Salvaje

"Salvaje" ist erschienen in "Pioniere" - Storycenter 2003, hrsg. vom Science-Fiction-Club Deutschland e.v. (SFCD), Otzberg.
I.

Das ist die Geschichte des Bergknappen Jordan Fleck aus Joachimsthal in Böhmen, der am 15. Oktober 1535 am oberen Orinoco das Tor zu den Sternen fand. Es grenzt an ein Wunder, daß seine Aufzeichnungen der Nachwelt erhalten sind, und wie er zum Orinoco gelangte, ist ähnlich abenteuerlich wie die berühmte Seereise seines Zeitgenossen und Söldnerführers Kasimir Nürnberger aus Ulm wenige Jahre vorher zum Rio de da Plata.

Der biedere Jordan Fleck erkannte nicht, welche Entdeckung er gemacht hatte. Um so mehr darf man rühmen, daß er das Gesehene recht genau beschrieb, obwohl es ihm und seinen wenigen noch lebenden Begleitern unbegreiflich blieb. Wenn er verstanden hätte, was er beobachtete, hätte es vielleicht sein können, daß er vierhundert Jahre später, zu Beginn des zweiten Jahrtausends, irgendwo als Kosmonaut aufgetaucht wäre, in New York vor dem Gebäude der UNO oder in Washington, und hätte all diejenigen Lügen gescholten, die ihn und seine Papiere dem Vergessen anheimfallen ließen.

Die gesamte Gesellschaft Flecks hatte wochenlange Märsche durch Dschungel und Sümpfe hinter sich. Die Landsknechte delirierten im Fieberwahn. Sie litten an Malaria, Tuberkulose, einige an Diphterie, ihre Wunden eiterten und das Fleisch faulte ihnen von den Knochen. Alle waren dem Hungertod nahe. Wahrscheinlich trauten sie ihren eigenen Augen nicht mehr. Als die Überlebenden des Zuges ins Landesinnere, es waren weniger als ein Dutzend, ein paar Wochen später auf den Hauptplatz Cumanás wankten, an der Küste des heutigen Venezuela gelegen, glaubte ihnen niemand ein Wort. Um ein Haar hätten die Padres sie vor ein Inquisitionstribunal gezerrt, klang doch die Geschichte, als seien Fleck und Genossen allesamt vom Teufel besessen oder von heidnischen Dämonen, die unstrittig in großer Zahl im unbekannten Süden, am unendlich großen Fluß, ihr Unwesen trieben. Hatte man nicht vor wenigen Monaten aus glaubwürdiger Quelle gehört, daß dort, an den mächtigen Raudales, den Wasserfällen, scheußliche Wesen lebten, die nur ein Auge, aber einen Hundskopf besaßen? Der Teufel selbst mußte sie geschaffen haben, ja, es grenzte fast an Blasphemie, dort gewesen zu sein. Das Schicksal zu versuchen hieße Gott versuchen, donnerte der Abt des Klosters von Cumaná grimmig. Das berichtet Jordan Fleck, der die Predigt mit eigenen Ohren gehört haben will.

Die Spur Jordan Flecks läßt sich nur wenige Monate verfolgen, dann verliert sie sich im Dunkel der Geschichte. Er muß irgendwie nach Coro im Nordwesten Venezuelas gelangt sein. Dort hatte die deutsche Handelsgesellschaft der Welser seit 1528 eine Niederlassung. Coro war entvölkert, als Jordan Fleck die Stadt erreichte. Das läßt sich mit Sicherheit sagen: Wenige Tage vor seiner Ankunft war der Landsknechtsführer Georg Hohermuth von Speyer mit mehr als vierhundert Mann nach Süden aufgebrochen, um den Goldenen Mann, das El Dorado, zu suchen, und die meisten Bewohner Coros waren dem Ruf des nach der Eroberung Perus durch Pizarro allgegenwärtigen Phantasmas gefolgt. Vielleicht hoffte Fleck, in Coro Landsleute zu finden, die ihm mehr Glauben schenken würden als die Spanier, war er doch 1528 hier in der neuen Welt angekommen. Damals waren sie fünfzig Bergleute gewesen, aus Sachsen und Böhmen, denen die Welser Gold, edle Steine und alle Reichtümer dieser Welt versprochen hatten. Die meisten kehrten nach einem Jahr enttäuscht und fieberkrank in die Heimat zurück. Nur Jordan Fleck und wenige andere, die jetzt mit Hohermuth zogen, waren damals geblieben.

Das letzte Lebenszeichen Flecks stammt vom Bordbuch der Galeone "Conception", die 1539 Gold aus Santa Marta an die Faktorei der Welser in Santo Domingo lieferte und auf dem Weg dorthin in Coro angelegt haben muß. Juan de Tirado, ein spanischer Landsknecht, berichtet von einem Bergknappen mit dem Namen Jordan Fleck, der während der Passage nach Sevilla am Fieber starb, und den sie, mit den Sakramenten der Heiligen Kirche versehen und eingenäht in einen Sack, den Wellen des Meeres übergaben, beinahe schon in Sichtweite Gomeras, einer Insel der Kanaren. Wie aus den Akten des Indien-Archivs in Sevilla hervorgeht, nahm Juan de Tirado die Habseligkeiten Flecks an sich und übergab sie pflichtschuldig der Casa de Contratacion, die alle Dokumente aus der neuen Welt sammelte und begutachtete, ob sich nicht ein Hinweis auf neue Goldschätze wie die des Cortez oder des Pizarro ergaben.

Irgendwie müssen die Welser Wind von der Sache bekommen haben. Ihre Anwälte klagten wenige Jahre später gegen die spanische Krone. Der offizielle Anlaß: Sie wollten die geheimen Aufzeichnungen des Ritters Philipp von Hutten über El Dorado in ihren Besitz bringen, die die kaiserlichen Beamten konfiziert hatten. Hutten war 1546 im Norden Venezuelas von Spaniern überfallen und erschlagen worden. Und angeblich, so munkelte man, hatte Hutten ein geheimnisvolles Land entdeckt, im Südosten, wohl im Einzugsgebiet des heutigen Rio Meta oder gar am Rio Vichada, und eine Stadt mit goldglänzenden Dächern, Manao genannt. Huttens Aufzeichnungen sind verschwunden, und die Welser vermuteten damals wohl nicht ganz zu Unrecht, daß sein Mörder, Juan de Carvajal, sie an sich genommen hatte. Doch der wurde nur wenige Wochen später gehenkt und hinterließ nichts. Aus den Akten geht hervor, daß die Welser immer wieder auch die Papiere Jordan Flecks zur Sprache brachten. Aber die Vertreter der spanischen Krone behaupteten während des Prozesses, ein Abgesandter des Heiligen Vaters habe diese Dokumente im Auftrag des Vatikans an sich genommen.

Niemand weiß, ob es Kopien der Aufzeichnungen Flecks gibt. Falls die Welser Erfolg mit ihrem Begehren hatten, Einsicht zu nehmen, sind sie verlorengegangen. Das Archiv des Handelshauses ist verschollen - es wurde nach dem Bankrott des Konzerns im Jahr 1614 in alle Winde zerstreut. Die Originale der Fleckschen Papiere aber sind erhalten, jedoch in einem sehr schlechten Zustand und nur in Bruchstücken. Offenbar wußten der Papst und die Gelehrten des Vatikans gar nichts von diesen Dokumenten, sonst wären sie und ihr brisanter Inhalt auf ewig in den Gewölben der Engelsburg verschwunden. Ein findiger Schreiber des Archivs von Sevilla hat sie dort abgelegt, wo man sie zu Recht vermuten würde: im Nachlaß des spanischen Konquistadors Diego de Ordaz, unter dessen Führung Jordan Fleck und fünfundachtzig Landsknechte am Weihnachtstage 1534 von der Insel Cubagua aufbrach, um das Goldland zu finden. Ordaz starb bald darauf an einem vergifteten indianischen Pfeil. Was aus seinen Gefährten wurde, war bis jetzt nicht bekannt. Der Nachlaß des Spaniers macht den Anschein, als sei er seit dem sechzehnten Jahrhundert unberührt gewesen. Erst der Zufall brachte ihn wieder hervor und ließ den Staub der Jahrhunderte von ihm abfallen.

Das Manuskript des Jordan Fleck wäre als Phantasieprodukt, eine Fälschung oder als ein fragwürdiges Überbleibsel ebenso fragwürdiger Literatur des sechzehnten Jahrhunderts unbeachtet geblieben, sind doch die meisten Berichte der spanischen und deutschen Eroberer phantastisch ausgeschmückt, um den Geldgebern zu imponieren und sie zu weiteren Krediten zu bewegen. Doch Jordan Fleck war ein einfacher, bescheidener, frommer Mann. Das ist heute noch in der Chronik seiner Heimatstadt Joachimsthal nachzulesen, wo er bis zu seiner Überfahrt in die Neue Welt als Vorsteher der Knappschaft wirkte und allgemein als jemand galt, der der Lüge und Hoffart abhold war.

Jordan Flecks Erlebnisse gewinnen jedoch erheblich an Bedeutung, nimmt man die Aufzeichnungen des Gelehrten und Naturforschers Alexander von Humboldt zur Hand, der knapp dreihundert Jahre später, als erster Weißer nach den versprengten spanischen und deutschen Konquistadoren, die Gegend des oberen Orinoco erforschte. In seinem monumentalem sechsunddreißigbändigem Werk "Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents" werden die Beobachtungen des Joachimsthaler Bergknappen bestätigt, ohne daß Alexander von Humboldt von dessen Existenz und dessen Manuskripten gewußt zu haben scheint.

Es folgen die wichtigsten und noch lesbaren Fragmente des Original-Manuskripts samt Kommentar. Der Text und sein holperiger Satzbau wurden gestrafft, mittelhochdeutsche und Ausdrücke sächsischen Dialekts, die Fleck so niederschrieb, wie er sie sprach, sind in modernes Deutsch gewandelt worden, um den geneigten Leser nicht zu ermüden.

II.

"Im tausendfünfhundert und fünfunddreißigsten Jahre des fünfzehnten Tages des Monats Octobris erhuben wir uns beim Aufgang der Sonnen, fortzuziehen von dem Ort der Qualen und des Hungers. Als wir mit genug Mühe den Plunder und die drei Roß, die uns geblieben, überschwemmten, taten wir uns am anderen Ufer nieder. Gott hatte es gefallen - ihm sei Lob dafür -, das Wasser des großen Flusses, den die Indier Urinoco nennen, in der Nacht zu senken. Das Donnern der großen Raudales umtoste uns und ließ unsere Stimmen verwehen. Alfonso de Herrera begab sich zum Fuße der schwarzen, von der Gewalt der Elemente abgeschliffenen Felsen, die hier in ungeheurer Menge steil hinansteigen und, wie es dem Teufel mag gefallen, schier bis an das Himmelszelt reichen.

Uns ward Angst, besorgend den Gebrech an Speis, denn wir keinen Proviant hatten und auch niemand vorhanden war, der uns und unsere matten Leiber trug. Der Spanier kletterte eine große Strecke hinauf, um zu sehen, wo das Pueblo sei, von dem die Indier flußabwärts kundgetan hatten. Er kehrte erst zurück, als die Sonne gen Mittag stand. Er rief mit lauter Stimme, oben auf den Felsen seien heidnische Malereien, lauter seltsame Zeichen, die er noch nie zuvor gesehen hätte. Aber er kündte dort nicht hinaufgelangen, um sie aus der Nähe zu betrachten, selbst für einen Affen sei das nicht möglich, daß er in diese größe Höhe kletterte.

Zu unserer großen Freude zeigte Alonso de Herrera uns an, er habe den Rauch vieler Hütten gesichtet, die die Indier Bohios nennen, in einer Schlucht zwischen den Felsen, deren Eingang uns bisher verborgen geblieben war, weil das Gesträuch uns die Sicht vernahm. Wir litten aber, als es unser Unglück also erforderte und Gott gestattete, an vielerlei Gebrechen und Krankheiten, und die anderen zehn Conquistadores waren zu schwach, um über die Felsen zu klettern. Sie hießen uns nachzusehen und den Indiern zu befehlen, sie aufzuheben und in ihr Dorf zu tragen.

Darob machten wir uns, ich, Jordan Fleck aus Joachimsthal in Böhmen, und Alonso de Herrera aus Valladolid in Hispaniam, uns auf den Weg. Am Fuße des Gebirgs oder Pics, wie man in Hispaniam sagt, der so so schwarz war wie Kohle und so hoch, daß wir seine Spitze nicht sehen konnten, drangen wir in das unwegsame Gehölz. Es hatte aber das Gebirg drei Meil von diesem Fluß Urinoco..."

Hier fehlt offenbar eine Seite des Manuskripts, sie ist unzweifelhaft herausgerissen worden, weil Fetzen des Papiers noch zwischen den mit einem Lederband zusammengeschnürten Folianten zu sehen sind. Leider ist es einer der wichtigsten Seiten, auf der Jordan Fleck die Wegstrecke beschreibt, die von den Wasserfällen des Orinoco, weit im Süden der heutigen Provinzhauptstadt Puerto Ayacucho gelegen, nach Osten in die Schlucht am Fuße einer der Tafelberge führt, des Pics Uniana, von dem noch die Rede sein wird.

Bei Alexander von Humboldt findet sich eine Beschreibung der Gegend, von der hier die Rede ist:

"Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer ist meist niedriger, gehört aber zu einem Landstrich, der gegen den Pik Uniana ansteigt, einen gegen 975 m hohen Bergkegel auf einer steil abfallenden Felsmauer, Dadurch, daß er frei aus der Ebene aufsteigt, nimmt sich dieser Pik noch großartiger und majestätischer aus."

Offenbar sind Jordan Fleck und sein spanischer Gefährte mehrere Stunden in die Schlucht am Fuße des Pik Uniana eingedrungen, wie lange, läßt sich leider nicht mehr feststellen. Aus einem Fragment, das hier ausgelassen wird, geht hervor, daß sie sich verirrt haben müssen, denn, nachdem sie eine Nacht im Freien verbracht hatten, erschien ihnen der Berg mit der abgeplatteten Spitze, wie ihn Fleck beschreibt, im Westen. Ihr Ausgangspunkt, das Flußufer des Orinoco, war jedoch östlich des Gebirges.

"...welches drei Meil von dar gelegen war, dahin wir hinziehen wollten. Aber zu unserem großen Erschrecken begegnete uns auf dem Pfad eine große Summa Indier, die den ganzen Leib mit Fellen von schwarzen Bären bedeckt hatten, auch das Antlitz, daß sie uns dünkten wie Affen, groß wie Riesen. Sie trugen eine eiserne Wehr, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Wir verwunderten uns darob sehr, denn die Indiers sind ein bloß, nackend, bestialisch Volk, gehen ganz nackend, barfuß und barhäuptig, nur die Weiber bedecken ihre Scham mit einem Tuch wie eine Bademaid. Bei all unserer Reis sahen wir nur lange Spieß, aus Palmen gemacht, und Flitschebogen mit Spitzen von Fischbeinen, die sehr scharf sind.

Wir zogen unsere Katzbalger [Landsknechtsschwert, d. Autor], um uns zur Wehr zusetzen. Der Hauptmann der Indier trat vor uns und hub den Handbogen in einer Hand in die Höhe, welches unter ihnen ein Zeichen des Friedens ist. Doch Alonso de Herrera rief: „Dios y la Virgen! [Gott und die Jungfrau, d. Autor] und drang auf den Cacique [Kazike, indianischer Häuptling, d. Autor] der Indier ein. Denn die Indier sind so gesinnet: So sie nur einigen wenigen Schaden der ihren erleiden, so ist ihr Haufe schon zertrennet und sonderlich, wenn sie ihren Herrn und Haupt verlieren, so ist die Victoria oder der Sieg schon erlangt, wenn sonst auch kein Mensch umkäme.

Der Hauptmann der Indier jedoch ließ sich nicht beirren. Er hob seine Lanze, die so dick war wie der Arm einies Christenmenschen. Er zielte mit der Spitze auf den Spanier. Aus der Lanze drang ein heller Strahl Licht, als wie von tausend Sonnen, und traf Alonso de Herrera, der wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel.

Mich bedrang große Furcht und sank auf die Knie, schien es mir doch, von teuflischen Ceremonien umgeben zu sein und den Luzifer, den Herrn und Gebieter aller Teufeln, leibhaftig vor mir zu haben. Doch es muß der allmächtige Gott wider die Ungläubigen etwas zu unserem Favor oder Gunst wirken, denn die Indier schadeten mir nicht fürderhin. Einer der heidnischen Krieger zog an seinem Haar, es löste sich von seinem Haupte, als trüge er eine Schaube [Kopfbedeckung, eine Art Mütze, d. Autor] aus dem Fell eines Bären. Ich sah darunter ein Antlitz mit sehr dunkler Haut, wie die Berber von Tunis, aber gänzlich ohne Bart, alldieweil den Indiern die Haare nicht so stark wachsen wie den Christen.

Der Heide redete zu mir in einer Sprache, die ich nicht verstand. Mit großer Neugier betrachtete er mein Schwert, welchselbiges ich noch in der Hand hielt, wiewohl nicht in feindlicher Absicht. Dann lachte er und rief etwas zu den anderen, die aber stumm blieben wie ein Schwarm Fische. Er gebot mir mit der Hand, ihnen talabwärts zu folgen. Ich steckte den Katzbalger in die Scheide und dankte Gott, daß ich mit Leib und Leben davongekommen war. Zween der Indier nahmen Alonso de Herrera und trugen ihn wie einen Sack Mehls über den Schultern.

Da wir nun in Gesicht eines Pueblos oder Fleckens kamen und der Cacique der Indier meiner unbesorgt war, ward ich groß erstaunt, daß die Hütten ganz und gar aus Stein und gar wohl behauen waren wie die Kirche Sankt Anna in Buchenholze, wiewohl die Indier, die unter der Herrschaft unseres allerchristlichen Kaisers leben, ihre Behausungen gewöhnlich nur aus Schilf oder Holz fertigen. Ich fand dort wohl hundert Häuser und Mais, Yucca, Patatas [Kartoffeln, d. Autor] im Überfluß. Der Flecken war aber leer, als wären die Indier auf dem Felde oder geflohen.

Die Indier zeigten zur Spitze der Berges, und ich sah, daß dort der Rauch eines großen Feuers brannte. Der rote Schein leuchtete weithin über das Land, als stünde dort ein ganzer Wald in Flammen. Da erhob sich ein großes Donnern, wiewohl ich keine Wolke am Firmament sah, als sei das Ende der Tage gekommen und Armageddon und Gott der Herr sendete die Engel aus mit den sieben Plagen, um die Erde zu verderben. Mir wurde schwarz vor Augen, und die Indier..."

Hier bricht der erste Teil der Aufzeichnungen Flecks abrupt ab. Der zweite, letzte Teil spielt offenbar einen Tag später. Diejenigen, die der Bergmann aus Böhmen für "Indier" halten mußte, trugen ihn, daß muß man vermuten, den Berg, den Pik Unaina, hinauf. Was aus dem spanischen Konquistador Alonso de Herrera geworden ist, läßt sich, das sei vorweggenommen, nicht mehr sagen. Jordan Fleck erwähnt ihn mit keinem Wort.

Interessant ist in diesem Zusammenhang wieder eine Anmerkung des Alexander von Humboldt. Der Gelehrte schreibt über seine Reise zum Orinoko im Jahr 1801:

"In den Katarakten hörten wir zum erstenmal von dem behaarten Waldmenschen, dem sogenannten Salvaje sprechen, der Weiber entführt und Hütten aus Stein baut. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die Maypures Vasitri oder den Großen Teufel. Die Eingeborenen zweifeln nicht an der Existenz dieses menschenähnlichen Affen, vor dem sie sich sehr fürchten und der, so erzählte mir Pater Gilli, "mit Licht schießt wie ein Krieger mit dem Pfeil." Früher, zur Zeit der Vorväter, habe es viele der Großen Teufel gegeben, jetzt aber seien sie sehr selten geworden. Auch der Donner, der in grauer Vorzeit ihre Ahnen erschreckt habe, sei verstummt. Die Legende vom Salvaje, die ohne Zweifel von den Missionaren und den spanischen Kolonisten mit verschiedenen Zügen aus der Sittengeschichte des Orang-Utan, Gibbon oder Chimpanse ausstaffiert worden ist, hat uns fünf Jahre lang auf der sündlichen Halbkugel verfolgt, und über all nahm man es übel, daß wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in Amerika einen behaarten Waldmenschen, den Salvaje, gebe."

Der zweite Teil der Fleck’schen Dokumente beginnt mit einer Schilderung von Felszeichnungen oben auf dem Pik Unaina:

"...heidnisches Blendwerk. Ein Adler, auf dem gespannter Pfeil liegt und das Wort Okab. Dieses Zeichen und das Wort sah ich auf den güldenen Amuletten, die jeder der Indier trug über seiner Maske aus dem Fell eines behaarten Tieres. Mich schauderte, und mir schien, die Sinne würden mir schwinden. Ich dachte an das Wort des Johannes in der Heiligen Schrift: Und das Tier ward gegriffen und und mit ihm der falsche Prophet, der die Zeichen vor ihm tat, durch welche er verführte, die das Malzeichen des Tieres nahmen und das Bild des Tieres anbeteten. Lebendig wurden diese beiden in den feurigen Pfuhl geworden, der mit Schwefel brannte.

Neben den anderen Tieren auf dem Felsen sah ich den Buchstaben T, daneben zwei schwarze Striche, so gleichmäßig in den Felsen gehauen, als hätten die Dämonen der Hölle den Heiden zur Seite gestanden, konnte doch kein Steinmetz derart Wunderwerk tun. Darüber waren Zeichen der Rechenkunst, wie sie der berühmte Meister Adam Reis aus Annaberg in Sachsen schreibt. Der Buchstabe T, von dem subtrahieret das V, dividieret durch ein C mit einer Zwei und einem X. Darunter sah ich zwei Finger gar wohl gespreizet in der Form des Buchstabens V, so groß, als wollte er alle anderen Zeichen verschlingen, die Zahl Eins, wiederum subtrahiert von einem zwiefachen V und einem zwiefachen C.

Die ganze felsige Wand des Gebirgs ward bedecket von heidnischen Zeichen. Ich sah Indier in Schiffen, groß wie eine Galeone und mit viel Segelwerk wie die französischen Korsaren benutzen, um unschuldige Reisende zu überfallen und auszuplündern. Ich sah auch Bilder der Indier, wie sie mit einer Lanze schießen, aus der ein starkes Licht austritt, als bündele der Teufel gar selbst die Strahlen der Sonnen. Und Zeichen, die mich blasphemisch dünkten, wiedersprach doch ihr Inhalt all dem, was die alleinseligmachende Heilige Kirche und der gütige Vater in Rom predigen. Trotz alledem malte ich sie in mein Buch mit der festen Absicht, das alles den Padres vorzulegen. Der allmächtige Gott möge uns vor den Götzen der Ungläubigen beschützen!

Gar etliche der Indier stunden vor und in einem Bohio [großes Lagerhaus in Aruak, der Sprache der Eingeborenen Venezuelas, d. Autor], welchselbiges ganz und gar aus Eisen gemacht worden war und mich gar sehr erstaunet. Es stand auf der höchsten Stelle des Berges, war aber wohl beschirmt von großen Palmen und anderen Bäumen, die in der Neuen Welt wachsen, so daß niemand es erblicken konnte. Das Bohio stand auf Stelzen wie ein Adebar und hatte nur eine Tür. Es war so spitz und so hoch wie das Münster zu Ulm. Das Gras unter dem Bohio der Indier war schwarz, als hätte ein großes Feuer gebrannt.

Der Cacique bedeutete mir, sie würden sich in die Lüfte erheben können wie die Vögel, denen der Herrgott die Wolken und den Himmel als ihr Königreich zugewiesen hat. Ich schlug ein Kreuz und betete, der Allmächtige möge mich erlösen von diesem schrecklichen Dingen und götteslästerlichen Versuchen, die göttliche Ordnung umzustoßen. Als wir bis an die zehnte Stunde uns auf dem Gipfel des Gebirgs aufgehalten hatten, marschierten wir stracks...."

Hier bricht die Erzählung Jordan Flecks ab. Nach ihm, seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, hat niemand mehr die "Waldmenschen", die Salvaje, gesehen noch die Felszeichnungen oberhalb der großen Wasserfälle des Orinoco erkundet. Alexander von Humboldt schrieb zu diesem Thema:

"Unter den Eingeborenen dieser Länder hat sich die Sage erhalten, "beim großen Wasser, als ihre Väter das Kanoe besteigen mußten, um der allgemeinen Überschwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres das Gebirge um den Pik Unaina bespült". Diese Sage kommt nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor, sie gehört zu einem Kreise geschichtlicher Überlieferungen, die sich bei fast allen Stämmen am oberen Orinoko fiinden. Die Missionare wissen von den Eingeborenen, daß sich ganz oben an einer unzugänglichen Felswand des Berges ein sogenannter Tepumereme, ein einzeln stehender Felsvorsprung befände. Man sieht darauf Tierbilder und symbolische Zeichen. Die hierogylphischen Figuren sind so hoch eingehauen, daß man selbst mit Gerüsten dort nicht hinaufgelangen könne. Fragt man die Eingeborenen, wie es möglich gewesen sei, die Bilder einzuhauen, so erwidern sie lächelnd, als sprächen sie eine Tatssache aus, mit der ein Weißer nicht bekannt sein kann, "zur Zeit des großen Wasser seien ihre Väter so hoch oben im Kanoe gefahren."

III.

Wie der Fachpresse im vergangenen Jahr zu entnehmen ist, galten die Schilderungen Flecks als wissenschaftliche Sensation, nicht nur für die Astronomen, sondern auch für Geologen, Biologen und selbstredend für die Historiker. Um so erstaunlicher ist es, das die Diskussion darüber plötzlich verstummte. Nachdem ich das Manuskript Jordan Flecks in Sevilla zufällig entdeckt und der Öffentlichkeit vorgestellt hatte, entwickelte sich ein reger Schriftverkehr zwischen meinem Institut in Madrid und zahlreichen Universitäten in aller Welt, insbesondere aber mit denen der USA, von denen viele Kollegen nach Spanien reisten, um sich den wertvollen Fund anzusehen. Die NASA prüfte die Kopie, die ich ihr überließ, und erstellte eine Analyse, die wiederum einen guten Freund am Massachusetts Institute of Technology vorgelegt wurde. Der teilte mir in einem Brief das Resumé mit. Ich zitiere in Auszügen:

"Bei der Zahlenkombination, die in dem von Dir aufgefundenen Dokument beschrieben wird, handelt es sich zweifellos um die vierte der Gleichungen der Lorentz-Transformation. Nach dieser Gleichung verschwindet die Zeitdifferenz Delta T zweier Ereignisse in Bezug auf K' auch dann im allgemeinen nicht, wenn die Zeitdifferenz Delta T derselben in bezug auf K verschwindet. Die Gleichung spielt insbesondere bei Minkowskis Erkenntnis, daß das vierdimensionale Kontinuum der Relativitätstheorie in seinen maßgebenden formalen Eigenschaften die weitgehenste Verwandtschaft zeigt zu den dreidimensionalen Kontinuum des euklidischen geometischen Raumes. Um diese Verwandtschaft ganz hervortreten zu lassen, muß man allerdings statt der üblichen Zeitkoordination T die ihr proportionale imaginäre Größe V-1 c t einführen."

Ich bin kein Mathematiker und kann daher die Bedeutung der Formel nicht näher erläutern. Aber mein Freund, der im übrigen Professor für theoretische Physik ist, schrieb mir in einem zweiten Brief, wenn es sich bei den Schilderungen eines Bergknappen aus dem sechzehnten Jahrhundert nicht um eine plumpe Fälschung oder einen dummen Scherz meinerseits handelte, schienen die Felsmalereien am Orinoco eine mathematische Diskussion fortzuführen, die Minkowski mit seiner Theorie der vier- und mehrdimensionalen Welt in bezug auf imaginäre Zeitkoordinaten angestoßen habe. Fazit: Es gehe letztlich um die Reise durch den Raum und die Zeit mit Überlichtgeschwindigkeit.

Das Astonomische Zentrum von Palomar, dem ich Kopien aller Dokumente, auch der beschädigten, überlassen hatte, faßte sich kurz und schickte mir nach einer Wochenfrist eine E-Mail, die nur wenige lapidare Sätze enthielt. Der letzte lautet:

"Es handelt sich ohne Zweifel um eine graphische Darstellung des Sternbildes Adler mit den beiden Fixsternen Tarazet, griechisch für "Waage" (auch: Atair), und Okab, griechisch für "Schwanz des Adlers", (auch: Deneb). Nach den neuesten Erkenntnissen des Hubble-Teleskops ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, daß sich auf der Achse zwischen Atair und Deneb, die circa sechsundachtzig Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt ist, eine Ansammlung von Planeten oder auch erdähnlichen Trabanten befindet."

Das Geologisches Institut der Universität von Pasadena, Kalifornien antwortet mir auf meine schriftlich vorgetragene Bitte, die Höhe der Felsmalereien zu erklären, mit einem mehr als dreißig Seiten umfassenden Analyse. Ich fasse sie hier mit meinen eigenen Worten zusammen:

Das Gebirge östlich des Orinoco ist eines der ältesten in ganz Südamerika und besteht aus einem präkambrischen Schild, ist also vor mehr als siebzig Millionen Jahren entstanden. Bekanntlich waren Südamerika und Afrika ursprünglich ein Kontinent, daher auch die in der wissenschaftlichen Diskussion kaum mehr strittige These, daß der Amazonas vor der Kontinentaldrift in die entgegengesetzte Richtung geflossen ist. Nur so läßt sich erklären, daß an sehr hoch gelegenen Granitschichten der Tafelberge im südlichen Venezuela Markierungen zu erkennen sind, die auf einen Wasserstand in vorgeschichtlicher Zeit schließen lassen, der mindestens fünfzig Meter über dem heutigen gelegen haben muß. Noch in der unteren Kreidezeit muß hier ein Binnenmeer gewesen sein. Da es damals den Homo sapiens noch nicht gab, sind Felszeichnungen, die diese geologische Epoche thematisieren, nicht möglich.

IV.

Im Frühjahr diesen Jahres reiste ich auf eigene Faust zu den Tafelbergen im südlichen Venezuela, in der Nähe der Grenze zu Brasilien. Mein Institut versagte mir plötzlich und ohne Begründung die Mittel zu der Expedition, die schon bewilligt worden waren. Das steigerte nur meine Neugier, ich beantragte zwei Monate unbezahlten Urlaub, den ich bekam. Von San Fernando de Atabapo, dem letzten Außenposten der Zivilisation, am Zusammenfluß des Guaviare, Atabapo und des Orinoco gelegen, wollte ich in die bis jetzt völlig unerforschte Region im Osten in der Nähe des von Alexander von Humboldt beschriebenen Pik Uniana. Bis hierhin mußte im Oktober 1535 auch Jordan Fleck gekommen sein, und die Dörfer der von ihm entdeckten "Indier" befanden sich höchstwahrscheinlich nördlich des Cassiquiare, der Flußverbindung zwischen dem Orinoko und dem Amazonas, die Alexander von Humboldt entdeckt hatte.

In San Fernando erklärte mir der Kommandant der Nationalgarde, daß bis vor wenigen Wochen Touristen mit Helikoptern auf die Tafelberge, die Tepuis, geflogen worden seien, das aber auf Anweisung des Gouverneurs nicht mehr geschehe. Die ganze Region sei gesperrt, angeblich, weil die Bestimmungen zum Schutze der Indios verschärft worden seien. Ich ließ nicht locker und versuchte, genauere Auskünfte zu bekommen. Er sagte schließlich zu, sich am Abend noch einmal mit mir zu treffen, in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes, die angeblich der Familie seiner Frau gehörte.

Der Commandante erschien beinahe pünktlich und in Zivil. Er schaute sich ständig um, als würde nach ihm gefahndet. Erst nach einigen lauwarmen Bieren und einer Flasche Anisschnaps löste sich seine Zunge ein wenig. Er behauptete, die Regierung in Caracas plane eine große Aktion, ganze Indio-Dörfer umzusiedeln, weil die Flüsse mit Quecksilber verseucht seien, das Goldsucher hinterlassen hätte, die überall, rund um die Tepuis, illegale Minen betrieben hätte. Zum Schutz der Umsiedelung, auch vor der kolumbianischen Guerilla auf der anderen Seite des Atabapo, wären Soldaten aus den USA und unglaubliche Mengen an technischem Gerät herbeigeflogen worden. Die venezolanische Nationalgarde bleibe außen vor. Offenbar hätten jetzt die Gringos das Kommando, meinte er bitter. Er könne nichts tun, alles sei von ganz oben abgesegnet. Er warne mich, ohne Erlaubnis weiter zu den Tepuis vorzudringen. Das würde ich nicht überleben. Als ich darauf drang, Einzelheiten zu erfahren, verließ der Commandante fluchtartig die Hütte, ohne mir auch nur die Hand zu schütteln, obwohl er mich sonst ausgesucht höflich behandelt hatte.

Am nächsten Tag erschien ein Trupp amerikanischer Ledernacken vor meinem Hotel, bis an die Zähne bewaffnet, und ein Leutnant befahl mir in breitesten texanischen Singsang, sofort meine Sachen zu packen und abzureisen. Eine Maschine der venezolanischen Luftwaffe stehe startklar auf der Piste, sie erwarteten mich. Ich flog unter Protest und in Begleitung zweier schweigsamer Amerikaner in Zivil bis zur Provinzhaupstadt Puerto Ayacucho. Dort drängte man mich, das nächste Flugzeug nach Caracas, in die Hauptstadt, zu nehmen. Die venezolanischen Behörden eröffneten mir, mein Aufenthalt im Land sei nicht erwünscht. Ich wurde genötigt, mich in die nächste Maschine nach Madrid zu setzen.

Weitere Informationen erhielt ich nicht. Ich überlasse es dem geneigten Leser, die notwenigen und folgerichtigen Schlüsse zu ziehen.

©Burkhard Schröder