Die herrschenden Dogmen und Mythen, die Legenden und Ammenmärchen, den Aberglauben, die frechen Lügen

Manchmal ärgere ich mich, dass ich von bestimmten Leuten nicht schon eher erfahren habe. Heute bin ich auf einen geradezu brillianten Artikel von Prof. Dr. Michael R. Kräetke (University of Lancaster, Professor and Chair of Political Economy, früher Professor für Politische Ökonomie in Amsterdam) gestoßen: „Marx als Wirtschaftsjournalist“ (pdf).

Natürlich wäre jemand wie Kräetke in Deutschland nie Professor geworden. Die Wissenschaft „Politische Ökonomie“ gibt es hierzulande gar nicht, sondern nur das quasi-esoterische Fach „Volkswirtschaftslehre“. Um sich ernsthaft mit politischer Ökonomie zu beschäftigen, muss man – wie schon zu Marx‘ Zeiten – wieder ins Ausland gehen. In der schweizer WOZ schrieb Kräetke:
In China gibt es heute wieder eine lebendige Marx- und Marxismus-Diskussion, die sich am „westlichen“ Marxismus und an der Mega orientiert. Die akademischen MarxistInnen, die nach 1968 in Westeuropa und in den USA auf Lehrstühle kamen, sind heute fast alle pensioniert oder haben resigniert. Nach 1990 war es unfein und der Karriere schädlich, MarxistIn (gewesen) zu sein. Doch für akademische MarxistInnen und solche, die es werden wollen, bietet erst die Mega eine zuverlässige Grundlage für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx und Engels. Marx vor allem hat – wenn auch in unfertiger Form, als Entwurf und Fragment mehr denn als «Werk» – all das zu bieten, wonach diejenigen rufen, die mit dem heutigen Zustand der Sozialwissenschaften zu Recht unzufrieden sind: die Verbindung von Theorie und Geschichte, das Überschreiten der künstlichen und unproduktiven Disziplingrenzen (auch «Interdisziplinarität» genannt), Sinn für Allgemeines wie für Besonderes, rücksichtlose Kritik alles Bestehenden, einen offenen Blick und das nötige analytische Instrumentarium, um eine Welt zu begreifen, die sich in ständiger Veränderung befindet.

Das wäre ja ein Grund, Mandarin zu lernen, aber das war mir denn doch zu schwierig, obwohl ich es versucht habe. Ich habe aber nicht resigniert.

Kräetke schreibt:
Die Marxschen Analysen und Kritiken der offiziellen Haushaltspläne der britischen Regierungen, seine Erläuterungen der diversen Finanzreformpläne und ihrer absehbaren Folgen ernteten wiederholt höchstes Lob und Anerkennung – auch von erklärten Gegnern seiner Ansichten. Die Redaktion der NYT schloss sich diesem Lob wiederholt an. Marx’ Budgetkritiken wurden offensichtlich ernst genommen, zitiert und nachgedruckt. (…)

Im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen, in den führenden Wirtschaftsjournalen wie der Financial Times oder dem Economist findet heute kein Kampf um die Hegemonie mehr statt. Der ist seit langem entschieden. Gerade deshalb kann man in diesen Blättern auch gelegentlich kritische Randbemerkungen zum Sinn und Unsinn der herrschenden Wirtschafts- und Finanzpolitik lesen. Solange man unter sich bleibt, das generelle Einverständnis mit der besten aller ökonomischen Welten nicht gestört wird, darf man sich schon erlauben, sich mit den ökonomischen Fakten zu beschäftigen (…)

Stellen wir uns vor, ein „neuer Marx“, nach dem im bürgerlichen Feuilleton mit schöner Regelmäßigkeit gerufen wird, hätte die einflussreiche Stellung des Wirtschaftsredakteurs einer großen, überregionalen Tageszeitung inne, was würde er, was könnte er tun?

Wäre er ein Mann (oder eine Frau) vom Charakter und Temperament des alten Marx, er (oder sie) würde nicht zögern, die herrschenden Dogmen und Mythen anzugreifen, die Legenden und Ammenmärchen, den Aberglauben, die frechen Lügen, die zusammen unseren heutigen Diskurs über die kapitalistische Weltwirtschaft, über die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik bestimmen, und die leider auch auf der Linken, einschließlich der sozial bewegten, globalisierungs“kritischen“ Linken, geglaubt und mit ingrimmigem Tiefsinn nachgeplappert werden. (…)

Lange würde ihm oder ihr das nicht gelingen, aber die moralische Wirkung wäre schon ungeheuer. Zumindest heute, wo der Glaube an die neoliberalen Mantras bisweilen ins Wanken gerät. Nicht bei den so genannten „Eliten“, wohl aber beim gemeinen Volk. Am Ende vielleicht sogar bei den globalisierungsgläubigen Linken.

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Kommentare

3 Kommentare zu “Die herrschenden Dogmen und Mythen, die Legenden und Ammenmärchen, den Aberglauben, die frechen Lügen”

  1. Siewurdengelesen am Oktober 13th, 2014 10:47 pm

    +1

  2. FDominicus am Oktober 14th, 2014 7:06 am

    Jedem sein eigenes Nirwana. Ich fordere nur von Ihnen bezahlen Sie Ihr Nirwana bitte selber.

  3. Frank am Oktober 14th, 2014 1:30 pm

    „Abweichenden Meinungen und kritischen Argumenten, die einen solchen Sorgestandpunkt nicht erkennen lassen, wird daher auch nicht ihre Verkehrtheit nachgewiesen, sondern ‚Nestbeschmutzung‘ vorgeworfen – ein sehr sachgerechtes Bild für das „Wir“-Bewusstsein, mit dem eine verantwortliche Öffentlichkeit ans Werk geht und das sie ihrem informierten Publikum vermittelt: Gerade wenn über die eigene Nation geurteilt wird, dann gehört von ihrem Interesse her geurteilt; Kritik darf nur im Sinne des Kritisierten erfolgen; sie muss erkennen lassen, dass der Kritiker sich mit der Sache identifiziert und für ihr besseres Gelingen eintritt.“

    So läuft das auch mit „Kritik“ am Kapitalismus, wie ihn „Linke“ betreiben, oder allgemein, wenn einem mal wieder etwas nicht passt. Der Schuldige ist schnell gefunden, die Abhilfe schon fertig im Kopf. Gar nichts wird kritisiert!

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