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Verfasst am:
14.07.2004, 22:54 |
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| [NETZ]KULTUR | | Aktuell | 14. Juli 2004 |
| | | TREFFEN VON NETZLITERATEN IN BERLIN Monochrome NetzliteraturVon Burkhard Schröder |
Ein Schriftsteller hat mindestens drei Leser seiner Werke: sich selbst und seine Eltern. Bei den Netzliteraten ist es umgekehrt: ein Leser kann mindestens zwischen drei Schriftstellern wählen, die um seine Gunst buhlen, falls es zu einem nicht-digitalen Treffen kommt. Wem die Rezipienten egal sein, schreibt entweder dummes Zeug oder ist irgendwie Avantgarde. Ergo: die Masse ist einfach zu dumm, um einen zu verstehen. Womit wir mindestens eine schlagende Definition dessen hätten, was Netzliteratur ist.
Am besten, avantgardistische Schriftsteller treffen sich untereinander. Da kann nichts schief gehen. So geschah es vor einigen Tagen in Berlin-Kreuzberg. Netzliteraten sind wie andere Künstler: eitel, egoman, und man redet über die Konkurrenz ungern und wenn doch, dann nur Schlechtes. Ausnahmen bestätigen die Regel: Netzliteraten neigen weniger zum Autismus, weil es das Netz und E-Mail gibt. Der Stubenhocker in seiner virtuellen Form ist ausgestorben. Und es fällt das weg, was für Schriftsteller der Vorhof zur Hölle ist: die Manuskripte anderer zu lesen. Die gibt es bei Internet-Literatur nicht. Man presst gleich alles ins Netz, was im Gedärm literarisch grummelt. Wat kütt, dat kütt.
Der unermüdliche Oliver Gassner hatte das Treffen in der Osteria Uno arrangiert. Literaten treffen sich nie beim Jugoslawen oder Chinesen. "Der Italiener" (Chianti, Merlot) erinnert an Goethe, Toscana und schöne dunkelhaarige Frauen und Männer. Das ist angenehm, weil Netzliteraten sich so etwas in natura meistens nicht leisten können.
Genug der Häme. Netzliteratur war ein Stiefkind der New Economy, ist somit heute eine Vollwaise. Dazu hat Dirk Schröder schon vor Jahren einen ironischen Text geschrieben: "Das Internet ist vorbei." Aber die Netzliteratur lebt noch. Linksammlungen wie Cyberfiction, dichtung-digital und der Webring Bla dokmentieren die Existenz, beweisen jedoch auch, dass seit 2000 nicht mehr viel passiert ist.
Mit der Literatur für das Netz ist es wie mit den Buddenbrooks: auf ein Original kommen zehn Interpretationen und theoretische Abhandlungen. Und was soll das überhaupt sein? Mit Grausen liest der interessierte Surfer etwa bei DINO über das Projekt "Die graue Feder", das angeblich Netzliteratur sei: "Jeder Senior hat die Möglichkeit, seine Texte zu veröffentlichen. Mit Forum und Chat." Jeder darf schreiben und bloggen. Das Ende ist also nahe.
Heiko Idensen, der den "Wreader" postuliert, über die Symbiose von Produzent und Rezipient: "Wenn alle zu Schreibern werden - wer sollte das dann noch lesen? Diese kollaborativen Projekte sind nicht zum Lesen, sondern die sind zum Mitmachen, und wenn man mit Pädagogen redet, ist dieses Moment, da mitzumachen, sich einzuklinken, kulturell wichtig."
Kulturell wichtig - das klingt wie: Frauen atmen selber. Ob etwas wichtig ist, entscheidet sich ohnehin a posteriori. Nähern wir uns dem schemenhaften Gebilde also mit schüchternen Schritten. Was das Hörspiel für den Rundfunk, ist die Netzliteratur für das WWW: beides geht auch gelesen, aber nicht so gut.
Wie Eingeweihten bekannt ist, neige ich zu strengen Definitionen. Netzliteratur bedeutet nicht: Literatur, wie gehabt, nur online und per Monitor. Oder: Literatur, die sich von bekannten Formen nur durch das Rezeptionsmedium unterscheidet. Für letzteres steht Susanne Berkenheger, die mit dem jeweiligen Browser des Surfers spielt. Die Qualität des Texte wird nicht durch den Buchdeckel oder die Sonnenbrille des Lesers bestimmt.
Netzliteratur kann nur im Internet, also im Usenet, im WWW oder gar im IRC existieren und rezipiert werden. Beispiel: Cypherguerilla aus dem Jahr 1997. Die meisten Netzliteraten waren schlicht die Vorbereiter des Bloggens. Künstlerisch wurde das durch den Assoziations-Blaster Alvar Freudes und Dragan Espenschieds vorweggenommen. Der Surfer schreibt sich seinen Text selbst, oder - die anspruchsvollere Form - die Interaktivität wird ihm nur vorgegaukelt. Der Blogger ist die Daily Soap für den Netzliteratur-Konsumenten: dilettantisches Schreiben als Garant für eine vermeintliche Authentizität.
Schreiben ist ein Handwerk und somit erlernbar. Wo auch immer man schreibt. Wenn Texte fehlen, gibt es keine Literatur, sondern bloße Kunst. Es existiert durchaus geniale Netzliteratur: das "Selbstmördertreffen von Skoliossa" ist ein Beispiel.
Vielleicht ist Netzliteratur einfach monochrom, frei nach Reinhold Greter. Das hört sich geheimnisvoll an, plustert sich sprachlich auf und gibt der Avantgarde das Gefühl, mehr durchzublicken als andere: "monochrom, die meiner Einschätzung nach die Inkompatibilitäten psychischer und virtueller Codierungen witzig, ironisch und melodramatisch gegeneinander ausspielen."
Greter war ein Thema zwischen den NetzliteratInnen: der ist irgendwie verschwunden, obwohl seine Zitate virtuell noch umherschwirren. Weg und doch da: die Suche nach ihm gestaltet sich schwierig. Jeder, der einen Zipfel seiner Existenz oder künstlerischen Ergüsse ergattert hat, zeigt sie stolz daher. Pars pro toto: eine schriftstellerische Existenz, die vielleicht nur noch ein Code der Matrix ist.
Foto oben: Dirk Schröder, Matthias Penzel, Claudia Klinger (v.l.n.r.). 2. Foto v.o.: Alban Nikolai Herbst (l.) und Bov Bjerg. 3. Foto v.o.: Michael Charlier und Burks. 4. Foto v.o.: Burks und Oliver Gassner.
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