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burks
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Anmeldungsdatum: 07.10.2002
Beiträge: 6757
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BeitragVerfasst am: 01.07.2003, 00:03 Antworten mit ZitatNach oben

Am Orinoco

[Die Bilder in Originalgrösse sind nur für registrierte Nutzer des Forums zugänglich.]

Ich sage es ungern: aber ich bin der Heiligen Mutter Kirche, womit die Katholen gemeint sind, zu grossem Dank verpflichtet. Genauer gesagt: nicht allen, die ein höheres Wesen in der katholischen Version verehren, sondern nur Pater Christobal aus Elorza im äussersten Südwesten Venezuelas. Nach unserem Gedankenaustausch über das Schicksal der Guahibos fragte er mich, wohin ich denn reisen wolle. Zum Orinoco, wusste ich nur. Irgendwo zu den großen Wasserfällen, den Raudales (Bild oben, 4.v.l.1). Ich verwies auf meine Reiselektüre, Alexander von Humboldts "Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents". Bueno, sagte der Pater, ich wollte sowieso meinen Bischof in Puerto Ayacucho besuchen - morgen früh um sechs fahren wir! Und so kam es, dass ich im Rücksitz eines weissen Jeeps der Katholischen Kirche quer durch den venezolanischen Bundesstaat Apure kutschiert wurde - vom Fahrer des Padres, den ich auch für dessen Lebensgefährten hielt.

Bei Puerto Carreño, das schon in Kolumbien liegt, überquerten wir mit einer Fähre den grossen Rio Meta, der sich dort in den Orinoco ergiesst. Puerto Ayacucho ist ein quirliges, staubiges Provinznest am Orinoco (Bild links oben), in der Trockenzeit so heiss, dass kaum jemand in der Mittagszeit auf der Straße zu sehen ist. Dann geht man am besten in die kleine Kathedrale und bewundert die grauenhaften frommen Bilder (Bild oben, ganz rechts). Ich brauchte lange, um eine billige Absteige zu finden. Das lag nicht daran, dass es keine gab, sondern dass die ungern ausländische Reisende aufnehmen, weil die meistens kein Spanisch können und offenbar nur Scherereien machen. Oder einen Komfort verlangen, den man nicht bieten kann. Nach zwei Stunden Plauderei mit einer dicken Dame und deren Ehemann hatte ich aber dann doch Erfolg. Das Zimmer der Herberge besass kein Fenster und war kaum grösser als das Bett. Es wohnten mehrere Familien dort, und man bekam alles, auch das Unangenehme, hautnah mit (Bild links, 2.v.o.). Aber die daily soap nahm ich für umgerechnet drei Euro gern in Kauf.

Ich trieb mich tagelang auf dem Markt herum und beobachtete die Leute und ihr Treiben. Eine Woche dauerte es, bis ich herausgefunden hatte, wo die Gesellschaft saß, die ein Boot den Orinoco aufwärts nach San Fernando de Atabapo "fahren" ließ. Lastwagenfahrer nahmen mich mit in die Vorstädte, und ich genoss es, an der einzigen Verkehrsampel der Stadt im Stau stehen zu müssen (Bild oben, 2.u 3.v.l.). In einer Seitenstraße betrieb ein trauriger Deutscher eine Art Reisebüro, das "Dschungeltouren" anbot. Das Publikum war jedoch ausgeblieben. Zwei Tage saß ich in der Stadtbibliothek, wälzte Bücher über die Kolonialzeit, studierte im Museum indianische Architektur (Bild oben, 2.v.r.). In den Konquistadoren tauchen die Hütten, deren Modelle ich dort sah, wieder auf...

Liebe geneigte Leserin, lieber wohlwollende Leser! Über eine Woche in einer Kleinstadt am Orinoco kann man 200 Seiten schreiben. Dazu ist Burks' Weblog nicht da. Nein, es ist alles ganz egoistisch gemeint: ich brauche nur Stichworte, und ich erinnere mich an vieles. Jeder Schriftsteller schreibt nur für sich selbst. Daher nur eine Episode, die das Gefühl des Reisens beschreiben könnte. In jedem Ort am Gesäß der Welt begegnen sich die Fremden - die Reisenden und die Gestrandeten - automatisch. Und so trafen sich alle, die nicht zu den Eingeborenen Puerto Ayacuchos gehörten, jeden Abend in einer Kneipe ein paar hundert Meter von der Plaza entfernt. Ein Belgier, der seit Kriegsende dort lebte und der mit mir aus Gründen, die ich ahnte, kein einziges Wort reden wollte. Eine Belgierin, die immer barfuss lief und davon lebte, Ketten und Armbänder zu verkaufen, mit der aber ebenfalls kaum zu reden war, weil sie nichts zu sagen hatte und auch von den Gegenden, durch die sie gereist war, nichts zu erzählen wusste. Mit Belgierinnen habe ich ohnehin kein Glück...

Ein paar Kolumbianer, die über die Faulheit der Venezolaner fluchten. Ein Ingenieur aus Konstanz, der jeden Erdhügel in Afrika kannte, weil er zwanzig Jahre dort herumgereist war. Nur dass er jetzt eine Venezolanerin geheiratet hatte, und seine Schwiegereltern verlangten, er solle das Land seiner Frau kennenlernen. Ein junger Schweizer mit sehr kurzen Haaren, der uns verriet, dass er vor der Reise noch Punk gewesen war - und von Beruf Heizungsmonteur. Ich versuchte den Kolumbianern zu erklären, was das war - sie verstanden es nicht. Ausserdem lachten wir Europäer uns über das Thema halb tot, weil es auch nach Sonnenuntergang noch über dreißig Grad warm war.

Ein älterer Italiener, der irgendwie keine Sprache ausser italienisch sprach und von dem niemand wusste, wie er den Weg an den Orinoco gefunden hatte und der immer vor sich hin brabbelte. Er wollte wohl nach Peru, aber wir waren uns nicht sicher, ob er überhaupt wusste, wo das lag. Er hing an mir eine Klette, bis ich ihm eine Route vom Süden Venezuelas über Manaus bis nach Iquitos beschrieben hatte - auf einem Bierdeckel, den er anschliessend stolz an sich nahm. Wir anderen schauten uns vielsagend an: wir hielten ihn für verrückt.

Was ist Reisen? Reisen ist, wenn der Mond scheint, die Grillen zirpen, warme Luft um die Nase streicht, ein Dutzend aufgeräumter Menschen am Tisch sitzt, jeder ein Bier in der Hand hält und alle sich in spanisch, englisch, italienisch, französisch und deutsch unterhalten, am besten in allen Sprachen gleichzeitig. Und ein deutscher Ingenieur einem eine halbe Stunde lang detailliert erklärt, wie man am besten von Eritrea zur Sinai-Insel kommt. Und wenn sich das in Puerto Ayacucho am Orinoco in Venezuela ereignet...

Dann war es soweit. Morgens um fünf wartete ich vor meiner pension auf den Transport nach Süden, den Orinoco hinauf. Das Kreuz des Südens über mir drehte sich fast so schnell, dass ich ich die Bewegung verfolgen konnte. Dann kam ein Lastwagen voller Leute. Ich warf meinen schweren Rucksack und kletterte selbst hinauf. In meiner Geschichte Der gottverlassene Landstrich schrieb ich später2:

Oberhalb der großen Katarakte fanden wir längs des Orinoco auf einer Strecke von 450 km nur drei christliche Niederlassungen, und in denselben waren kaum sechs bis acht Weiße, das heißt Menschen europäischer Abkunft. Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten einst Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben.

Wuchtiger Granit, von der stillen Kraft der Strömung rund geschliffen, versperrt den Weg. Den Orinoco aufwärts, oberhalb der unpassierbaren Stromschnellen: Die Trockenzeit hat den Pegel so weit fallen lassen, daß schwarze Felsbrocken sich unerwartet dort auftürmen, wo man vor einigen Tagen noch ohne Mühe passieren konnte. Der indianische Kapitän strahlt über das ganze Gesicht: Er darf zeigen, daß er jeden Quadratmeter des Flusses kennt. Das Steuer abrupt nach links und rechts, Außenbordmotoren röhren, die Passagiere stöhnen auf, die Bugwelle klatscht an die vorbeihuschenden Felsen, gerettet.

Wer von Puerto Ayacucho, der quirligen und stickigen Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, nach Süden reisen will, muß zunächst mit einem Lastwagen vorliebnehmen. Der bringt ihn an den Katarakten vorbei an den Oberlauf des Orinoco. Die Straße endet abrupt im Fluß. In einer Bretterbude verkaufen zwei Frauen gekühlte Getränke. Ein einsamer Ventilator surrt aufgeregt, aber vergeblich gegen die Hitze. Umsteigen in ein hoffnungslos überladenes Schnellboot. Die Fahrt nach San Fernando de Atabapo im tiefsten Urwald Venezuelas dauert vier Stunden.

Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört...Krokodile und Boa sind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecari, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; sie hausen hier wie auf einem angestammten Stück Erde.

Das schrieb Alexander von Humboldt im April 1800, als er und sein Gefährte Bonpland im Auftrag der spanischen Krone die Region erforschten. Humboldt bewies, daß zwischen den größten Flußsystemen Südamerikas eine Verbindung besteht. Der Cassiquiare, den Humboldt als erster Europäer befuhr, zweigt vom Orinoco ab, östlich von San Fernando de Atabapo, und ergießt sich zwei Tagesreisen mit dem Kanu weiter südlich in den Rio Negro. Der wiederum mündet bei Manaus in den Amazonas. Das Gebiet am Oberlauf des Orinoco ist weitgehend unerforscht und gilt als letzte Heimstatt indianischer Völker, die sich dem Kontakt mit der Zivilisation weitgehend verweigern. Die Schilderungen Humboldts, ab 1805 unter dem Titel "Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents" veröffentlicht, können noch heute als Reiseführer dienen.

Auf beiden Seiten lief fortwährend dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Osten schienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen an einer merkwürdig gestalteten Insel vorbei. Ein viereckiger Granitfels steigt wie eine Kiste gerade aus dem Wasser empor; die Missionare nennen ihn El Castillito.

Als ich den Felsen vor mir sah, war ich glücklich. Was gibt es Schöneres, als in den Fussstapfen berühmter Forscher zu gehen - und sie noch zu erkennen! Nach vier Stunden im Boot tauchten die Häuser von San Fernando de Atabapo auf. Der Ort hat keine Hafen, dazu ist er zu klein. Die Boote legen einfach irgendwo an. (Bild links, ganz unten). Hier war ein mythisches Dreieck: der Zusammenfluss des Rio Atabapo, der aus Brasilien kommt, des Rio Guaviare, der in den kolumbianischen Anden entspringt und des Orinoco, dem grössten Fluss Venezuelas und zweitgrössten ganz Südamerikas. Hier hatte also Humboldt erforscht, dass der Amazonas mit dem Orinoco verbunden ist...

1) In der extremen Trockenzeit sind die Fälle nur schwer aus der Ferne auszumachen.
2) brauner Text: Originalzitate von Alexander von Humboldt

Zum Vergrössern auf die Bilder klicken!

[Latinoblog 1: Venezuela 1] Die Mädchen von Coro
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01.07.2003
©BurkS

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