AUS ALLER WELT | | Aktuell | 19. März 2004 |
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ISRAEL ZIEHT SICH ZURÜCK Scharons blutige LogikVon Burkhard Schröder |
Dieser Artikel basiert auf dem Kommentar Bernard Wassersteins im "Independent" vom 18.04.2004
Israel hat am 17. April den Hamas-Führer Abdel Aziz Rantisi umgebracht. Hinter dieser Aktion steht ein ausgeklügelter Plan, den Ministerpräsident Ariel Scharon verfolgt: Israel will sich aus dem Schlamassel des permanenten Kleinkriegs zurückziehen. Der Plan sieht zwei Dinge vor: das militärische Vorgehen gegen die palästinensischen Top-Terroristen soll verhindern, dass Hamas und Islamic Jihad erklären können, ihre Aktionen hätten Israel zum Rückzug bewogen. Zum anderen ist Scharon entschlossen, die israelische Armee aus Gaza und dem von Arabern dicht besiedelten Cis-Jordanien (der so genannten Westbank) zurückzuziehen. Mit dem gezielten Töten von Rantisi und Yassin will Scharon beweisen, insbesondere seinen Wählern im eigenen Land, dass Israel allein entscheidet, was wann geschieht und dass Druck von aussen nichts bedeutet oder beeinflussen kann.
Der Abzug Israels aus dem 1967 im Sechs-Tage-Krieg besetzen Gebieten ist nun in Sicht. Scharons Plan, Gaza und Cis-Jordanien aufzugeben, hat durch Bushs Unterstützung höhere Weihen bekommen. Der Prozess des israelischen Rückzugs aus arabisch bewohnten Gebieten ist damit definitiv. Er begann schon mit den diplomatischen Bemühungen Henry Kissingers, der - nach dem Yom Kippur-Krieg im Oktober 1973 - zwischen Jerusalem, Kario und Damaskus zu vermitteln suchte. Israel begann sich damals, vom Sinai zurückzuziehen. Endgültig geschah das 1985. die israelischen Truppen verließen 2000 auch den Süd-Libanon.
Die Friedensprozess, der Anfang der neunziger Jahre begann, geriet ins Stocken, als Israel 2001 die Gebiete okkupierte, die von den palästinensischen Behörden kontrolliert wurden. Jetzt plant Israel, sich endgültig zurückzuziehen, nicht nur die Armee, sondern auch alle Siedlungen in Gaza und einige in Cis-Jordanien aufzugeben.
Scharon kündigte an, dass Israel sechs Siedlungen in Cis-Jordanien mit 92000 Bewohnern behalten wolle. Darüber wurde viele gestritten. Viel wichtiger ist das, was diese Ankündigung wirklich aussagt: die meisten der israelischen "Stützpunkte" - dort wohnen rund 128000 Siedler - werden verschwinden. Die Siedler werden zurück nach Israel gebracht werden, ob sie wollen oder nicht. Sogar die, die Scharon als Schandfleck der jüdischen Geschichte ansehen, müssen zugeben, dass das eine dramatische Wende bedeuten würden. Warum und wie geschieht das?
In den letzten drei Jahren musste das Mitte-Rechts-Lager in Israel realistisch denken lernen. Das schmerzte und dauerte lange. Dieser Umdenkprozess ähnelt dem, den die Führer der südafrikanischen National Party in den letzten Jahren der Apartheid vollziehen mussten. In den Augen der ultrarechten israelischen Hardliner ist im letzten Jahrzehnt nichts geschehen, das sich positiv für Israel ausgewirkt hätte, weder Verhandlungen noch Repression haben etwas genützt. Desorientiert und frustiert begannen Scharon, sein Vize Ehud Olmert und andere, die Realität zu verinnerlichen: Israel, das begriffen sie endlich, sieht sich in einem ununterbrochenen und aussichtslosen demografischen Kampf, die israelische Mehrheit zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer zu sichern. Die Siedlungsprojekte der letzten Generation sind jedoch in ihrem zentralen Anliegen gescheitert. Israel kann nicht länger hoffen, seine Position in den besetzten Gebieten zu halten, ohne einen Blutzoll zu zahlen, den die meisten der Bürger nicht akzeptieren wollen. Diese Einsicht hat sich von der politischen Klasse in Israel bis in weite Schichten der Bevölkerung durchgesetzt. Die Ultrarechte redet jetzt mit verächtlichem Trotz davon, dass die Palästinenser ihrem eigenen Schicksal überlassen solle und dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben üebrnehmen sollten.
Werden die Siedler ohne Kampf aufgeben? Scharons Strategie sieht vor, diese gegeneinander auszuspielen. Die Siedlungen werden Stück für Stück aufgegeben und abgewickelt und die Siedler nach Israel verfrachtet. Zuerst sind die 7000 Israelis in Gaza an der Reihe. Die leben im permanenten Kriegszustand, umgeben von einer Million Palästinensern. Dutzende von israelischen Soldaten mussten ihr Leben geben, um diese winzigen Enklaven gegen ihre Nachbarn zu verteidigen. Die meisten Israelis werden Gaza ohne Bedauern aufgeben.
Dann folgen die kleineren, isolierten Orte in Cis-Jordanien: sie gelten weithin als nicht zu verteidigen. Sogar die hartnäckigsten und militantesten Bewohner, die jeden bedrohen, der sie dort vertreiben will, werden wohl kaum auf die israelische Armee schießen. Der erste Schuss würde sie um den Rest von Sympathie bringen, die sie in der Bevölkerung noch haben.
Zuerst die Salami-Taktik, dann das Zuckerbrot. Eine Meinungsumfrage unter den Siedlern im letzten Jahr zeigte, dass die meisten eine Entschädigung akzeptieren würden, wenn sie nach Israel zurückkehren müssten. Es gibt einen Präzedenzfall: im Frühjahr 1982, als Israel sich aus dem nördlichen Sinai zurückzog, prahlten einige der 2000 israelischen Bewohner der Stadt Yamit, sie würden sich jedem Versuch widersetzen, sie zu repatriieren. Israelische Soldaten besprühten sie mit "Neutralisierungs-Schaum". Kein Hund bellte. Die Siedler nahmen das Geld und liefen alle davon. Einige von ihnen ließen sich in Cis-Jordanien nieder - in der Hoffnung, die Sache würde sich wiederholen. Damals hieß der Verteidigungsminister, die die Operation kontrolierte, Ariel Scharon.
Blufft Scharon? Seine Gegner beklagen sich, dass er einen Ausweg aus dem Gaza-Dilemma suche und dass er von der US-Regierung als Gegenleistung für den Abzug die permanente Präsenz Israels in Cis-Jordanien habe garantiert bekommen. Wenn man sich das Abkommen zwischen Scharon und Bush genauer ansient (das Abkommen gilt auch für einen eventuellen Nachfolger Scharons), werden die Details klar: die zukünftige Grenze zwischen Israel und einem palästinensischen Staat sind nicht klar festgelegt. Darüber kann verhandelt werden. Die Straßen durch die besetzten Gebiete werden eher ausgebaut statt aufgegeben. Eines ist jedoch klar: der Traum der israelischen Ultrarechten, Cis-Jordanien komplett mit Juden zu besiedeln, muss endgültig ad acta gelegt werden.
Scharon spricht von sechs großen israelischen Siedlungen, die bleiben würden. Vielleicht ist er selbst davon überzeugt. Vielleicht sind das aber nur taktische Verlautbarungen, um sich der Likud-Wähler zu versichern, die bald in einem Referendum über seinen Plan abstimmen müssen.
Die Siedlungen sind der letzte Rest von "Groß-Israel", für dessen verwirklichung Scharon einst angetreten war. Die sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Zwei liegen in der unmittelbaren Umgebung Jerusalems und werden nur zusammen mit der Zukunft der Stadt diskutiert werden. Ein dritter Block - mit hoher Bevölkerung - grenz an die Waffenstillstandslinie von 1949 und könnte zwischen einem zukünftigen Staat Palästina und Israel für andere Gebiete ausgetauscht werden. Zwei andere, Ariel und Gush Etzion, beide fern vom israelischen Kernland inmitten eines von Palästinensern bewohnten Gebietes, müssten eventuell aufgegeben werden - eine bittere Pille für viele ältere Israelis, die sich an ein Massaker an Juden während des Unabhängigkeitskrieges erinnern werden, das damals dort stattgefunden hat.
Der sechste und problematischste Siedlungsblock liegt in und um Hebron. Hier, in unmittelbarer Tuchfühlung mit einer starken und feindlichen palästinsischen Bevölkerung, konzentrieren sich die ultranationalistischen Fanatiker, darunter die meisten Anführer der israelischen Siedlerbewegung. Scharon hat sich entschieden, diese nicht direkt anzugehen. Besser ist es zu warten und ihre Unterstützung zu unterminieren. Vermutlich will Scharon diesen Giftbecher seinem Nachfolger überlassen, entweder Olmert oder den zurückgezogenen, aber immer noch ambitionierten Binyamin Netanyahu. Der, falls er in die Politik zurückkehrte, war derjenige Premierminister, der das Hebroner Abkommen von 1997 unterschrieben hat: von einem Rückzug der Siedler ist dort nicht die Rede, dieser ist aber auch nicht ausgeschlossen. Das Resultat der Übereinkunft war für beide Seiten, Israelis und Palästinenser, katastrophal. Früher oder später wird die Lektion gelernt werden müssen, dass, für einen hohen Preis, der Abzug sowohl aus Gaza als auch aus Hebron wird stattfinden müssen.
Bernard Wasserstein ist der Autor des Buches "Israelis and Palestinians: Why Do They Fight? Can They Stop?", 2003
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