahrheit eine bürgerliche Revolution gewesen, nur ohne ein relevantes Bürgertum oder sogar gegen die Bourgeoisie. Ein organisiertes und kämpfendes Proletariat habe es nicht gegeben.
– Was sich auf russischem Boden als „Marxismus“ entwickelte, sei in Wirklichkeit „dem jakobinischen Radikalismus eines Auguste Blanqui“ viel näher als den Auffassungen von Marx und Engels.
– Nicht die Arbeiterklasse verfügte nach der Revolution über die Produktionsmittel, sondern der Staat, also die Partei. [Das wird heute niemand bestreiten]

Die Fragen wurde genau so in der chinesischen Kulturrevolution gestellt und wird auch heute in China unter den Tisch gekehrt: Gibt es Klassenkampf und eine herrschende Klasse in einer Gesellschaft, die sich als sozialistisch versteht? Und wie gehen die Linken damit um?

Noch einmal Klaus Gietinger: Dem Einwand, gegen einen von allen Seiten einfallenden Feind hilft keine demokratisch organisierte Armee. kann man mit Rudi Dutschke antworten, daß „eine solche Situation gerade für Milizen und Partisanenkampf geeignet“ ist. Das kann man als naiv ansehen oder einfach als zynisch. So einfach kann man es sich nicht machen. Lieber auf die Macht verzichten und in den Untergrund gehen und die Bevölkerung den Faschisten überlassen?

Ich weiß es nicht. Ich muss mal jemanden fragen. Bini Adamzcak vielleicht.

kronstadt

image_pdfimage_print

Kommentare

6 Kommentare zu “Alle Macht der proletarischen Schwarmintelligenz”

  1. Jorg am März 21st, 2021 12:21 am

    „Kronstadt – was fällt den Nachgeborenen dazu ein?“

    Nichts.

  2. Wolf-Dieter Busch am März 21st, 2021 3:44 am

    Kronstadt gab einem Aufstand den Namen, der den Niedergang der Oktoberrevolution symbolisiert, wie kein anderer. Kronstadt ist der point of no return der russischen Revolution. Danach war die Sache praktisch gelaufen.

    Oder es war die Stunde der fallenden Maske.

  3. Juri Nello am März 21st, 2021 4:19 am

    Schwarmintelligenz gibt es bei Insekten. Bei Menschen heißt Schwarmintelligenz Gülle galore.

  4. Godwin am März 21st, 2021 10:05 am

    Agnoli – fand ich im Studium teilweise recht interessant.
    Hab es leider nie geschafft, sein Hauptwerk zu lesen.
    Sollte man vielleicht aber mal tun.

  5. ... der Trittbrettschreiber am März 21st, 2021 10:47 am

    Goßem Geschichtsspektakel Ortsnamen zu verpassen, ist nur für die beteiligte oder bestenfalls die nachfolgende Generation ein Memomarker. Es wäre besser, die zu erinnernden „Themen“* über Rollenspiele weiterzugeben, in denen über Kommunikation, Gewalt und auch die seltsamsten Stilblüten der Macht reflektiert wird, es sei denn die Akteure dieser Bewusstsein-Machung (auweia) möchten einfach nur den Historiendiskurs mit dem Gefühl der Ödnis anreichern. Nun, wenn es denn der Fragezeichenerzeugung dient…

    *Dieser Terminus ist der zynischste aller reflexiven Betrachtungen – er distanziert und verwertet erlebtes Leid für das angebliche Erarbeiten von enzyklopädischem Wissen für die Nachwelt. Das Vorhandensein von billigem Voyeurismus seitens der eigentlich gaffenden und von geheucheltem Interesse fast schon bemitleidenserten Aufklärenden wird erfolgreich verdrängt. Vor dem Hintergrund dieser von den in diesem Kontext „Mächtigen“ unempfundenen eigenen Persönlichkeitsdefiziten wird problematisch, wer der Empfänger von Trost sein sollte.

    Wenn ich „Kronstadt“ lese, bekomme ich nach der ersten Silbe Durst und lese die zweite auf dem Weg in den Keller, um dort alles wieder in den korrekten geschichtlichen Kontext zu schütten… ;-)… hicks… überall diese rumliegenden Korken…. tragisch.

  6. blu_frisbee am März 23rd, 2021 7:06 am

    Der theoretische Fehler der Bolschewiki war, daß sie den Kapitalismus nur als ungerechtes System begriffen in dem ausgebeutet wird.* Weil: daß der Kapitalismus abscheinend so schön flutscht, das hätten sie gerne gehabt.
    Also haben sie versucht, einen „idealen“ Kapitalismus zu implementieren in dem endlich „das Wertgesetz zur Anwendung kommt“ und dergleichen Blödsinn mehr.
    Ihr Scheißplan hat nie funktioniert weil sie nie die richtigen Preise fanden.

    * Was gegen Kapitalismus spricht: Daß die Menschen unter Herrschaft von Dingen stehen statt umgekehrt. Gebannt starren die Analysten auf die Kurse, Jungfrauen täten sie opfern für sichere Prognose.
    Das ist eine viel tiefere Beleidigung von Mensch sein als nur bloße Ausbeuterei. Fetischcharakter!
    https://www.youtube.com/watch?v=CLBXLg-XyQQ#2:31:11_70_Jahre_Oktoberrevolution
    https://www.youtube.com/watch?v=M81PSEpdnws#29:16_Decker_Sozialismus

Schreibe einen Kommentar