Abstrahierte ökonomische Universale, revisited
The image depicts humanity’s historical progression: from communal hunter-gatherers in the Primitive Communism era, to chained laborers under monumental construction in Slavery, to peasants working under armed nobility in Feudalism, and finally to industrial workers and striking laborers in a cityscape dominated by factories and skyscrapers in Capitalism. –ar 3:2
Fortsetzung von Mongolen, Ming und Moguln (Die Kinder des Prometheus Teil III).
Wir können jetzt eine vorläufige Arbeitshypothese aufstellen: Die marxistisch geprägte Geschichtswissenschaft irrte, wenn sie die Abfolge der Gesellschaftsformationen, wie sie in Europa zu beobachten ist, auf den Rest der Welt übertragen wollte. Es gab weder überall eine Sklavenhaltergesellschaft, wie in der Antike, vor allem im römischen Reich, noch ist sie eine notwendige Entwicklungsstufe zum Feudalismus.
Das Problem wurde schon früh erkannt, aber weniger von Wissenschaftlern der sogenannten „sozialistischen“ Ländern, sondern eher von den – nicht sehr zahlreichen – Historikern im „Westen“, die ihren Marx gelesen hatten. Ich erwähnte vor fünf Jahren schon Wilhelm Backhaus: „Marx, Engels und die Sklaverei. Zur ökonomischen Problematik der Unfreiheit„, der immer noch das Standardwerk ist, wenn es darum geht, die Diskussion seit den 70-er Jahren zusammenzufassen.
Backhaus schreibt: „Kurioserweise wurden bis vor wenigen Jahren [das Buch erschien 1974] auch die altorientalischen Gesellschaften als Skalvenhalterordnungen bezeichnet, obwohl dort die „Zahl der Sklaven verhältnismäßig gering“ war und „die Sklaverei noch nicht die gesamte Produktion erfaßt“ hatte. (1) Man habe stattdessen wieder „auf die Marxsche Kategorie der asiatischen Produktionsweise [APW] zurückgegriffen, die ja von Anfang an einen einfachen Weg geboten hätte, alle sonst nicht eindeutig klassifizierbaren, despotisch geführten Gesellschaften systemimmanent zusammenzufassen. Aber gerade der Fall China scheint jetzt Anlaß zu geben, aus leicht erahnbaren Motiven (2) die kaum vollständig wiedererweckte Theorie der asiatischen Produktionsweise zum zweiten Mal zu „liquidieren“.“
Übersetzt heißt das: Wenn statt der Sklavenhaltergesellschaft die „asiatischen Produktionsweise“ die Vorstufe zum Feudalismus gewesen wäre, vor allem in China, bedeutete das damals für die Diskussion unter marxistischen Historikern, dass es einen chinesischen Sonderweg zum Kapitalismus und zum „Sozialismus“ gegeben hätte. Das durfte aber nicht sein.
Dagegen nahmen Marx und Engels die Formen der Produktion als Kriterien zur Strukturierung des historischen Prozesses, der zur Bildung der kapitalistischen oder bürgerlichen Produktionsform führte. Nirgends aber stellten sie ein festes Periodisierungsschema auf, gar mit dem Anspruch auf zeitlich universale und räumlich lückenlose Geltung. Vielmehr beschränkten sie sich bewußt auf den europäisch-mediterranen Bereich, mit nur gelegentlichem Seitenblick auf Asien. (Imanuel Geiss: Zwischen Marx und Stalin Kritische Anmerkungen zur marxistischen Periodisierung der Weltgeschichte, in: APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte), 41/1974) |

Man muss sich also verabschieden von der Idee, man könne weltweit die Geschichte nach einem festen Schema periodisieren. Gegen diese These gibt es aber ein gewichtiges Argument: Die ökonomische Entwicklung verlief bisher nie „rückwärts“. Feudale Gesellschaften im weiteren Sinn münden immer und ausschließlich im Kapitalismus, nie aber in Sklavenhaltergesellschaften oder in einer Art vorfeudaler Despotie.
Man könnte auch entgegen, der „Sozialismus“ in Osteuropa habe sich bekanntlich wieder in Kapitalismus verwandelt, außer in China – also gebe es doch ein „Zurück“ im Schema. Das halte ich aber nicht für überzeugend, da man durchaus meinen kann, der sowjetische „Sozialismus“ und der seiner Vasallenstaaten sein zwar ein „gültiger“ Versuch, wie die Herrschaft Ciompi in Italien ein „gültiger“ Versuche gewesen sei, den Kapitalismus einzuführen oder die Pariser Kommune für den Sozialismus, nur eben völlig verfrüht, weil die Produktivkräfte noch nicht weit genug entwickelt gewesen seien. (Ich kann mich daran erinnern, ein Interview mit Jack Ma gelesen zu haben, der sinngemäß sagte, Sozialismus könne man erst dann planen (zu etablieren), wenn alle Daten über die Produktion und den Konsum vorlägen, was erst jetzt zu ersten Mal der Fall sei – und nur in China.)
Wenn das aber stimmt, wie steht es dann mit dem berühmten Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“, der Anlass für unzähligen Revolutionstheorien war?
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zu einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, in: MEW 4, S. 462) |
CahtGPT: Eine metaphorische Bildbeschreibung, die die marxistische Periodisierung der Weltgeschichte (Urgesellschaft → Sklavenhaltergesellschaft → Feudalismus → Kapitalismus) veranschaulicht, könnte wie folgt aussehen…
Dahinter versteckt sich die noch wichtigere Frage: Wo wird das alles enden – oder auch nicht? Und kann man Prognosen treffen? Bevor wir das angehen und bevor wir das Needham-Rätsel lösen, sollten wir die „abstrahierte ökonomische Universale“ diskutieren. Was bedeutet das genau?
Und wieder mal: It’s the Produktionsverhältnisse, stupid. Der idealtypische Arbeiter im Kapitalismus hat nichts weiter mehr als seine Arbeitskraft, die er verkauft, auch wenn er mehrere unser Oma ihr klein Häuschen besitzt. Das Gegenteil wäre eine – auch idealtypische – „Urgesellschaft“, in der alle Produktionsmittel dem Kollektiv gehören. (Ein Warlord oder Stammesführer eignet sich nicht die Produktionsmittel an wie etwa Jarl Haraldson in „Vikings“, sondern schöpft nur den Überfluss ab – wie der germanischen Stämme bei ihren Raubzügen ins römische Reich. Reichtum allein schafft keine Klassengesellschaft.
Ein idealtypischer Bauer betreibt Subsistenzwirtschaft, muss niemandem etwas abgeben und besitzt alle Produktionsmittel, die er braucht.
Man kann alle genannten Formationen (in Klassengesellschaften) hinreichend beschreiben, wenn man sich die Position des jeweiligen Arbeiters, also desjenigen, der Werte schafft, zu den Produktionsmitteln ansieht. Sklaven besitzen nichts, für ihren Unterhalt und ihre Nahrung muss aber der Besitzer aufkommen. Bauern im Feudalismus besitzen ihre Produktionsmittel, müssen diese aber auch für den Feudalherrn einsetzen. Dieser besaß aber nicht unbedingt ihr Land: bis zur frühen Neuzeit gab es auch vielfältige Formen gemeinsamen bäuerlichen Grundbesitzes wie etwa die Allmende. Für andere Arbeiten (Mühlen, Wassermühlen, Handwerk) hat sich die „Grundherrschaft“ etabliert, die nicht nur Werte abschöpft, sondern auch das Gewaltmonopol durchsetzt und „gemeinschaftliche“ Arbeit organisiert. Im Unterschied etwa zur so genannten „asiatischen Produktionsweise“ herrscht der Feudalherr über die Bauern, nicht etwa ein „gemeinsamer“ Despot oder König, zu größeren kollektiven Arbeiten (etwa Pyramidenbau) kommt es nicht.
Eine sich auflösende „Urgesellschaft“ entwickelt sich also im Weltmaßstab zu feudalen Formen, idealtypisch in Japan. Die antike Sklavenhaltergesellschaft war ein „Sonderweg“ und eine Ausnahme, die aber durch ihre Spätformen wie das Kolonat den Weg zum Feudalismus in Nordwesteuropa beschleunigte.
Der Feudalismus bringt immer und überall den Kapitalismus hervor – aber nicht überall gleich schnell. Wer das Rennen zum Kapitalismus gewinnt, kann die ganze Welt erobern und seine Wirtschaftsform allen anderen aufzwingen, wie teilweise im Britischen Weltreich geschehen. Es heißt aber nicht, dass diese Ökonomie dort auch automatisch etwas schafft, was über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinaus weist. Wir müssen uns also China zuwenden…
To be continued.
Dieser Bäuerin wurden alle Produktionsmittel weggenommen, und sie muss jetzt in die Stadt ziehen und dort ihre Arbeitskraft einem Kapitalisten verkaufen, falls sie anständig bleiben will.
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(1) Backhaus verweist auf W.I. Awdijew: Geschichte des alten Orients, dt. Berlin 1953, A.W. Mischulin: Geschichte des Altertums, Dt. Berlin/Leipzig 1948, Wolfgang Helck: Die soziale Schichtung des ägyptischen Volkes im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr., JESHO (Journal of the Economic and Social History of the Orient) 1 (1959), 1-36, Abd El-Mohsen Bakir: Slavery in Pharaonic Egypt, Kairo 1952. Die erwähnten sowjetischen Historiker, deren Büchern ins Deutsche übersetzt wurden, waren an den Stalinschen Unsinn zum Thema gebunden und konnten nicht frei forschen.
(2) Karl August Wittfogel hatte den Begriff der „orientalischen Despotie“ (Oriental Despotism, 1957) geprägt, galt aber, obwohl er sich auf Marx berief, als „bürgerlicher“ Wissenschaftler und durfte deshalb im Ostblock nicht recht haben.
Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II 15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)
– Mongolen, Ming und Moguln (Die Kinder des Prometheus Teil III) (09.03.2025)
– Abstrahierte ökonomische Universale, revisited (08.05.2025)
Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) (05.11.2020)
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) (27.12.2020)