Heute ist Sonntag. Zeit für ein kulturpessimistisches Traktat. Ergo: die Berichte in den Medien werden immer schwachsinniger; Journalisten immer dümmer, Recherche ist für viele ein Fremdwort, Kritik unbekannt. Anlass: immer öfter käuen immer mehr Medien geschickte Werbung als Nachricht wieder. Konkret: angeblich gibt es 380.000 SMS-Süchtige in Deutschland. Und das ist selbstredend grober Unfug. Der wird verzapft von Dr. Andreas Herter, "der Doc, dem die Hörer Vertrauen" auf Radio ffn.
Wer sinnfreie Nachrichten mit technischem Hintergrund trefflich kommentiert haben will, liest im Forum des Heise Newstickers nach. Zum Beispiel: "Alle die hier regelmässig posten, würde ich zumindest für Forums-Posting-Süchtig halten (mich eingeschlossen, klar). Ab wieviel Emails pro Tag, bei Vorhandensein einer ja einen als "introvertiert" erscheinen lassenden Homepage, mit der Möglichkeit, dass einem die Leute also schreiben und man auch antwortet, gilt man als E-Mail süchtig oder gefährdet, und ab wieviel Emails wenn man keine Homepage hat? Oder: "... und ich bin einer davon. Ich kann nichts dagegen tun, ich empfange zwanghaft SMS. Alle Bemühungen und Therapieversuche wurden erfolglos abgebrochen. Meine Existens (sic) ist durch diese Sucht zerstört worden."
Der "Osnabrücker Zeitung" sei es gedankt, dem höheren Blödsinn, den der Radio-Psychologe von sich gibt, im Originalton Raum überlassen zu haben, dass die geneigten Surferinnen und wohlwollenden Surfer sich selbst ein Bild machen können. Alle anderen Medien verkürzen das Grobe ins Gröbste und verzichten, wie gewohnt, auf sämtliche Quellen und Links.
Wie verläuft die Krankengeschichte? Zuerst geht der Süchtige zu einem seiner seiner Dealer. Dort bekommt er die Geräte, mit denen er Drogen konsumieren kann. Die Drogen selbst verschicken andere Dealer, die die Droge zum Teil mit diversen digitalen Substanzen strecken oder dem Kranken noch härtere Suchtmittel andrehen wollen.
Doc Herter laut OZ dazu: "Typisch für SMS-Süchtige ist, dass sie anfangen, sich in ihrem Verhalten zu verändern: Sie werden zurückgezogener und stiller, ein Schatten ihrer selbst. Dann bauen sie plötzlich eine Art Erregungspotenzial auf." Ein Ehepaar aus seiner Praxis habe Rücken an Rücken gesessen und sich schweigend zugeSMSt, weil es sich nichts mehr zu sahen hatte. Wer's glaubt.
Die Therapie ist ganz einfach: "Wie sieht Ihre Behandlungsstrategie für SMS-Süchtige aus? Herter: Wir nehmen unseren Patienten erst einmal das Handy weg." Das funktioniert eben wie bei Heroin auch. "Ja, denn die Psyche des Menschen funktioniert immer auf die gleiche Art, sonst wären Lehrbücher unsinnig. Man muss sein Fachgebiet nur gelernt haben. [...] Ich halte mich schon für sachlich kompetent." Ich nicht. Ich halte den Doktor für einen Dampfplauderer, dem ahnungslose und unkritische Journalisten auf den Leim gegangen sind, weil sie nicht in der Lage sind, ihr Gehirn einzuschalten und die Fakten zu prüfen. Wer so einen Quatsch abdruckt, gehört unter ärztliche bzw. medienkritische Beobachtung.
Wer sich mit dem Thema "Sucht" beschäftigt hat weiß, dass die gängigen Definitionen nicht fundiert sind. Wer über "Drogen" redet, nimmt an einem moraltheologischen Metadiskurs der Gesellschaft teil. Die geforderte "Selbstkonstrolle", über die die "Süchtigen" angeblich nicht verfügen, ist Teil der protestantischen Ethik und nur vor dieser Folie verständlich. Der Anti-Drogen-Diskurs predigt innerweltliche Askese und postuliert Tugenden, die in der kapitalistischen Arbeitswelt nützlich sind.
Zu diesem Diskurs gehört unabdingbar das kulturpessimistische Warnen und Mahnen in Permanenz. Wir sind alle und immer öfter gefährdet, das Böse zu tun und das Gute zu lassen. Und immer öfter tauchen immer mehr Substanzen auf, die das Böse verkörpern. Die Meldung von den angeblichen SMS-Süchtigen ist kulturhistorisch vergleichbar mit der mittelalterlichen Hysterie um immer mehr Teufel und Dämonen, die überall lauern. Drogenpropylaxe und Therapie sind nichts anderes als ein moderner Exorzismus, der aber bei Zynikern wie mir nicht den erhofften kathartischen Effekt hat.
Ergo: vade retro, SMS! Apage SatanaSMS! Apage, AhaSMSverus!
Abbildung Mitte zeigt den ersten SMS-Toten, gefunden in Hamm.
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