Vor ein paar Tagen hätten Voyeure einen ungewöhnlichen Anblick heimlich fotografieren können. Ich saß beim Mittags-Chinesen meines Vertrauens und las die Bild-Zeitung. Die habe ich - nach meiner Erinnerung - zum ersten Mal in meinem Leben gekauft. Die Schlagzeile ließ mich vor einem Kiosk losprusten. "Deutschland sozialistischer als China" Der betreffende Artikel ist natürlich der pure Blödsinn, aber Boulevard vom Feinsten. Eine Überschrift hat nur einen Zweck: Das Publikum zum Hinsehen und Kaufen zu bewegen.
Das Bildblog mäkelt gewohnt miesepetrig, homorlos und rechthaberisch herum, der Bericht der Weltbank, auf den die Bild anspielt, enthalte gar nichts über Sozialismus und artverwandte Gesellschaftsformen. Die Schlagzeile sei "jedenfalls ziemlich irreführend". Bruhahaha. Wer hätte das gedacht? Ich erinnere mich an eine andere irreführende Überschrift, bei der ich in der Kreuzberger Markthalle fast vor Lachen meine Wurst fallen ließ: "Thomas Gottschalk beleidigt den deutschen Schäferhund". Es hätte nur noch gefehlt, dass das Bildblog mit erhobenem Zeigefinger behauptete: "Das stimmt gar nicht, was die Bild sagt - Deutschland ist nicht so sozialistisch wie China."
By the way: Wer behauptet eigentlich, China sei sozialistisch? Die Volksrepublik ist so sozialistisch wie der DJV eine klassenkämperische Gewerkschaft - das Logo pappt zwar irgendwo auf der Traditionsfahne, ist aber nur für die Doofen rnst gemeint. In China hat das Volk so wenig zu sagen wie der DJV in der Lage wäre zu streiken - eben gar nicht.
Ich habe den Artikel gar nicht gelesen, sondern das gewohnt hervorragende chinesische Buffet abgeräumt und auf die Dame meines Herzens gewartet, die kurz darauf angeradelt kam.
Und was war noch mal gleich der Kommunismus? Wikipedia weiß auch das: "Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."
Ja, wenn wir sozialistischer sind als China, dann kann ich jetzt bestimmt machen, was ich will, zum Beispiel bloggen. Die Chinesen hingegen müssen den Sack Reis wieder aufstellen, der gerade umgefallen ist. |