Doppelmoral der Identitätspolitik

„Die so genannte Identitätspolitik blendet die ökonomischen Verhältnisse aus und fokussiert ausschließlich auf die Diskriminierungserfahrungen als Angehöriger einer gesellschafltichen Gruppe. In der Folge entbrennt ein kampf um die besten Plätze der Opferhierarchie. Auf diesem Dampfer steuert die Linke in den Untergang, weil sie damit den Anspruch aufgbt, die Stimme für alle Opfer des Systems zu sein. (…)

Es ist zusehends uncool geworden, die Klassenfrage überhaupt amzusprechen. (…)

Der akademischen Linken sind die Arbeiter peinlich geworden, weil diese mit all den identitätspolitischen Debatten nichts anfangen können. Man muss es sich leisten können, sich über die Feinheiten der gendergerechten Sprache den Kopf zu zerbrechen. Wer bei Amazon im Lager arbeitet, der interessiert sich eher für eine gerechte Bezahlung. Man kann hier deutlich die Doppelmoral der Identitätspolitik sehen, Globale Konzerne wie Apple, Google und Facebook achten in der Außendarstellung peinlich genau darauf, dass sie ‚divers‘ erscheinen – schon allein deshalb, weil alle immer auch Kunden sind. Aber dieselben Firmen wehren sich, wenn ein Betriebsrat gegründet werden soll.“ (Bernd Stegemann, Mitgründer von „Aufstehen“, in einem aktuellen Interview im „Spiegel“ – dort merkwürdigerweise unter „Kultur“ abgeheftet, nicht unter „Politik“, was naheläge.)

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Kommentare

9 Kommentare zu “Doppelmoral der Identitätspolitik”

  1. altautonomer am März 26th, 2019 7:51 pm

    „Der akademischen Linken sind die Arbeiter peinlich geworden, weil diese mit all den identitätspolitischen Debatten nichts anfangen können. Man muss es sich leisten können, sich über die Feinheiten der gendergerechten Sprache den Kopf zu zerbrechen. Wer bei Amazon im Lager arbeitet, der interessiert sich eher für eine gerechte Bezahlung. “

    Ich nenne so etwas Vulgärmarxismus.

    Seit Rostock-Lichtenhagen wurde für Autonome klar, dass die eigenen Positionen unendlich weit von denen der Mehrheitsgesellschaft entfernt waren. Das führte zu einer deutlichen Radikalisierung gegenüber dieser Mehrheit. Ein positiver Bezug auf die »deutschen ArbeiterInnen« war spätestens jetzt nicht mehr möglich. Bei zahlreichen Aktiven folgte ein Bruch mit »traditionellen« linken Positionen, das stärkte antinationale und antideutsche Ansichten. Das „revolutionäre Subjekt“ und der „Klassenfeind“ mußten neu definiert werden.

    Aus: Geronimo. „Feuer und Flamme“

  2. waldheinz am März 26th, 2019 8:19 pm

    https://www.heise.de/tp/features/Der-Klassenbegriff-ist-planmaessig-zerstoert-worden-4336430.html

    Auch wenn das Heiseforum von immer mehr – nun ja – seltsamen Leuten bevölkert wird, manche TP-Artikel sind wirklich lesenswert.

  3. admin am März 26th, 2019 9:04 pm

    Der scheint auch Eribon gelesen zu haben.

  4. Godwin am März 26th, 2019 11:15 pm

    tja ja – Dramaturg. Das ist natürlich ein Vorzeigeberuf innerhalb der Arbeiterklasse – quasi die Verkörperung der Klasse an sich…. *kopfkratz*

    im Grunde sind die vorgetragenen Plattitüden totaler Mist:

    1. Und das ist schon deshalb langweilig, weil an Texten dieses Tenors, die gegen „Political Correctness“ und andere Windmühlen der eigenen Empfindlichkeit ins Feld ziehen, seit Anfang der 90er-Jahre kein Mangel herrscht; die werden in regelmäßiger Gleichförmigkeit veröffentlicht. Wem Stegemanns Buch etwas Neues sagt, der darf die letzten gut 30 Jahre keine Zeitung, kein Magazin, kein Buch aufgeschlagen haben.

    2.
    Stichwort Framing:
    Wenn jemand permanent erklärt, die Partei XY sei zwar THEORETISCH gaaanz wichtig, mache aber PRAKTISCH dann doch alles soooo falsch, dass sie überflüssig werde, dann – ja dann suggeriert diese Person, diese Partei sei schon längst überflüssig und man weine ihr jetzt noch ei paar bittere Krokodilstränen nach – aber bitte, liebe Leute, lasst die Toten ruhen….
    Mit solchen Abgesängen rettet man nicht, sondern tritt auf am Boden liegende nach…

    3. Hat mal jemand nach der Genese von diesem Identitätsgedöns gefragt? Nein!
    War es historisch ggf. notwendig, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt neue Betätigungs-/Argumentationsfelder zu suchen, um in den vorangegangenen (neoliberal geprägten) gesellschaftlichen Transformationsprozessen nicht ganz zu verschwinden?
    Man hat hier ja durchaus auch Erfolge zeitigen können.
    Dass das Ganze auch kippen kann zeigen ja auch Ereignisse wie z.B. der Evergreen Skandal
    Und so unwichtig kann die Identitätsfrage in einer zunehmend fragmentierten und ausdifferenzierten Welt nicht sein – sonst gäbe es keine „identitäre Bewegung“….

    4. Afaik hat DIE LINKE keine Ansprüche bzgl. besserer materieller Lebensgrundlagen aufgegeben. Sie sind halt nur zu dämlich, eine einheitliche Linie zu finden und das wieder ordentlich zu artikulieren (man muss ich mal deren Pressemitteilungen durchlesen – da kriegt man das kalte Erbrechen).
    Und regieren können sie auch nicht!

    5. mal generell zum Dauergebrabbel „linke und Arbeiter“:

    „Die Vielfalt des Lebens ist Lenin unbekannt, er kennt die Volksmassen nicht, er hat nie mit ihnen zusammen gelebt; aber er weiß aus Büchern, wie man diese Menschen zur Raserei bringen und ihre Instinkte am leichtesten aufpeitschen kann. Für die Lenins ist die Arbeiterklasse dasselbe, was für den Metallurgen das Erz ist. Ist es denn möglich, aus diesem Erz – unter allen gegebenen Bedingungen – den sozialistischen Staat zu gießen? Offensichtlich ist es unmöglich – aber warum sollte man es nicht einmal versuchen? Was riskiert Lenin, wenn das Experiment mißlingt?“
    (Maxim Gorki)

  5. blu_frisbee am März 27th, 2019 5:06 am

    Volmer wirft Stegemann vor, #aufstehen obstruiert zu haben.
    http://www.taz.de/Wagenknechts-Rueckzug-von-Aufstehen/!5582420/

  6. Wolf-Dieter Busch am März 27th, 2019 7:05 am

    Genau deshalb ist deren Selbstzuschreibung „Links“ schlicht falsch: die regen sich auf, wenn Zugereiste an den „Tafeln“ in die Grenze verwiesen werden, aber nicht, dass die „Tafeln“ in unserem hochindustrialisierten Billiglohnland überhaupt erforderlich sind. – Bei denen wollt ich nicht tot überm Zaun hängen.

    Links? Rechts? Vergesst den Begriff einfach.

  7. ... der Trittbrettschreiber am März 28th, 2019 5:27 am

    @Wolf-Dieter Busch

    … well said. Ymmd. :)
    Nur die Zaunmetaphorik nimmt mir den bislang traumlosen Mittagsschlaf.

  8. Martin Däniken am März 30th, 2019 11:23 pm

    @Trittbrettschreiber: Mal abgesehen das man als Toter eh nicht mehr so gut sehen kann…
    Selbst wenn,je nach dem wie man über dem Zaun hängt …
    sieht man etwas Boden,Zaun und die eigenen Beine und Hintertgrund
    oder die Fosbury-Flop-Haltung,da siehste nur Zaun und Boden
    oder reverser Fosbury da sieht man den Himmel,wenns regnet,schneit,hagelt
    …nicht optimal ;-)

    Träume schön mein Prinz äh Trittbrettschreiber.
    Hihihihi.

  9. andi am April 2nd, 2019 9:39 pm

    Mir läge es fern zu behaupten, dass nicht einiges auf der identitätspolitischen Schiene in Form von gewonnenen Anerkennungskämpfen erreicht worden wäre. Leider ist diese Schiene ziemlich kompatibel und damit kooptierbar vom durchaus heterogenen neoliberalen Mainstream, was auch oft genug geschehen ist. Man braucht da nur auf die Themen des Weltwirtschaftsforums in Davos oder in manche Broschüren des Bundeswirtschaftsministeriums zu blicken. Grosso modo ist das eine begrüßenswerte Entwicklung, und das politisch linke Spektrum kann noch ein wenig radical chic beisteuern; besser als nix, könnte man sagen.

    Man kann sich aber auch das kapitalistische System angucken und sich ob seiner eher bedenklichen Auswirkungen fragen, ob dieses wirklich das Non-plus-ultra des Wirtschaftens bzw. der Güterversorgung, wozu die Wirtschaft eigentlich dienen sollte, darstellen soll. Diese Frage schließt identitätspolitische Errungenschaften nun beileibe nicht aus, kann aber auf identitätspolitische Weise nicht gestellt werden.

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