Das Kreuz mit der Sucht I

Drogen und Sucht

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Die Fragen, was Sucht sei, woher sie kommt und wie sie zu bewerten sei, führt auf ein schwieriges, kaum überschaubares Gelände. Der biblische Pontius Pilatus wusste angesichts eines ähnlich vertrackten Problems nur zu entgegnen: «Was ist Wahrheit?» Da niemand sich anmaßen konnte, eine angemessene Antwort zu geben, tat der römische Statthalter etwas, das entfernt an die Praxis der heutigen Suchtexperten und Drogenberater erinnert: Er wusch seine Hände in Unschuld. Niemand weiß Bescheid, deshalb können wir alle fortfahren wie bisher.

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Von den zwei Dutzend international erscheinenden Fachzeitschriften zum Thema «Abhängigkeit» kommt nicht eine einzige in Deutschland heraus. «Ein Armutszeugnis», urteilt Michael de Ridder, ein Biologe und Arzt, «das dokumentiert, in welchem Ausmaß die Medizin in Deutschland das Feld der Prävention und Behandlung der Drogenabhängigkeit ordnungspolitischen Scheinlösungsversuchen überlassen hat.» (1)

Oder sind die Experten in Deutschland bescheidener als ihre internationalen Kollegen und Kolleginnen? Haben sie erkannt, dass die Frage nicht zu beantworten, vielleicht sogar falsch gestellt ist? De Ridder behauptet nämlich, dass es trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nicht gelungen sei, «spezifische Persönlichkeitsmerkmale oder Umgebungseinflüsse ausfindig zu machen, die zum Opiatgebrauch prädestinieren. Die Frage, was einen Menschen zum Heroingebrauch treibt, ist letztlich ebenso unbeantwortbar wie die Frage, warum jemand beginnt, Alkohol zu trinken oder auf Berge zu steigen.»

Nein, der schwankende Boden, auf dem alle Theorien über Sucht stehen, führt bei den «Experten» nicht zur inneren Einkehr oder zur demütigen Selbstbescheidung. Ganz im Gegenteil. Selbst manche Drogenberater, die von Opiat-Antagonisten, vom «maturing out», vom «Britischen Modell» der Heroin-Vergabe noch nie etwas gehört haben, antworten auf die Frage, warum jemand heroinabhängig werde, lässig mit «erstens, zweitens, drittens». (2)

Ingo Warnke, der Synanon-Chefideologe, maßt sich sogar an, in der Synanon-Zeitschrift «Suchtreport», die sich im Untertitel, nicht ganz angemessen, «Europäische Fachzeitschrift für Suchtprobleme» nennt, für alle zu sprechen: «Wir Süchtigen». «Die Süchtigen» hätten offenbar nicht «mehr das Zeug», ohne Sozialhelfer zurechtzukommen. Sie forderten immer nur von der Gesellschaft «wie die Kinder vom Weihnachtsmann», wollten aber ihr eigenes Sein nicht verantworten. (3) Wenn man aber noch nicht einmal weiß, was Sucht ist, wie kann man sich dann starke Worte über «die Süchtigen» erlauben?

Im alltäglichen Sprachgebrauch steht «Sucht» häufig für einen unwiderstehlichen Zwang, etwas nicht lassen zu können. Woher der kommt, braucht nicht benannt zu werden. Man kann nach etwas süchtig sein – in dieser sprachlichen Variante steht die für ihr Verlangen verantwortliche Person im Vordergrund; man kann von etwas abhängig sein – damit wird der ursächliche Zwang der Substanz zugeordnet. Gerade bei der bekanntesten Sucht, dem Alkoholismus, kann niemand zwischen den beiden Möglichkeiten klar entscheiden.

Unstrittig ist nur eins: Es gibt Drogensucht, und mehrere Millionen Bundesbürger können ohne Tabak, Alkohol oder Tabletten nicht leben. Das viel beschworene «Drogenproblem» bezieht sich aber, jedenfalls in der Meinung der Öffentlichkeit, weniger auf Alkohol und Tabak, obwohl hier selbstverständlich von einer Suchtgefahr gesprochen wird, sondern auf die illegalen Drogen, Opiate, Kokain, «Designer-Drogen» und Halluzinogene. Haschisch jedoch, das ein Halluzinogen ist, macht nach der überwiegenden Meinung der Fachleute nicht süchtig/und, gemessen an der Zahl der Alkohol- und Tabletten-Abhängigen und der gesellschaftlichen Folgeschäden, sind die Konsumenten illegaler Drogen ein fast zu vernachlässigendes Randproblem.

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Die legale Droge Alkohol fordert jedes Jahr Zehntausende von Opfern. Informationen über die Folgeschäden des Rauchens gehören mittlerweile zur Allgemeinbildung. Dennoch tauchen in den Medien mit einer schon nicht mehr zu erklärenden Hartnäckigkeit «Drogentote» auf, deren Zahl zwar ansteigt, sich aber immer noch im vierstelligen Bereich bewegt. Das Argument, mit «Drogentote» seien die gemeint, die durch illegale Drogen sterben, zieht nicht: Ein großer Teil der sogenannten «Herointoten», deren abschreckende Bilder durch die Presse geistern, ist an einer Überdosis von Barbituraten, Tranquilizern oder Alkohol gestorben – diese Drogen aber sind legal.

Der Begriff «Sucht» bezieht sich nicht nur auf Drogen. Man hat die «Spielsucht» kreiert, man spricht von Liebes- und Machtsucht, Fresssucht und Magersucht haben Eingang in medizinische Fachbücher gefunden – die Zahl der Süchte ist heute Legion. Den Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist dieser inflationäre Gebrauch des Suchtbegriffs schon vor langer Zeit unangenehm aufgefallen. 1969 versuchte die WHO, «Sucht» genauer zu definieren, indem sie das Wort ganz unter den Tisch fallen ließ. Jetzt hieß es «Abhängigkeit». Bezogen auf Drogen lautet eine der heute gängigen Definitionen: «Drogenabhängigkeit ist ein psychischer und manchmal auch physischer Zustand, der durch die Wechselwirkung eines lebenden Organismus und einer Droge entsteht. Er zeichnet sich durch Reaktionen aus, die stets den Zwang beinhalten, die Droge regelmäßig oder periodisch einzunehmen. Dabei besteht einerseits das Bedürfnis, die psychischen Wirkungen der Droge zu erfahren, andererseits der Drang, Abstinenzsymptome zu vermeiden. Toleranz kann vorliegen, muss aber nicht. Ein Individuum kann von mehr als einer Droge abhängig sein.» (4)

Der Begriff «Sucht» ist auch deshalb so beliebt, weil jeder Mensch an Alltagserfahrungen anknüpfen kann, die scheinbar für eine Erklärung des Phänomens ausreichen. Da jeder Raucher und jede Raucherin weiß, dass es nur eine Frage des Willens und der Selbstdisziplin wäre, den Tabakmissbrauch zu beenden, kann man sich schwer vorstellen, warum es Heroinabhängigen nicht gelingt, sich von ihrer «Sucht» zu befreien. Natürlich spielt auch Neid eine Rolle: Wenn angesichts des Desasters der deutschen Drogenpolitik gefordert wird, Heroin freizugeben oder an Junkies zu verteilen, kommt unweigerlich die Erwiderung, dass man dann ja auch Alkoholiker mit ihrer Droge versorgen müsse. Warum sollten Heroinabhängige privilegiert werden?

Diese oberflächliche Alltagslogik deutet auf ein viel tiefer liegendes Problem. Was der Gesellschaft gerade an der Heroinsucht so aufstößt, hat wenig mit der Droge selbst, um so mehr mit der damit zusammenhängenden Subkultur zu tun. Kompliziert formuliert: «Die strukturelle Anfälligkeit westlicher Gesellschaften für Konflikte über die moralische und rechtliche Bewertung des Drogenkonsums ergibt sich aus der delikat ausbalancierten Stellung des Drogenkonsums in einer sowohl am Leistungs- wie auch am hedonistischen Prinzip orientierten Gesellschaft.» (5)

Einfacher: Wer etwas leistet, erfreut sich in Gesellschaften, die im weitesten Sinne auf den moralischen Prinzipien der protestantischen Arbeitsethik fußen, eines hohen Ansehens – und darf sich dann auch mal was Schönes gönnen. Wer freiwillig faul ist, gilt, je nach Rigidität der Norm, als sozialer Abweichler. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, hieß es im alten Preussen. Wer dem Rausch frönt und süchtig ist, genauer: nach oder von illegalen Drogen süchtig ist, sei arbeitsunfähig und damit auch moralisch verwerflich – so jedenfalls das Klischee der öffentlichen Meinung. Man darf dem individuellen Lustprinzip huldigen, wenn man vorher etwas geleistet hat, nur dann. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

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Die Frage ist nur: Wie viele Arbeitsunwillige kann unsere Gesellschaft vertragen? Nicht ihre reale Zahl ist wichtig, sondern ihre symbolische Ausstrahlungskraft, die Faszination einer Drogen-Subkultur, die den normal arbeitenden Bürger zutiefst verunsichert. Die «Sucht», die gleichzeitig das Lustprinzip auf die Spitze treibt, ist ein Angriff auf die Moral. Sucht ist nur in der Freizeit gestattet, als Ausgleich zum Stress des Arbeitslebens, als verschämt genossenes Privatvergnügen oder im Rahmen akzeptierter Rituale wie beim Fußball oder im Vereinswesen.

Das Klischee der «Sucht» als Verweigerung der Leistung ist so in den Köpfen etabliert, dass die Realität kaum eine Chance hat: Heroinabhängige, die problemlos mit ihrer Droge versorgt würden oder werden – was wegen der Illegalisierung des Heroins kaum der Fall ist -, sind genauso arbeitswillig und -fähig wie jemand, der jeden Tag drei Schachteln Zigaretten raucht. Ihre Leistungsfähigkeit ist nicht wesentlich beeinträchtigt, noch nicht einmal, im Gegensatz zu Alkoholikern, die Fahrtüchtigkeit. (6) Sie richten also keinen Schaden an, jedenfalls nicht mehr als diejenigen, die ohne Drogen auskommen. Warum sollte also die Heroin-Sucht überhaupt behandelt oder gar therapiert werden?

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(1) M. de Ridder: Der Stoff, die Nadel und der Tod. In: «Süddeutsche Zeitung», 12.02.92
(2) Eigene Erfahrung des Autors während der Recherche, die aber nicht verallgemeinert werden kann und darf.
(3) I. Warnke: Verantwortliche Erwachsene? In: «Suchtreport» 2/92
(4) Margit Kreutel: Die Opiumsucht, 1987, S. 7
(5) S. Scheerer , S. 92
(6) Bei Tests zur Fahrtüchtigkeit von Heroinabhängigen, die das Medikament Polamidon erhielten, hat sich herausgestellt, dass die Substitution die Leistungsfähigkeit der Testpersonen nicht beeinträchtigte. Das jedenfalls teilten Verkehrsmediziner der Heidelberger Universität auf dem Jahreskongress der Rechtsmediziner im September 1992 mit.

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Kommentare

5 Kommentare zu “Das Kreuz mit der Sucht I”

  1. altautonomer am April 24th, 2023 12:27 pm

    In der Aufzählung der stoff- und verhaltensgebundenen Süchte fehlen noch einige, die eine unauffällige gesellschaftliche Akzeptanz genießen, was an ihrer Gefährlichkeit aber nichts ändert: Magersucht (Anorexia), Sportsucht (Sissi-Syndrom), Kaufsucht (staatlich gefördert), Zuckersucht (über 90 % der Bevölkerung).

    Wer glaubt, nicht zuckersüchtig zu sein, sollte mal versuchen, 1 Woche lang radikal auf Zucker (abgesehen von Zucker in Pistazien, Gemüsekonserven und anderen Minimengen im Brot und vielen Lebensmitteln, in denen man keinen Zucker vermutet). Schon im Kleinkindalter werden wir auf Zucker konditioniert.

  2. Schildkröte am April 24th, 2023 3:39 pm

    Es sind 50-100 € die ein Konsument
    harter Drogen täglich, 24/7 auftreiben
    muss. Gar nicht so einfach, wenn man
    „arbeitsunfähig“ ist.
    Die Drogenunfälle durch Polytox
    hast du angesprochen, wichtig finde ich
    noch auf die Heroinunfälle durch Fehldosierung
    hinzuweisen.
    Der Spalt zwischen passend und tödlich
    dosiert ist bei Heroin hauchdünn.
    Sobald sauberes, ungestrecktes Heroin
    auf der Straße auftaucht, steigt die Zahl der
    Herointoten. Der „goldene Schuss“ ist in
    der úberwiegenden Zahl der Fälle kein Selbstmord,
    sondern ein Versehen.
    Da hat niemand mit gerechnet, dass da jetzt keine
    50% Streckmittel drinwaren. Herzversagen.

    Wenn wir uns die paar Punkte angucken,
    welche Forderungen gibt es an den „Staat“?

    Franz Schubert war heroinabhängig und
    hoch produktiv, also „arbeitsfähig“, weil
    er seinen Stoff sauber, ungestreckt und
    billig in der Apotheke bekam.

    Später mehr….

  3. ... der Trittbrettschreiber am April 24th, 2023 4:38 pm

    @Schildkröte

    Die ganze Diskussion scheint nicht anderes zu sein als Schadensbegrenzung. Uralte Argumente, alte Schriften und Weisheiten, die das ganze Zeugs sogar in den Bereich der Heilmittel hieft, sind nichts als Augenwischerei, um die eigenen Verdrängungskräfte aufrecht zu erhalten oder gar böswillig die Menschheit mit hinunterzuziehen in die Sphäre der Abhängigkeiten – vielleicht auch oder besser sicher, um einfach nicht allein mit dem Schlamassel zu sein und ‚out of the loom‘.
    Mein ganzes Leben schon höre und lese ich diese leicht zu durchschauenden Kampagnen gegen das gesunde Bewusstsein, das nur durch langsame individuelle Entwicklung in die Lage versetzt wird, sich zu erweitern und spirituell zu wachsen.
    Niemand läuft ohne Training und ohne Schaden einen Marathon – außer er puscht sich auf Kosten seiner körperlichen und seelischen Gesundheit.
    Eine Ausnahme gibt es aber. Kein Opernsänger ist in der Lage, das hohe ‚J‘ zu singen, es sei denn er nippt an einem liebevoll gebrauten nordischen Getränk – 4 EVER.

    https://www.youtube.com/watch?v=gQZURkcC3VI

  4. nh am April 24th, 2023 5:47 pm

    @Trittbrettschreiber
    Nur eine Vorfeldargumentation des „Gib das Hanf frei Gesetzes“ ?
    Denkbar. Wenn der Blogherr demnächst luxuriöse Gedecke von seiner abendlichen Tafel mitsamt 2-3
    Escortdamen präsentiert, sehen wir klarer.
    Fakt ist(bin Faktenchecker), die Dosis macht das Gift. Ob es nun 4-stellig für einen Blogger oder 6-stellig für exponierte „Persönlichkeiten-wissen Sie nicht wer ich bin-) ausfällt, wir wissen es nicht. Verdächtig nur dass zum Benebelngesetz hier diese Reihe auftaucht. Interressant fürwahr, wo liegt die Intention des Zeitpunktes ?
    Alles easy, alder.
    Nur darf wirklich nicht vergessen werden, dass unkontrollierter Drogenhandel übelstes Leid mit sich bringt.
    Diese Verbrecher machen sich einen Spass daraus,
    mit viel Phantasie die schädlichsten Streckmittel zu verwenden. Glaspulver für Koks, Strychnin und Rattengift für Heroin hat es alles schon gegeben.
    Beliebt sind Substanzen, die den Schuss katalysieren. Weniger Einsatz, mehr Gewinn.
    Nur leider nicht so gesund.
    Einmal quer durch die Apotheke.
    Legale Abgabe wird den Teufelskreis nicht durchbrechen. Wünschenswert wäre es, den Leuten ein lebenswertes Leben zu garantieren, was aber obrigerseits unerwünscht ist. Divide et Impera.
    Wer unten im Dreck umkommt interessiert einen Luxusuhren-Lindner nicht wirklich.
    Und da vorwiegend unpolitisch, sind solche Individuen irrelevant.
    Ich sehe vor meinem geistigen Auge eine Ricarda Lang in Stöckelschuhen über einen Obdachlosen hinwegstampfen, um kurz vor Ladenschluss den MC Donalds zu erreichen.
    „Hat er Fleisch gegessen oder vegan? -Döner- „Na dann ist gut, dass er verreckt.“

  5. nh am April 24th, 2023 6:11 pm

    @altautonomer
    Hier muss man differenzieren.
    Ihre beschriebenen Süchte werden allein durch mediale Performanzen getrieben.
    Werbung, soziale Plattformen, der letzte Scheiss auf dem Schulhof. Nicht minder schädlich, aber ich würde es der Gleichgültigkeit bzw. Wehrlosigkeit der Elterngeneration ggü. dem Konformitätsdruck der Gesellschaft zuschreiben hier nicht gegenzusteuern.
    Nur -da kommt nix-.
    Ducken, nicht auffallen immer dem Stream folgen.
    Sie können auch nicht die ganze Schulzeit auf ihr Kind achtgeben, falls es wegen falschen Klamotten gemobbt wird.
    Also machen wir mit und spielen das Spiel.
    Und das kann grausam sein, gerade unter Kindern.
    Also anpassen, fressen + tragen was in der Werbung kommt nur nicht auffallen.
    Das ging schon Anfang der 70er los.
    Nur ist das perfide System mittlerweile sozusagen ausgefeilt.

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