Unechter unsozialer Kapitalismus

Wie nicht anders zu erwarten war, sind jetzt auch die Piraten der Glaubensgemeinschaft Freier MarktTM beigetreten. Allein schon die suggestive und pseudoreligiöse Wortwahl lässt einem die Haare zu Berge stehen: „Das wirtschaftspolitische Grundverständnis der Piratenpartei gründet auf den ursprünglichen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.“

Ach? Was war noch mal gleich das „ursprüngliche“ Prinzip des Kapitalismus? Die Propaganda-Versprechen Ludwig Erhards, wenn man „den Markt“ nur ließe, bedeutete das Freiheit, Glück und Wohlstand für alle?

Was man zugunsten des gut gemeinten, aber weitgehend inhaltsleeren Gefasels der Piraten zum Thema Wirtschaft anführen kann ist, dass sie damit zugeben, keine Ahnung zu haben und Ökonomie als eine Art Naturereignis wie Hagel, Blitz und Donner anzusehen. Wie der hundertjährige Bauerntölpelkapitalismuskalender schon sagt: Entweder kommt die Konjunktur oder sie kommt nicht.

Das überrascht mich nicht, geben doch sogar die so genannten „Volkswirtschaftler“ zu, dass sie letztlich nicht erklären können, was gerade geschieht, warum eine Krise kommt und warum sie bleibt. Die Anhänger der Glaubensgemeinschaft Freier MarktTM gehen irgendwie davon aus, das „der Markt“ – ihr höheres Wesen – eine Art selbstheilendes System ist, das so Klitzekleinigkeiten wie den tendenziellen Fall der Profitrate, den die Marx-Kenner immer als eine der Ursachen für kapitalistische Krisenzyklen anführen, einfach wie von Zauberhand verschwinden lässt.

Die reliöse Scheinwelt, in der sich auch die oft Piraten bewegen und mit ihr fast ausnahmslos alle deutsche Medien, die das strikte Verbot, an Marx dürfe noch nicht mal gedacht, geschweige er zitiert werden, einhalten – als dürfe es keinen Gott neben dem Markt (gebenedeit sei sein Name) geben.

Der Spiegel macht es immer wieder vor: „kommt die Industrie wieder in Schwung, das könnte der Weltwirtschaft helfen. Der Dax steigt“. Wenn es „der Industrie“ gut geht, geht es auch der „Wirtschaft“ gut. Oder umegekehrt – ist ja eh egal. Nur das Dax soll steigen.

Natürlich gibt es auch Kapitalismus-affine Theoretiker, die nicht nur die Propaganda der Der-freie-Markt-den-wir-alle-lieben nachbeten, sondern die das erbärmliche intellektuelle Niveau nervt, das einem aus den Gazetten zum Thema Wirtschaft entgegenschwappt. Guntram B. Wolff meint nicht, dass man die Gesetze der Ökonomie mit dem angeblich gesunden Menschenverstand mal eben so aus dem Ärmel heraus erklären, sondern dass ein wenig Empirie und ein paar gute Bücher auch ganz hilfreich sein können – ein pädagogisch wertvolles Beispiel, wie weit man mit „Volkswirtschaft“ kommt oder eben auch nicht.

Interessant, wie die orthodoxe Volkswirtschaftslehre einerseits erkennt, was gefährlich ist, andererseit nur Voodoo und magisches Handeln zur Verfügung hat, gegen die Risiken des „freien“ Marktes vorzugehen. Ziel des „Fiskalpaktes“ sei, „dass der jährliche strukturelle Saldo des Haushalts des Gesamtstaats über einem Defizit von 0.5% des Bruttoinlandsproduktes liegt“. Man kann Einfaches auch kompliziert ausdrücken, wenn man sich eines Jargons bedient. Der Staat sollte nicht viel mehr ausgeben als er einnimmt. Wer wäre auf diesen Merksatz von allein gekommen? „Grundsätzlich sollen Fiskalregeln die Tendenz des politischen Systems zu größeren Budget-Defiziten eindämmen.“ Die Tendenz! Das „System“ scheint irgendwie zum Irrationalen zu neigen. Das kennt man von Religionen.

Die zentrale These ist diese: „Grundsätzliches Ziel ist es, konjunkturelle Schwankungen der Gesamtwirtschaft durch automatische Stabilisatoren zu reduzieren, gleichzeitig aber im Durchschnitt des Konjunkturzyklus einen ausgeglichenen Haushalt zu haben.“

Konjunkturelle Schwankungen – was war das noch mal gleich? Wenn man sich erst auf den suggestiven Begriff „Konjuktur“ eingelassen hat, kommt man nicht mehr weiter. Gefordert ist die Quadratur eines Kreises: Das Auf und Ab der Profitrate, in der an Marx orientierten Wissenschaft als tendenzieller Fall der Profitrate und als Überproduktion von Kapital bekannt, soll reduziert werden. Das geht aber nicht so einfach, weil die Ökonomie kein Reich des Wünschens und Wollens ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat (welche, wissen unsere „Volkswirtschaftler nicht – sie müssten dazu ja Marx lesen).

Die Situation erinnert einen an die katholische Kirche des Mittelalters, die die kühne Idee, die Erde sei keine Scheibe, nicht ablehnte, weil Argumente für die Erdscheibe sprachen, sondern weil die Naturwissenschaft ihre Herrschaft hätte erschüttern können. Mit dem Kapitalismus und seinen Apologeten aka Glaubensgemeinschaft Freier MarktTM ist es ähnlich: Wer es wagt, etwas anderes zu denken, wird entweder im Mainstream-Diskurs komplett ignoriert, sozial geächtet oder – im gutmeinenden Fall – als exotischer Querulant abgetan. Jedes ultrareaktionäre Arschloch wird in Talkshows eingeladen, aber nie jemand, der es wagt, den Kapitalismus als alleinseligmachenden Glauben auch nur ansatzweise in Frage zu stellen (was ja auch die Linke nicht tut).

Ich habe überlegt, ob ich aus der Piratenpartei wieder austreten soll, wenn dort eine krude Mischung aus marktverherrlicher säkularer Religion à la FDP mit Einsprengseln der orthodoxen Linken (der Staat muss härter durchgreifender paternalistische Staat muss das Schlimmste im Kapitalismus verhindern) vorherrschen sollte. Aber ich war immer und überall eine Minderheit – eben das Schicksal der Guten und rational denkenden Menschen in Deutschland.

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Kommentare

17 Kommentare zu “Unechter unsozialer Kapitalismus”

  1. Kapitalistenschwein am November 24th, 2012 7:09 pm

    Ich bewundere Sie zutiefst, Herr Schröder. Wie sie sich immer wieder die Existenz eines real-existierenden Kapitalismus herbeifantasieren – alle Achtung. Muss wohl irgendetwas religiöses sein.

  2. Irgendwer am November 24th, 2012 7:55 pm

    Schön, dass Du langsam aufwachst. Du und andere sind das Feigenblatt. Ganz genau so so wie die „Linken“ in der SPD.

    Du bist in einer Partei, die einen Beamten aus dem Kriegsministerium an der Spitze hat der sich quasi offen zur FDP bekennt, die freiwillig einen Ponader wählt, die die Öffentlichkeit vor allem über geplatzte Gummis informiert und Sex-Romane bewirbt sowie psychische Probleme quasi als Alleinstellungsmerkmal bewirbt. Herzlichen Glückwunsch zur Mitgliedschaft in der Partei der gestörten Narzissten, Egoisten und Selbstdarsteller.

    Was für ein Glück, dass Ihr euch nicht kurz vor der Wahl gegründet habt. Sonst wäret ihr vielleicht sogar noch mit 13% in den Bundestag eingezogen. Na ja. 3% reicht ja auch und auf eine zweite FDP kann nun wohl so gut wie jeder verzichten.

  3. Maxim am November 24th, 2012 10:33 pm

    Welche VWLer geben den zu das sie nichts erkläre können? Gibts dazu Querverweise?

  4. admin am November 24th, 2012 11:26 pm

    maxim; die herrschende Lehre ist zutiefst zerstritten und kann sich eigentlich auf nichts einigen:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wachstumstheorie

  5. juttipat am November 24th, 2012 11:51 pm

    @ Irgendwer

    Full ACK.

    Ich frage mich schon länger, warum B. nicht mal so langsam wieder austritt….

  6. waldbaer am November 25th, 2012 10:09 am

    Traurig mich das macht.
    Zur Dunklen Seite^TM die Piraten gewechselt sind.

    Das einem ein zinsbasiertes Papiergeldsystem alle Jubeljahre um die Ohren fliegt, sollte eigentlich allgemein bekannt sein. Ist es aber offenbar nicht.
    Das wäre ja nicht das erste mal.
    Warum?

  7. elvis am November 25th, 2012 10:19 am

    Irgendwer am November 24th, 2012 7:55 pm

    Schön, dass Du langsam aufwachst. Du und andere sind das Feigenblatt. Ganz genau so so wie die “Linken” in der SPD.

    Das sind nur Schlafstörungen die der Burks hat. Mit aufwachen hat das nichts zu tun.

    […]Ich habe überlegt, ob ich aus der Piratenpartei wieder austreten … […]

    Mach es. Du weisst doch es gibt zwei Arten von Linke(n) (obwohl Du als Maoist, bist Du noch ein Linker ? oder schon wieder): Die einen sind Betrüger und die anderen die Betrogenen. Du bist ein Betrogener.

  8. Jan-Malte am November 25th, 2012 10:19 am

    Also dass die Erde keine Scheibe ist, war im Mittelalter längst keine kühne Idee mehr. Schließlich konnte man schon im Altertum nachweisen dass sie das nicht ist.

  9. FDominicus am November 25th, 2012 11:34 am

    Lesen Sie einfach mal etwa anders als das Übliche.
    Fangen sie mit „Human Action“ an.
    vergessen bitte nicht „Weg in die Knechtschaft“.
    werfen einen Blick in einige Biographien von Erhardt und beenden Ihren Ausflug in die nicht Voodoo-VWL mit
    Man, State und Economy von Rothbard.

    Ich lade Sie dann gerne ein jeden diese Autoren auseinander zu nehmen oder aber zuzugeben, daß Sie unser System mit Demokratie oder Marktwirtschaft verwechselten.

  10. Granado am November 25th, 2012 11:36 am

    Aber bitte, keine Stammtischparolen! Denn:
    dass „außer sehr wenigen Ausnahmen seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. keine gebildete Person in der Geschichte des Westens glaubte, die Erde sei flach“, und dass die Kugelgestalt der Erde stets die dominante Lehrmeinung blieb.
    s. http://de.wikipedia.org/wiki/Flache_Erde

  11. admin am November 25th, 2012 11:53 am

    elvis; ich bin kein „Maoist“…

  12. waldbaer am November 25th, 2012 12:37 pm

    Och guckmal:
    http://www.youtube.com/watch?v=pCXB5aiqrCw
    Bin ich jetzt doch pareanoid, oder nicht, oder wie oder was oder..
    Is das eh alles scheißegal?
    Ich nehme mir jetzt eine Flasche Whisky vor. Prost Burks

  13. Wolf-Dieter am November 25th, 2012 5:44 pm

    Schn deprimierend … aber was habt ihr erwartet? Die Piraten definieren sich über Sicherung einiger Bürgerrechte, sind also im Wortsinne Liberale.

    Die Erwartung linker oder auch nur durchdachter politischer Positionen, bloß weil die neu sind?

    Als die Grünen neu waren, galten sie auch als Hoffnungsträger … niemand hätte gedacht, dass sie z.B. die Agenda mittragen würden …

  14. Mephane am November 25th, 2012 7:25 pm

    „Also dass die Erde keine Scheibe ist, war im Mittelalter längst keine kühne Idee mehr. Schließlich konnte man schon im Altertum nachweisen dass sie das nicht ist.“

    Darum geht es ja bei dem Vergleich auch. Es war bekannt, bewiesen, wurde aber von der Obrigkeit aus reinem Machtkalkül geleugnet und geächtet. So ist das heute auch mit der Kritik am Grundprinzip des Kapitalismus.

  15. Granado am November 25th, 2012 8:07 pm

    @Mephane
    „wurde aber von der Obrigkeit aus reinem Machtkalkül geleugnet und geächtet“
    Quatsch, s. (z.B. Wikipedia:) Flache Erde
    Schwätzer verzapfen sogar, bei Galilei sei es noch darum gegangen, statt: wer dreht sich.
    Die Kirche berief sich in vielem (spätestens seit Thomas v. Aquin) auf Aristoteles, Galilei kehrte in gewisser Weise zu Platon zurück.

  16. Michael am November 25th, 2012 11:51 pm

    Gallilei mit seinem Fernrohr markiert den Übergang von der Scholastik zur Empirie – und damit geistig vom Mittelalter zur Neuzeit. Da ein zentraler Gedanke der Empirie die Reproduzierbarkeit eines Forschungsergebnisses und einer Theorie grundsätzlich durch jeden ist, stellt dies die von der Kirche beanspruchte Deutungshoheit und damit auch geistiges Machtmonopol in Frage. Das ist es, was letztlich hinter dem Fall Gallilei steckt.

    Und damit sind wir auch gleich im Hier und Heute und bei obigem Artikel: Die „Wissenschaft“ Ökonomie funktioniert nämlich bis heute zu erheblichen Teilen nach scholastischen Prinzipien. Ökonomie ist zu weiten Teilen Theologie 2.0, mit allen Konsequenzen, wie Dogmatismus einschl. des Dogmas, daß Kapitalismus dauerhaft funktionieren kann. „Wissenschaft“ dient hier nicht dem Erkenntnisgewinn sondern der Rationalisierung von Dogmen. Empirische Beweise dafür gibt es keine, aber man hält trotzdem dran fest. Wenn die Dogmen grundsätzlich angezweifelt werden, wird z.T. sehr agressiv reagiert. Alles wie bei den offiziellen Religionen.

    Ich vermute ja sogar, daß darin der Grund liegt, daß die Obrigkeit den Bedeutungsverlust der Kirchen so hinnimmt: Man braucht sie nicht mehr, um die Leute dumm zu halten Das schafft man auch mit Wirtschafts“wissenschaftlern“ und dem Fernsehen.

  17. Granado am November 26th, 2012 1:20 pm

    „Gallilei mit seinem Fernrohr markiert den Übergang von der Scholastik zur Empirie“
    Mythos! Aristoteles stand für Empirie, gegen Platon! Galilei machte Gedankenexperimente, weigerte sich, einen Kometen zur Kenntnis zu nehmen, überschätzte die Möglichkeiten „seines“ Fernrohrs, wechselte die „Naturideale“ (die einer Erklärung nicht bedürfen) – s. Stephen Toulmin: Voraussicht und Verstehen.
    Ansonsten: Ja, die Experten, an die zu glauben ist, sind in großem Maße ausgewechselt.

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