So ist das hier am Amazonas

Brief

Am Rio Amazonas, 2.2.82
Liebe Eltern!
In dem kleinen Ort [Benjamin Constant], wo wir uns gerade aufhalten, haben wir ein Gebäude entdeckt, das stolz den Namen „correios“=Post trägt. So versuchen wir, einen Brief loszuwerden. Wenn er, wie wir vermuten, per Schiff transportiert wird, wird er genau so lange brauchen wie wir – bis Manaus.

Benjami Constant
Benjamin Constant (Brasilien) im Dreiländereck Kolumbien-Brasilien-Peru, Februar 1982

Wir haben gestern Kolumbien verlassen, sind auf die andere Seite des Amazonas übergesetzt und sind den zweiten Tag in Brasilien. Am Donnerstag (wer weiß?) soll angeblich ein größeres Schiff ankommen, das den ganzen Amazonas oder Rio Solimoes, wie er hier heißt, bis Manaus runterfährt. Es wird ca. 115 DM kosten und wahrscheinlich eine knappe Woche brauchen, so daß wir um den 12.2. da ankommen werden.

Brief

In Kolumbien ist alles etwas anders gekommen, als wir geplant haben. Erst haben wir 11 Tage in Bogota verbracht, bis A. [ein Bekannter aus Deutschland] aus Ecuador ankam, sind dann genau so lange nach Ost-Kolumbien in den Bergurwald, haben aber dort herausgefunden, daß absolut keine Möglichkeit besteht, über andere Flüsse als den Amazonas nach Brasilien zu gelangen. In der Trockenzeit ist zu wenig Wasser, oder zu viele Stromschnellen oder Wasserfälle. Man würde ein halbes Jahr brauchen und es gab keine Information über die Indianer in Brasilien.

Wir haben in Bogota noch zwei holländische Anthropologinnen getroffen, die zeitweise im Grenzgebiet Kolumbien / Brasilien arbeiten, die uns auch abgeraten haben, weil alle „Amtspersonen“ in Ost-Kolumbien in Rauschgifthandel verwickelt sind, inklusive der Polizei, die die Schlimmsten von allen sind, und die ab und zu mal einen brauchen zum Verhaften und vorzeigen, und dafür eignen sich unschuldige Ausländer ganz besonders.

solimoes
Der Amazonas bei Leticia, Kolumbien, vgl. „Am Solimões“ 18.01.2011

So haben wir uns noch einmal nach Bogota gewagt und nach einigen Schwierigkeiten einen Flug direkt in den äußersten Südostzipfel Kolumbiens nach Leticia am Amazonas gefunden. Dieser Flug über den Amazonas-Urwald Kolumbiens war ein Erlebnis für sich – 2 Stunden Flug (die Strecke entspricht ungefähr Hamburg-München) und bis zum Horizont der dunkelgrüne undurchdringliche Dschungel, nur unterbrochen von schmalen, braunen Flüssen, die sich in unzähligen Kurven durch den Urwald kringeln. Und dann taucht der Amazonas auf, von doppelter oder dreifacher Breite des Rheins, mit vielen Nebenarmen und Inseln – und plötzlich senkt sich das Flugzeug und landet in einem Ort von 18000 Einwohnern, wo die tropische Hitze (Durchschnittstemperatur 32 Grad!) einem wie eine Mauer entgegenschlägt. Hier ist das Dreiländereck Kolumbien – Peru – Brasilien, und je Land gibt es nur einen Ort, aber viele Bootsverbindungen. A. ist nicht mitgekommen, so daß wir jetzt wieder zu zweit sind.

amazonas

In Bogota haben wir noch zwei SPIEGEL-Ausgaben kaufen können und uns gewundert, wie kalt es in Europa ist (oder war?). Übrigens haben wir bis jetzt nichts verloren trotz aller Diebe, die in Kolumbien herumlaufen. In Brasilien ist alles anders in der Beziehung, die Leute sind viel weltoffener. Wir haben gerade einen Mann kennengelernt, der Brasilianer ist, aber deutsche Eltern und Großeltern hat, die alle in Südbrasilien wohnen. Er ist verheiratet mit einer Frau, die aus Kolumbien stammt, aber einer ihrer Vorfahren war Neger (sie ist braun und hat Kraushaar), besitzt aber einen Pass der USA. Die beiden sind so alt wie wir, sprechen also fließend Portugiesisch, Spanisch und Englisch, der Mann fließend Deutsch, und die beiden Kinder, die sie haben, sprechen Spanisch, lernen in der Schule Portugiesisch, die Mutter bringt ihnen Englisch, der Vater Deutsch bei. So ist das hier.

Wir beide sind jetzt schon 4 1/2 Monate unterwegs und recht gelassen allen Dingen gegenüber geworden. Wir haben noch 1 Monat Brasilien, Guyana und evtl. Surinam, der restlichen vier Wochen werden wir uns auf den Karibik-Inseln erholen und bräunen lassen. Auf jeden Fall werden wir von Manaus + Georgetown [Guyana] noch schreiben.

Serranía de la Macarena
Serranía de la Macarena, Kolumbien

Z. B. noch ein kleines Problem heute morgen: Uns war aufgefallen, daß unser Öfchen sehr stark rußte. Da wir mittlerweile einen ganzen Reparatur-Satz mit uns führen, habe ich ihn deshalb auseinandergenommen. Jetzt muss ich noch etwas zoologisches erklären: ihr kennt vermutlich keine Cucarachas. Das sind in ganz Südamerika verbreitete braune Käfer [gemeint ist die amerikanische Großschabe (Periplaneta americana, ca. 5 cm lang mit ebensolangen Fühlern, die sie eklig hin- und herschwenken. Diese Cucarachas sind eigentlich sehr hilflos, wenn sie auf den Rücken fallen, kommen sie nicht wieder herum, sie beißen auch nicht, sondern sind gaz schlicht eklig. Nachts kommen sie aus ihren Löchern, im Urwald auch tagsüber, und fressen kleine Löcher in die Lebensmitteltüten vorwiegend ausländischer Reisender. Gegen sie ist kein Kraut gewachsen, nur starkes Gift, das aber auch die Lebensmittel ungenießbar macht.

Da sind uns die Ameisen lieber, die wir vorwiegend mit Benzin bekämpfen. Ach so, gegen die Moskitos haben wir in den Abendstunden natürliche Verbündete gefunden. Rund umdie Lampen sitzen kleine durchsichtige Eidechsen an den Wänden, die so ca. alle 10 Sekunden vorschnellen und ein Moskito fressen.

Die Geschichte mit dem Ofen: in der Brennkammer fand ich mehr als 25 kleine und große Cucaracha-Leichen, völlig verkohlt. Da sie die Dunkelheit lieben, waren sie, als wir in Kolumbien im Urwald waren, nachts in den Ofen geklettert, aber morgens nicht schnell genug hinaus, wenn wir Kaffee kochten. Wir hatten uns schon gewundert, daß beim Anzünden jede Menge Cucarachas, einige mit geknickten Beinen, in alle Richtungen auseinanderstoben. Jetzt brennt übrigens der Ofen wieder völlig normal. Aber nur wenige Cucarachas erleben eine Flugreise über den Amazonas-Urwald, dazu als Leiche.

Serranía de la Macarena
Cascadas de Caño union, Meta, Kolumbien

Wo ich so schön hier in der Mittagshitze sitze und schreibe, noch ein paar Geschichtchen.

In Kolumbien haben wir uns von einem Dorf aufgemacht mit Hängematte, Eßgeschirr und Machete, um 2 Wasserfälle [Cascadas de Caño union] zu suchen, die am Rand des Gebirges mehrere 100 Meter hinabstürzen. Morgens um 4, weil es da angenehm kühl ist, ging es los, nach 8 Sttd. kamen wir über einen Pfad, über mehrere halsbrecherische Flußübergänge und Hängebrücken zu einem Dorf mit weniger als 10 Häusern. Bis dahin begleitete uns ein Mann mit Pferd, der dort wohnte. Wir marschierten noch 2 1/2 Std. weiter, is wir den einen Wasserfall in ca. 3 km Entfernung ab und zu durch da Dickicht sahen. Jede Stunde gab es eine kleie Hütte oder Finca, wie sie hier Höfe nennen, wo die Leute unter schwierigsten Bedingungen dem Urwald ihr täglich Brot abringen.

Nach 20 Minuten hatten wir uns völlig verirrt (wir waren zusammen mit A.), und selbst einen Weg mit der Machete (das sind die ca. 50 cm langen Haumesser, die jeder im Urwald trägt, war dem Unterholz nicht mehr beizukommen. Unter großen Mühen fanden wir den Weg zur letzten Finca zurück, entschlossen nun, zu dem Dorf zurückzukehren. Nach insgesamt 13 Stunden Fußmarsch kamen wir dann da an und der Lehrer des Ortes, der gerade seine Schule selbst baute, wies uns einen Platz für unsere Hängematte an.

Serranía de la Macarena
Unter Machetenträgern

Am nächsten Tag fanden Susanne und ich dann den anderen Wasserfall, und am dritten Tag ging es noch mal 9 Stunden zu Fuß zurück bis zu unserem Ausgangsort. An dem letzteren, einem Dorf, [Vistahermosa] wo das Pferd bzw. der Esel das wichtigste Verkehrsmittel its, sind wir 10 Tage geblieben und waren, wie uns eine Frau sagte, „das Wunder des Dorfes“.

Zum Schluß wurden wir von einem Soldaten des „Stützpunkts“ (das einzige Gebäude des Stützpunkts war eine Schilfhütte mit einem ausgedienten Armeefallschirm als Dach) eingeladen. Bei der Ausreise per Bus müssen alle Männer aussteigen und sich von den Soldaten nach Waffen abtasten lassen – Ost-Kolumbien ist nämlich das Operationsgebiet der Guerilleros [der FARC]. Wir wurden bei der Ausreise [gemeint ist Abreise] per Handschlag begrüßt, während sich die anderen Fahrgäste des Busses wohl darüber gewundert haben, was wir wohl für hochgestellte Persönlichkeiten gewesen sind.

Na ja, trotz aller Probleme hat uns Kolumbien eigentlich sehr gut gefallen – wir sind genau einen Monat dageblieben, so daß wir jetzt zwei 2 Wochen hinter unserem Plan herhinken. Aber wir haben noch genug Zeit und auch noch recht viel Geld; wir haben uns selbst gewundert, bei der Einreise nach Brasilien mußten wir 600 US Dollar pro Person vorzeigen (sonst hätten sie uns vermutlich nur unter Schwierigkeiten hineingelassen), aber wir hatten noch 400 mehr und 1000 DM pro Person und Monat wird reichen.

Villavicencio
Villavicencio, meine damalige Freundin knüpfte Bändchen aus bunten Baumwollfäden zu Armbinden und alle Mädchen wollten das auch können…, vgl. In den Llanos, revisited (09.10.2022)

Wir haben in Kolumbien gelernt, Armbändchen aus Baumwolle zu knüpfen, haben uns billig alle möglichen Farben Stickgarn in Bogota verkauft und fabrizieren in Mußestunden wunderschöne Bänder, ganz bunt mit Mustern, jedes Bändchen ca. 1000 Knoten. Heute haben wir gerade eins für 8.50 DM verkauft!

So weit – wir hoffen auf Post in Manaus, auch aus Berlin.

Herzliche Grüße an alle…

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Wie es weiterging, hatte ich schon beschrieben: „Traumhaus und Traumschiff am Amazonas“ (26.10.2021)