Manche Zusammenrottungen sind typisch deutsch. Deutsch ist: wenn Leute zusammenkommen, die gebildet sind oder sich so vorkommen, die soziologisch dem Milieu der neuen Mittelschichten zuzuordnen sind, dann gibt es immer einen volksgemeinschaftlichen Konsens: niemand beschwert sich über Zensur. Melden, Durchführen, Verbieten - der Deutsche an sich kann einfach nicht über seinen obrigkeitsstaatlichen Schatten springen, genausowenig wie der deutsche Punk auf seinen deutschen Hund verzichtet. Deutsch bleibt eben deutsch, da helfen keine Pillen.
Der Inbegriff des meldenden Deutschen ist der Wart, vorzugsweise der Block- Internet- oder Jugendschutzwart. Gestern war ich bei den neuen Mittelschichten alias der Heinrich-Böll-Stiftung. Dort stellte man ein Buch vor: Die Google-Gesellschaft. Gut, interessant, wichtig, intelligent: kaufen! Oder ausleihen und lesen.
Weniger angenehm waren die üblichen Verdächtigen, die den Quark nicht stark, sondern breit traten. Der geschätzte Kollege Stefan Krempl (geschätzt, außer er betreibt unseriöse Hofberichterstattung für Andy MM) hat dazu im Heise-Newsticker das Nötige geschrieben. Als Milieu-Studie für die deutsche Leitkultur war das Event hervorragend geeignet: natürlich wurde kein Bürgerrechtler auf das Podium gebeten (Garstka war leider nicht gekommen) , sondern fast ausschließlich Befürworter der Zensur. Man befürwartet auch dann Zensur, wenn man nichts dagegen unternimmt.
Stefan Keuchel Pressesprecher von Google Deutschland, wagte es zu behaupten, Google sei "politisch neutral", obwohl jeder Internet-affine Mensch weiß, dass Google vor der chinesischen Regierung eingeknickt ist und zensiert, was dort der Obrigkeit nicht in den Kram passt. Und Google zensiert auch in Deutschland, nicht nur Scientology-Kritiker, sondern auch Links zu Programmen, politische Meinungen und viele andere Websites. Für eine Diktatur wäre Google ein idealer Partner.
Ich erkühnte mich während der Diskussion etwas pointiert einzuwenden, dass der Unterschied zwischen der DDR-Zensur und Google nur der sei, dass man in der DDR einigermaßen wußte, was nicht verbreitet werden durfte. Google hingegen verschweigt seine Zensur. Wenn es das Internet schon in den dreißiger Jahren gegeben hätte, dann hätte ein Google-Pressesprecher vermutlich - wie heute - verkündet: "Wir halten uns an die nationalen Gesetze." Verlinkt nicht zu Juden oder so.
Das hat mich nicht wirklich aufgeregt. Viel mehr ärgerte ich mich über das Publikum, das still da saß und aus unverständlichen Gründen, die jedem aufrechten Demokraten die Haare zu Berge stehen lassen, darauf verzichtete, den Propagandisten der Zensur verbal mit Eiern und Tomaten zu bewerfen. Man kann ruhig zensieren, aber man sollte es als Firma zugeben und sich über die poltiischen Konsequenzen klar sein. Als Zensor politische Neutralität für sich zu beanspruchen ist einfach eine Frechheit.
Aber es waren eben Deutsche. Die regen sich über Zensur nicht auf. Auch nicht über den unsäglichen, aber ebenso typisch deutschen Begriff "freiwillige Selbstkontrolle". Dahinter verbergen sich die Jugendschutzwarte, die Tanten und Onkels mit den verkniffenen Mündern, die Penisse nur in einem Winkel unter 45 Grad erlauben wollen und die den Anblick einer Vagina für "entwicklungsschädigend" halten, obwohl es für diese abwegige Behauptung keine empirisch, geschweige denn wissenschaftliche Basis gibt. Da waren wir in den sechziger Jahren schon einmal weiter. Auch denen wurde nicht widersprochen.
Und nun zu etwas fast ganz Anderem. Zitat aus dem oben genannten Buch: "Natürlich ist nicht zu leugnen, dass eine wachsende Blogosphäre auch mehr Aufmerksamkeit (...) auf sich zieht und sich durch die hohe Vernetzung zunehmend auf Besucherströme auswirkt - also eine gewissen Verantwortung besitzt; Blogs können auf diesem Wege stark meinungsbildend wirken und zeichnen durch Gewichtung, Verbreitung und Beurteilung von Informationen ebenso wie andere Informationsträger quasi "im Vorbeigehen" Bilder von der Welt. Der Großteil der bloggenden Journalisten scheint es auch zu genießen, mal gehässig zu sein oder Worte wie "Ich" oder "weiß nicht" zu verwenden. (...) Eine ganz neue Rolle nehmen Watchblogs ein, deren Macher etablierten Medien fortwährend auf die Finger sehen, um bei Gelegenheit den Rohrstock zu zücken."
Au ja! Gehässig sein und den Rohrstock zücken. Zum Beispiel die Kerzen der Lichterkettenträger auspusten und auf andere gut Meinende, auf die Nicht-ins-Internet-Verlinker sowie auf die Jugendschutzwarte eindreschen. Hiermit erkläre ich spiggel.de zum äußerst gehässigten Watchblog.
Und damit zahlreiche nörgelde Kollegen (Hallo, Albrecht!), die spiggel.de das Bloggende an sich absprechen, weil die geneigte Leserin und der wohlwollende Leser nicht direkt ihren Senf dazugeben können, sei dieser Missstand abgestellt. Ab sofort können sie es. Siehe rechts oben unter "Blogging". Und das mit dem Trackback kriegen wir auch noch hin.
Auf dem Podium von links nach rechts: irgendjemand von T-Online, dessen Namen ich vergessen habe, Sabine Frank, Stefan Keuchel, Jochen Wegner (Moderator), Katja Husen, Wolfgang Sander-Beuermann. -----------------------------------------------------------------------------------------------------
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