Wandern gegen die Bösen [Update]

„Neue Überwachungsgesetze und Kontrolltechnologien zerstören unsere Freiheit und Selbstbestimmung. Demokratie lebt durch angstfreie Meinungsäußerung und überwachungsfreie Rückzugsräume. Diese zu verteidigen liegt in der Verantwortung von uns allen!

Das kann man auch ins Deutsche übersetzen.

Fünf Mal ung bei 27 Wörtern – das sind fast 20 Prozent des Satzes. Kein Wunder, dass das gemeine Volk sich weder dafür interessiert noch die Aussage versteht. So redet niemand. Oder kann man sich ein Kneipengespräch vorstellen, beim Bier, das so beginnt: „Neue Überwachungsgesetze und Kontrolltechnologien zerstören unsere Freiheit und Selbstbestimmung“?

Wer so faselt, hat nicht nachgedacht. Außerdem erscheinen mir auch die Inhalte fragwürdig, wenn man da genauer hinsieht.

Wer überwacht wen? Gesetze fallen nicht vom Himmel, sie werden gemacht. Dahinter stehen Interessen. Ross und Reiter müssen benannt werden. Das Parlament verabschiedet Gesetze, sonst niemand. Ich wüsste auch gern, warum die Regierung das Volk überwacht? Weil sie boshaft ist? Es bestünde doch gar kein Grund, da die Deutschen doch selbst dann nicht aufbegehren, wenn ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt, obwohl die so genannte „freie Marktwirtschaft“ doch durch ständiges Wachstum(TM) alle reich und glücklich macht?

„Kontrolltechnologien“? Auch wieder falsch. Das deutsche Wort „Technik“ heißt im Englischen „technology“; es besteht kein hinreichender Grund, ein englisches Wort unübersetzt ins Deutsche zu übernehmen, zumal „Technik“ vom griechischen τεχνικός (technikós) stammt und sich von téchne (Kunst, Handwerk, Kunstfertigkeit) ableitet. Wer „Technologie“ sagt, spricht eitles und gespreiztes Furzdeutsch und schaut dem Volk nicht aus Maul.

„Unsere Freiheit“? Welche eigentlich? Der Untertan ist im Kapitalismus total frei und möchte auch so bleiben? Das ist doch Schwachsinn. Ich kann nur dringend einen Blick in Jürgen Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1972) empfehlen:

Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und Menschen schlechthin.

„Fiktiv“ deshalb, weil die Mehrheit des Publikums auf dem Markt nichts mehr zu verkaufen hat als denn die eigene Arbeitskraft, die von den Eigentümern der Produktionsmittel genommen und benötigt wird, um damit Profit zu erwirtschaften. Der Proletarier ist zwar frei und darf selbst bestimmen, wem er seine Ware Arbeitskraft verkauft; verweigert er sich aber dem Markt, muss er verhungern oder ist heute in Deutschland Hartz-IV-Empfänger. Diese Art, frei zu sein, zu bejubeln, ist zynisch.

„Demokratie lebt durch angstfreie Meinungsäußerung“. Allein schon das holperige „Meinungsäußerung“ lässt sich mir die Rückenhaare sträuben. Ich meine etwas, aber ich „außere“ nicht eine Ung. Kann ich auch eine Ung verinneren? Was ist das für eine verquaste Sprache? Ich darf etwas sagen, ohne befürchten zu müssen, dafür bestraft zu werden. Das ist aber in Deutschland nicht unbedingt so. Wir sind Zensurweltmeister. Ein Hartz-IV-Empfänger dürfte sogar meinen, dass der Sozialismus eine bemerkenswerte Idee sei, aber niemand würde das drucken, noch nicht mal als Leserbrief.

„Rückzugsräume“ – auch ein Wort, das niemand so sagt, höchstens in einem Soziologie-Seminar. Ist damit mein Schlafzimmer gemeint? Meine Truecrypt-Container? Was meinen Einwanderer aus Bangladesh oder Rumänien dazu? Oder ist das ein Zauberwort für einen bestimmten Teil der Kleinbourgeoisie und der „alternativen“ neuen Mittelschichten und nur für die, weil alle anderen nur Bahnhof verstehen? Kann man sich die Luther-Bibel oder das Kommunistische Manifest mit dem Wort „Rückzugsraum“ vorstellen?

„In der Verantwortung von uns allen“. O mein höheres Wesen – das hat garantiert ein Pfaffe formuliert. Wir verantworten was? Wir müssen [bitte selbst ausfüllen] etwas verteidigen. Und das veranworten wir – wem gegenüber? Wie meinen?

Burks‘ Rat: Wer die Leute aufhetzen will, das Gute zu tun und das Böse zu lassen (der Sinn einer Demonstration), der benutze Tuwörter!

[Update] „Ungefähr 5000 Demonstranten waren dabei, die Veranstalter sprechen von 6500. Die Mitte der Gesellschaft hatte offenbar etwas anderes vor.“ (Spiegel online)

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Kommentare

7 Kommentare zu “Wandern gegen die Bösen [Update]”

  1. Troptard am August 30th, 2014 6:23 pm

    Wer das „Wir“ und „Uns,Unser, Unsere“ benutzt, der will das „Du“ und „Ich“ nicht gelten lassen, er hebt auf die Interessen des Ganzen ab.

    Das Individuum, das Besondere des Einzelnen, seine Besonderheiten und Eigenarten sollen im Kollektiv geschliffen werden, unkenntlich gemacht .

    Individualität wird nur dann akzeptiert, wenn sie die Fähigkeit besitzt, sich in die gesellschaftlichen Normen „kreativ“ einzubringen.

    Wer das nicht schafft, für den gibt es entsprechende behandlungsbedürftige Krankheitsbilder.

  2. Dirk am August 30th, 2014 7:21 pm

    ok, Du hast jetzt die 3 Sätze mit etwa 546 Wörter auseinander genommen. Ich hätte aber auch eine Übersetzung von Dir erwartet ;)

  3. Susi am August 31st, 2014 10:16 am

    5 Mal in 27 Wörtern ? Ich komme nur auf 3 Mal.
    Zudem schade, dass die Aussage nicht eingedeutscht ist, denn den langen Salmon von dir lesen nur die Wenigsten.

  4. GrooveX am August 31st, 2014 11:41 am

    aber immerhin lässt es sich ihm die nackenhaare sträuben. ist doch schon mal was für nen sprachklugscheißer, oder? tuwörter, my ass…

  5. Twister (Bettina Hammer) am August 31st, 2014 12:42 pm

    Ist schon seit langem ein Problem – die Sprache von Demonstranten hat sich von der Sprache der „Normalen“ lange schon entfernt, der „Mensch von nebenan“ kann mit dem Geschwurbel, egal wie sachlich rictig, ebenso wenig anfangen wie mit Politik-Bingo. „Demokratie lebt dadurch, dass Menschen keine Angst haben müssen, ohne Grund überwacht zu werden. Freiräume, private Räume sind wichtiger denn je.“ Aber nö, stattdessen -ung und Co, was wirklich immer weniger Menschen anspricht. Dazu noch fehlende Schulterschlüsse mit z.B. Arbeitssuchenden und Co., eine Themengemengelage, die wenig bis gar nicht auf die einzelnen Aspekte eingeht oder gar mal detailreich sagt, worum es geht… dass ist unattraktiv.

    Selbst diejenigen, die sich gegen eine unbegründete Überwachung einsetzen, können mit den Brachialforderungen, dem Heldengeschwurbel über Snowden und Assange und Manning nichts mehr anfangen, sondern wollen mal Inhalte und weniger Personenkult.

  6. padeluun am September 2nd, 2014 11:12 am

    Ich denke, da hat Burks einen Punkt getroffen. Wir werden uns den zu Herzen nehmen.

  7. admin am September 2nd, 2014 2:41 pm

    Der Pluralis Majestatis ist auch fehl am Platz. „Der Pluralis Majestatis ist die Bezeichnung der eigenen Person im Plural als Ausdruck der Macht. Hintergrund der Wahl der Mehrzahl ist, dass Monarchen oder andere Autoritäten immer für ihre Untertanen beziehungsweise Untergebenen sprechen und gleichzeitig eine Hervorhebung der eigenen Person stattfindet.“

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