Mitsubishi Motors

Stern Magazin

STERN Online

Zur Homepage

Titel
Deutschland
Ausland
Wirtschaft
Wissenschaft
Kultur
Sport
Auto
Rubriken

Stern Archiv

Fotogalerie

TV-Tip

Horoskop

Küche

Abo


Anzeige
Die Deutsche Ausgabe von Nerve

 
  S  T  E  R  N  -  A  R  C  H  I  V

Dokument 1 von 1 I
Quelle: Stern I Ausgabe: 46 I 05-11-1998 I Seite: 248 I Autor/in: *FRAUKE HUNFELD*

 
Letzte Peilung Gropiusstadt
 
COMPUTER-SZENE / Mord oder Selbstmord? Nach dem Tod des Berliners Boris F. wird spekuliert, ob der Hacker womöglich mächtigen Gegenspielern im Weg stand
 
Es war ein warmer Tag, dieser 17. Oktober. Deshalb, so erinnert sich die Mutter, war ihr Sohn schon den ganzen Tag fröhlich gewesen. Zum Mittagessen hatte er sich Kräuterspaghetti gewünscht, sein Lieblingsgericht. Gegen 14 Uhr wollte er raus, die letzten Sonnenstrahlen genießen. Er sagte: 'Tschüs, ich geh' dann jetzt.' Und bot noch an, einen Brief der Mutter mitzunehmen.

Er wollte gerade los, da klingelte es an der Tür. Peter, ein Freund, wollte sich Geräte für seine Diplomarbeit ausleihen. Er begleitete Boris noch ein Stück, dann trennten sich ihre Wege.

Als Boris nachts nicht nach Hause gekommen war, gingen seine Eltern am nächsten Tag zur Polizei. Sie ahnten, daß ihrem Sohn etwas zugestoßen war. Sie fürchteten eine Entführung. Sie bettelten, daß man nach ihm sucht. Sie liefen von Polizeistation zu Polizeistation. Man weigerte sich zwei Tage lang, überhaupt seinen Namen aufzunehmen.

Fünf Tage später fanden Spaziergänger einen jungen Mann in einem Park nahe der U-Bahn-Station Britz Süd im Berliner Stadtteil Neukölln; erhängt an seinem eigenen Gürtel, verlängert mit einem Stück Gartendraht, die Füße berührten den Boden. Er hatte Ausweispapiere bei sich, Geld, sein Schlüsselbund und ein Handy, und er trug eine schwarze Jeans und eine Windjacke. Es war der seit Tagen vermißte Informatiker Boris F.

Boris F. war nicht irgendein Informatiker. Der schmale junge Mann galt nicht nur in der Hacker-Szene, sondern auch bei Großkonzernen als einer der besten weltweit. Sein Spezialgebiet war die Verschlüsselung und Entschlüsselung von Mikrochips - den unscheinbaren glänzenden Bauteilen, die auf Plastikkarten aufgebracht sind: zum Geldabheben, zum Telefonieren, zum Öffnen von Büros oder Behörden.

Sein Lieblingsthema war Sicherheit. Seine These: Es gibt sie nicht. Boris glaubte, daß jeder, der über genügend Fachkenntnisse verfügt, überall eindringen kann: in die elektronischen Netzwerke von Versicherungen, Banken, Atomkraftwerken, von Rüstungsfirmen und dem Verfassungsschutz. Und Boris F. arbeitete in seinem kleinen Zimmer daran, dies der Welt zu beweisen.

Auch für die Polizei war der Junge kein Unbekannter. 1995 wies er als erster die Fälschbarkeit von Telefonkarten nach. Er bastelte eine Karte, die sich von selbst wieder auflud und mit der man unbegrenzt kostenlos telefonieren konnte - und kassierte dafür eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten. Auch der Nachweis von Sicherheitslücken im sogenannten GSM-Standard, der für Mobilfunknetze in 120 Ländern gilt, ging auf das Konto des Tüftlers. Mit Freunden vom Berliner 'Chaos Computer Club' bewies er, daß man auf Kosten ahnungsloser Kunden telefonieren kann.

'Schon als kleiner Junge baute Boris alles auseinander, was er in die Finger bekam', erzählt sein Vater. 'Radiogeräte, Fernseher, Uhren, Rasenmäher, nichts war vor ihm sicher.'

Boris war nach der zehnten Klasse von der Schule abgegangen, obwohl alle ihm rieten, Abitur zu machen. Die Schule jedoch langweilte ihn, er fühlte sich unterfordert und mißverstanden, und er wollte 'fummeln'. Er machte eine Lehre als Kommunikationstechniker an der Technischen Universität, die Freunde, die er hier gewann, blieben bis zu seinem Tod seine engsten.

Der Bastler machte nach der Lehre dann doch noch Abitur und studierte Informatik. 'Er war offen und hilfsbereit', sagt sein Professor von der Technischen Fachhochschule Wedding, 'aber dennoch ein gelegentlich schwieriger Student. Denn er arbeitete unkonventionell, intuitiv und mit einer Geschwindigkeit, die seine Mitstudenten in den Seminaren nicht halten konnten.' Seine Diplomarbeit preist der Professor als 'absolut genial': ein kleiner Apparat, mit dem man einfach und billig ISDN-Telefongespräche ver- und entschlüsseln und damit abhörsicher machen kann.

Für Boris F. wurde der 'Chaos Computer Club' während seines Studiums zur zweiten Heimat. Der Zeichentrickfilm-Fan gab sich den Hackernamen 'Tron' - ein Hacker-Held aus einem Walt-Disney-Film. Dort wird 'Tron' von einem Computer aufgesaugt und kämpft in der virtuellen Welt um Leben und Tod und gegen das Böse. Das 'Tron'-Plakat zierte sein Zimmer.

'Tron ist tot', schreibt der Berliner 'Chaos Computer Club' in seiner Traueranzeige im Internet. 'Die Polizei spricht von Selbstmord. Wir können uns das nicht vorstellen.'

Klaus Ruckschnat, Leiter der 3. Berliner Mordkommission, hält dagegen: 'Bisher überwiegen die Indizien, die für einen Selbstmord sprechen', sagt er. 'Wir haben nichts gefunden: keine Abwehrverletzungen, keine Spuren von Gewalteinwirkungen, keine Medikamente, keine Drogen, nichts. Wenn es Mord war, dann war es perfekt.'

Und doch bleibt Boris' Tod rätselhaft. Die Ermittlungen ergaben, daß der Sohn eines Kroaten und einer Deutschen nach seinem Verschwinden noch mehrere Tage gelebt hat. Auch zu dem Zeitpunkt, als die verzweifelten Eltern versuchten, eine Fahndung nach ihrem Sohn in Gang zu bringen, war Boris noch am Leben. Niemand weiß, wo er sich in diesen Tagen aufgehalten hat. Sein Handy gab bis Sonntag abend eine Peilung in der Berliner Gropiusstadt ab. Danach schaltete es sich ab, vermutlich war der Akku leer. Gesehen hat Boris F. dort offenbar niemand.

Weshalb sich der lebensfrohe Student umgebracht haben soll, weiß keiner. Er hatte für den Samstag und auch die Tage danach wie immer viele Verabredungen getroffen. Der 26jährige stand vor einer glänzenden beruflichen Karriere, zahlreiche Firmen waren schon während des Studiums auf ihn aufmerksam geworden. Er hatte ein enges Verhältnis zu seinen Eltern, mit denen er erst im Sommer fünf Wochen im Ferienhaus in Istrien zugebracht hatte.

Auch das Bild vom einsamen Computerfreak, der in der virtuellen Welt verlorengeht und an der Einsamkeit zerbricht, trifft auf den Jung-informatiker offenbar nicht zu. Seine Freitagabende mit den Kumpels aus der Lehre waren ihm heilig. Gemeinsam hatten sie einen Keller zum Kino umgebaut; dort traf sich die Clique, quatschte, spielte Kino, bastelte.

Eltern und Freunde fürchten, daß sein Wissen und seine Fähigkeiten ihm zum Verhängnis wurden. 'Er war zwar technisch brillant, aber manchmal etwas naiv und gutgläubig', so schildert ihn sein Freund Daniel. Der glaubte manchmal zu spüren, daß viele der Leute, von denen Boris ihm erzählte, ihn bloß ausnutzten. 'Geld interessierte ihn absolut nicht', sagt er. 'Wenn andere mit dem, was er entwickelt hatte, Taler scheffelten, war ihm das egal. Hauptsache, er hatte mal wieder bewiesen, was er drauf hatte.'

Tatsächlich überstiegen die Kontakte, die Boris pflegte, die Grenzen der üblichen Computer-Spaßguerilla bei weitem. Mehrmals erzählte er seinen Eltern von Anwerbeversuchen dubioser Unternehmensberatungen, häufig äußerte er die Vermutung, seine Kontaktpersonen seien ausländische Geheimdienstler. Sonderlich überrascht schien er nie. Boris kannte die Geschichte des jungen Computerhakkers Karl Koch, der Ende der achtziger Jahre durch den sogenannten Na-sa-Hack berühmt wurde, vom KGB als Spion angeworben wurde und sich in einer Mischung von Verfolgungswahn, Verzweiflung und schwerer Depression selbst verbrannt haben soll. Auch im Vereinsblatt des 'Chaos Computer Club' wurde vor einigen Monaten über den Anwerbeversuch eines Berliner Computerhackers durch den Bundesnachrichtendienst berichtet.

Die letzten Arbeiten von 'Tron' waren offenbar hochbrisant. Der junge Hacker befaßte sich seit längerem mit der Entschlüsselung von Pay-TV-Decodern. Einen britischen Fernsehdecoder hatte er schon vor geraumer Zeit geknackt, auch deutsches Pay-TV empfing Boris, ohne zu bezahlen. Seinen Ehrgeiz aber, so ein Freund, steckte er in die Entwicklung einer Smart Card, die alle Pay-TV-Sender Europas freischaltet. Eine solche Karte hätte vermutlich den milliardenschweren europäischen Pay-TV-Markt in Turbulenzen gebracht. Die Herstellung einer solchen Smart Card gilt bisher als unmöglich, da in ihr eine angeblich un-decodierbare Verschlüsselung enthalten ist. Mit einer ähnlichen Verschlüsselung hatte sich 'Tron' auch in seiner Diplomarbeit beschäftigt.

Daß er dabei weit fortgeschritten war, beweisen seine Kontakte. Im vergangenen Jahr sollen ihn italienische Mafiosi kontaktet haben. Boris F. sollte italienische Pay-TV-Decoder umprogrammieren, mit denen seine Auftraggeber dann lukrative Geschäfte hätten machen können. 'Tron' lehnte ab.

Nach seinem Verschwinden fanden seine Eltern einen Lieferschein in seinem Zimmer, der belegt, daß eine Firma 'NDS.Tech.Israel' aus Jerusalem Material an den 26jährigen schickte. Dazu ein Zettel ohne Unterschrift: 'Hallo Boris, hier ist das Material. Viel Glück.' Auch 'NDS', eine Firma von Mediengigant Robert Murdoch, beschäftigt sich vor allem mit Pay-TV. Boris hatte seiner Mutter zuvor von zwei Verabredungen in den Berliner Hotels Kempinski und Hilton erzählt, bei denen eine israelische Firma mit Hauptsitz in London ihn anzuwerben versucht habe.

'NDS'-Manager Jossi Zuriel räumte auf Anfrage zwar ein, daß man von Boris' Verschwinden aus dem Internet erfahren habe. Von Lieferungen an den jungen Informatiker will er jedoch nichts wissen, auch sein Tod war ihm angeblich neu.

Smart Cards für die Pay-TV-Angebote einzelner Länder werden via Internet auch auf dem grauen Markt angeboten. 'Da bekannt war, daß Tron seine Informationen nicht zu Geld machen, sondern die Bauanleitung für jedermann nutzbar ins Internet stellen wollte, hätte er einer Reihe von Leuten das ganz große Geschäft vermasselt', so ein Freund. 'Andererseits wären auf Firmen, die für die Verschlüsselung viel Geld von den Pay-TV-Konzernen bekommen haben, enorme Regreßforderungen zugekommen, wenn Trons Entschlüsselungsanleitung bekanntgeworden wäre. Soweit ich weiß, ist er in der Woche vor seinem Tod mit der Arbeit fertig geworden.'

Auch Boris' Vater fürchtet, daß der Forschungsdrang seinen Sohn das Leben gekostet hat, weil er im entscheidenden Moment nicht aufgeben wollte. 'Der Boris, der konnte so verdammt stur sein', sagt der Vater: 'Wenn jemand ihn zu was zwingen wollte, dann hat er sich immer hingestellt und gesagt: Nischt gibt es. Das hat er durchgezogen.'

Die Mutter will jetzt mit der Polizei nicht mehr sprechen. 'Als Boris noch gelebt hat, wollte mich niemand anhören. Ich wurde ausgelacht. Jetzt ist mein Sohn tot. Jetzt will man mit mir reden. Jetzt ist es zu spät.'

'Wir haben nichts gefunden: keine Abwehrverletzungen, keine Drogen. Wenn es Mord war, dann war es perfekt' - KLAUS RUCKSCHNAT, POLIZEI BERLIN

'Er war zwar technisch brillant, aber manchmal etwas naiv und gutgläubig. Geld interessierte ihn absolut nicht' - EIN FREUND VON BORIS F.


 

Suchbegriff
Rubriken
Ausgabeformat
Einzeilig     Zweizeilig
Zeitraum
von bis   [TT.MM.JJ]
   

 

Über STERN Online