Ins Wissenschaftliche verlegte Kampfschrift für deutsche Bedürfnisse

british empire

Jan Gerber rechnet in der FAZ (Paywall, ich bekam den Artikel von einem Leser geschenkt) mit den Postcolonial Studies ab. Lesenwert, aber für viele vermutlich tl;dr.

Die Documenta 15 wurde nicht zufällig zum Festival des Antisemitismus. Obsessiver Hass auf Israel begleitet die postkolonialen Studien schon seit ihren Anfängen. Warum fällt er in Deutschland auf fruchtbaren Boden?

Doch nicht erst die Nähe zur BDS-Bewegung, sondern schon die überdeterminierte Berufung auf den Postkolonialismus hätte stutzig machen können. Das heißt nicht, dass die postkoloniale Theorie per se antisemitisch ist. Ihr kommen große Verdienste zu. Die Postcolonial Studies haben die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, den Verbrechen und dem Nachleben des Kolonialismus befördert. Zugleich haben sie dazu beigetragen, dass Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika im Westen stärker beachtet wird.Dennoch fällt auf, dass es viele namhafte postkoloniale Theoretiker gibt, die BDS-Positionen vertreten. (…)

Auch wenn der Postkolonialismus weder eine in sich geschlossene noch eine antisemitische Theorie ist, hat er offene Flanken zum traditionellen und israelbezogenen Antisemitismus. Die Obsession gegenüber Israel wurde ihm bereits in die Wiege gelegt. Folgt man ihren Chronisten, dann war Edward Saids Buch Orientalismus (1978) das Gründungsdokument der Postcolonial Studies. Said versucht am Beispiel des Nahen Ostens zu zeigen, dass der westliche Blick auf den Orient stets von Dominanzbedürfnissen geprägt war. (…)

Kritiker wie Bernhard Lewis haben schon früh darauf hingewiesen, dass einige zentrale Thesen Saids wissenschaftlich nicht haltbar sind. (…) [Warum sind Leute immer noch nicht in der Lage, Links zu setzen? Ich würde als Chefredakteur die Peitsche schwingen.]

Wer von Deutschland und Israel spricht, thematisiert, ob er will oder nicht, auch die Vernichtung der europäischen Juden. Der Holocaust darf bei Said jedoch nicht oder allenfalls am Rande vorkommen, weil er die Vorstellung dementiert, dass Israel ein Produkt des Kolonialismus sei. Die Weltgemeinschaft stimmte der Gründung des jüdischen Staats 1948 vor allem aufgrund des nationalsozialistischen Massenmords zu. Israel wurde nicht auf Druck der alten Kolonialmächte gegründet, sondern gegen ihren Willen. (…)

„Orientalismus“ ist (…) eine „ins Wissenschaftliche verlegte Kampfschrift“. Auch wenn man nicht so weit gehen will, ist kaum zu übersehen, dass das Buch zumindest im Subtext auf die Delegitimierung Israels zielt. Durch seine Schrift The Question of Palestine, die ein Jahr nach „Orientalismus“ erschien, setzte Said sein wissenschaftliches Werk schließlich selbst explizit in den Kontext seines politischen Engagements gegen Israel. Vermittelt über beide Texte, das theoretische und das politische Manifest, schrieb sich die affektive Besetzung des jüdischen Staats in die postkoloniale Theorie ein. (…)

Die europäischen Juden wurden nicht wegen ihrer Hautfarbe ermordet; das Jahrhundertverbrechen lässt sich nicht mit Verweisen auf die zur zentralen Konfliktlinie des Jahrhunderts ernannte „Color Line“ erklären. Auch daraus resultieren sowohl die vielen postkolonialen Versuche, den Holocaust zu relativieren, als auch die fragwürdigen Bemühungen, das Verbrechen doch noch an der Farbskala einzuordnen. Einige postkoloniale Denker gehen so weit, Juden zu „People of Color“ zu erklären, die erst durch ihren Aufstieg in die Mittelschichten zu „Weißen“ geworden seien. (…)

Nimmt man die Zahlen ernst, dann liegt der Prozentsatz von Antisemiten in Asien,
Lateinamerika und im südlichen Afrika unter dem westeuropäischen Durchschnitt von 24
und dem deutschen von 27 Prozent. Nur der Nahe Osten und das nördliche Afrika weisen
deutlich höhere Werte auf. Sie liegen bei 74 Prozent.

Vor diesem Hintergrund scheint es fast so, als wären mit der demonstrativen
Beschwörung des Postkolonialismus bei der Documenta vor allem deutsche Bedürfnisse
bedient worden. Jenseits aller vollkommen berechtigten Empörung über die
jahrzehntelange Ignoranz der Kolonialgräuel ist hierzulande ein neues Unbehagen an der
Erinnerung an den Holocaust entstanden.

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Kommentare

3 Kommentare zu “Ins Wissenschaftliche verlegte Kampfschrift für deutsche Bedürfnisse”

  1. ... der Trittbrettschreiber am September 21st, 2022 3:19 pm

    Ich hatte ja immer fleißig mit den Fingern geschnippt, damals in der letzten Reihe neben Georg, der einen immer plötzlich aus lauter Lust und Dollerei zu würgen begann. Vielleicht lag es an ihm, dass ich auf meine Frage, was denn nun der ursprüngliche Grund für den Antisemitismus gewesen sein mag. Später lümmelte ich gern auf der Couch zwischen den Bücherregalen mit den Bertelsmann-Abo-Büchern, unter denen sich auch ein abgegriffenes Lexikon schämte, weil auch in und zwischen seinen Blättern nichts Brauchbares auffindbar war. Im Calvin und Zwingli orientierten Konfirmandenunterricht sang man das Lied von der Schuld an der Kreuzigung und die Dorfbauernelitekinder mit den landwirtschaftlichen Adelsnamen Meyer zur Hücker oder auf der Heidi, oft gar wie heute bei den FDP-Grünen die Doppelnamen Drösel von Strönck-Bollerwagen bestanden auf die Geld- und Machtmasche, die den Juden diese Ablehnung eingebracht haben müsste.
    Nun denn, die Welthirne begannen zu schrumpfen und da war es nicht verwunderlich, dass irgendwann alles in einen Topf geschmissen wurde: Volk und Kirche, alles ein Matsch, Israel wird nicht als Staat sondern als Religionsgemeinschaft angesehen und ich hier im Keller kann garnicht soviel pinkeln, wie ich trinken muss ob all der sabbernden Gedanken und Worte, die zu diesem und ähnlichen Themen aus den intellektuellen Köpfen tropfen. Bevor ich jetzt als Relativierungsgegnerbefürworteranstifter mistverstanden werde, lasse ich es einfach doch heute wieder zischen…ich bekomme ja doch keine Antwort, die nüchtern immer noch verständlich ist.

  2. blu_frisbee am September 22nd, 2022 7:19 am

    Die deutsche Staatslüge der erfolgten Vergangenheitsbewältigung konzentriert sich auf die Zahl der Opfer, die Grausamkeit der Durchführung, die industriellen Mittel unter Verschweigen der Gründe, der Ideologie die dazu führt.

    In Nazisicht ist Einheit der Geschichte das völkische Volk. Das gibt sich einen Staat, das Volk macht den Staat. Politiker haben dem Volk zu dienen.
    Sofort die Frage wer zum guten Volk gehört.
    Daher die Rede von Eliten die ihr Volk verraten hätten, zuletzt Baerbocks Prager.

    Juden wurden ermordet weil zur Staatenbildung unfähig , parasitäres Fremdvolk, Feind der Zivilisation per se. Juden wurden ermordet weil Juden, egal ob Banker oder Bolschewiki.

    Echte Nazis bedauern daß sie nur 6 Millionen erwischt hatten.
    Feige Nazis leugnen Auschwitz weil eigene Nation beschädigt.
    Bürgerliche reden verdächtig oft von Volksgemeinschaft (Schäuble, Merkel) obwohl Staat Gemeinschaft nur durch rousseauschen Sozialvertrag hergestellt, der Staat macht das Staatsvolk.
    Der Nazi ist der peinliche Bruder des Bürgerlichen.

    Christen und Moslems sind per se Antisemiten, sie haben unsan Heiland bzw Profeten (wiewohl Jude) umgebracht. Sie haben sich im Lauf der Geschichte wechselseitig befruchtet und radikalisiert.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ban%C5%AB_Quraiza

    Was der Bürgerliche nicht mag wird als Antisemit diffamiert.
    Oft zu Recht, immer verlogen.
    Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Antisemitismus fehlt.
    Da kommen postcolonial studies grade recht.
    Zugleich wird die eigene Einzigkeit versichert (unsere Werte, der rechte Glaube) und jeder Gegner für feindliche Partei gehalten.
    Beide machen den gleichen Fehler.

  3. Götz am September 23rd, 2022 11:50 am

    „… gewesen sein mag,“ keine Antwort erhielt.
    Fehlt da.
    Gibt hier Leute, die das alles lesen.

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