In Second Life ist fast alles möglich: Man kann als Roboter oder Fuchs herumlaufen, das Geschlecht wechseln oder in Läden animierte Penisse und Vaginen einkaufen. Der wahre Zweck der 3D-Welt ist jedoch die Kommunikation. Und die funktioniert nicht ohne die Option Sex. In der Imagination und in der Praxis vieler Nutzer beginnen Realität und Simulation schon zu verschmelzen.
Der Avatar - der "Herabgestiegene" - kommt nach dem Willen seines Schöpfergottes Philip Rosedale als Mann oder Frau auf die Welt, aber ohne die Körperteile, die die Evolution zur Vermehrung vorgesehen hat. Das Problem regelt auch im digitalen Kapitalismus der Markt: Sex ohne Penis wäre zwar für den männlichen Avatar denkbar, der Akt als Wille und Vorstellung, aber man hilft der Phantasie gern nach. Das Angebot, das der Nachfrage folgt, ist daher reichhaltig: Das Sex-Business in Second Life gruppiert sich um Läden für "Human Body Parts", Billigpenisse und Vaginen inbegriffen. Anspruchsvolle Cybersexer geben gern mehrere reale Dollar für luxuriösere Varianten aus - koloriert, prompte Reaktion und Animation per Mausklick, dazu den einschlägigen Sound, den man aus Pornofilmen kennt.
Auf den ersten Blick ist Cybersex in Second Life einfach: Die für die geschlechtliche Vermehrung notwendigen Bewegungen, Posten und Gesten, die simuliert werden sollen, sind per default nicht implementiert. Das, was die Evolution in der Natur automatisch mitliefert, inklusive der Instinkte, muss in digitalen Welten von Programmierern extra angefertigt werden. Die Scripte, die Avatare zum Beispiel die Missionarsstellung vollführen lassen, können in Second Life in beliebige Objekte eingebaut werden. Als Standard haben sich so genannte "Poseballs" durchgesetzt, jeweils zwei Kugeln in rot und blau, die ein Avatar-Paar per Mausklick eine der gängigen sexuellen Positionen vollziehen lassen. Der digitale Mensch kann sich dazu der Kleidung entledigen und chatten oder per Voicefunktion unterhalten. Wer die dazu nötigen Lindendollar besitzt, die interne und in reale Dollar umtauschbare Währung, kann sich Sex-Möbel kaufen, die mit Menü-gesteuerten Scripten ausgestattet sind, die die entsprechenden Poseballs für alle denkbaren Sex-Stellungen auf Wunsch ausklappen. Ein Bett für virtuellen Sex kann bis zu 40 reale Dollar kosten.
Die Ökonomie der Körperteile und anderer Sex-Accessoires ist weitaus differenzierter als in der Realität, da auch Phantasien bedient werden, die den Obsessionen der puritanischen nordamerikanischen Kultur entsprungen sind oder dort erlaubt, aber in anderen Ländern verboten sind. Sex mit Tieren ist zum Beispiel im US-Bundesstaat Washington ungestraft möglich. Kinderpornografie ist in den USA - im Gegenstz zu Deutschland - dann nicht strafbar, wenn es sich um Abbildungen handelt, "die keine reale oder keine mit einer realen Person identifizierbare Person zeigen". Das träfe auch auf Avatare zu.
Verkauft werden nicht nur virtuelle Geschlechtsteile für Menschen, sondern Tier-Avatare und deren Körperteile, Scripte, die Avatare durch Folter "sterben" lassen können, wie in einigen BDSM-Sektionen in Second Life praktiziert, spezielle Avatar-Posen für die Kajirae, die Sklavinnen der Gor-Fans, Poseballs für die Schwulen- und Lesben-Communities, unsichtbare Attachments, bei deren Berührung durch Mausklick sich für den Sex-Partner ein Menü mit zahlreichen Möglichkeiten öffnet, bei Produkten des Marktführers Xcite mit eingebauten "Orgasmus-Fortschrittsbalken", der, erreicht er den Sollstand, den Avatar sich einschlägig bewegen lässt, ohne dass der Besitzer real agieren müsste.
Auf den zweiten Blick ist Sex in Second Life eine höchst komplizierte Angelegenheit, deren Details sich einem oft erst nach mehreren Monaten erschließen. Berichte mit kulturpessimistischer Attitude, deren Verfasser nur kurz über den Einführungs-Parcours ins virtuelle Leben stolpern und überall gähende Leere vorfinden, sind ungefähr so realistisch wie das Vorhaben "Europe in 10 days" einer japanischen Touristengruppe. Scheinbar attraktiv, vor allem für die Medien, ist selbstredend "öffentlicher" Sex in so genannten "Orgy rooms", weil in der Realität so nicht möglich. In Wahrheit spielt sich Cybersex in Second Life zu einem großen Teil im "Privaten" ab oder in geschlossenen Arealen, für die man komplizierte Zugangs-Initiationsriten vollziehen muss, etwa bei den Rollenspielen der Gor-Community, also nicht anders als im realen Leben auch.
Dennoch werden Second Life und andere 3D-Welten die Moral der Realität tiefgreifend verändern. Viele Nutzerinnen und Nutzer können und wollen schon heute "Real Life" und Simulation nicht mehr trennen. Wall Street Journal Online publizierte im August 2007 eine Reportage über einen Mann, der in eine Ehekrise schlitterte, weil seine Gattin irtitierte, dass er sich in "Second Life" mit einer anderen Frau verheiratete. Viele Nutzer meinen mittlerweile, dass virtuelle Freundschaften, wenn sie nicht ohnehin irgendwann in die Realität übergreifen werden, vergleichbar intensiv seien als die in ihres wirklichen Lebens. "Virtual worlds like Second Life have fast become a testing ground for the limits of relationships, both online and off."
Für die sexuelle Phantasie und die Emotionen ist der aktuelle visuelle Standard ausreichend ("Sex in Second Life, Teil 1: "Der verliebte Avatar"), obwohl Second Life weit hinter den technischen Möglichkeiten heutiger digitaler Welten hinterherhinkt. Alexandra Alter vom WSJ Online schreibt über Experimente, die sich mit der visuellen Reaktion auf Avatare in virtuellen Welten beschäftigen: "Other experiments show that people socializing in virtual worlds remain sensitive to subtle cues like eye contact. In one study, participants moved their avatars back if another character stood too close, even though the space violation was merely virtual, says Jeremy Bailenson, director of Stanford's Virtual Human Interaction Lab, which was created five years ago to study social behavior in virtual worlds. Prof. Byron Reeves vom Center for the Study of Language and Information der Stanford University wird mit den Worten zitiert: "Our brains are not specialized for 21st-century media (...) There's no switch that says, 'Process this differently because it's on a screen.'"
Deutlich wird das bei denen, die in Second Life professionelle sexuelle Dienstleistungen anbieten, den Cyberhuren, "Escorts" genannt. Unstrittig ist Erotik eine Sache der Phantasie; Männer reagieren traditionell eher auf optische Reize, Frauen bevorzugen beim Cybersex eher die Kommunkation ("dirty talk"). Virtuelle Prostitution bedeutet nichts anders als Telefon- oder Chatsex gegen Geld, unterstützt durch grafische Animationen.
Huren trifft man in den so genannten "Red Light Districts", in Clubs, die über die Suchfunktion als solche gefunden werden können oder öffentlichen Sex-Räumen oder Swingerclubs - dort werden sie aber häufig von deren Besitzern wieder verbannt, weil ihr Anliegen der Idee des "free sex" widerspricht. Prostituierte, die für sich und ihr Angebot werben wollen, stellen das, inklusive Preistafel, in ihre Profil, das jeder Avatar per Mausklick bei jedem aufrufen kann.
Das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist gnadenlos: Der Erstkontakt ist immer visuell. Neulinge mit Standard-Avataren, die als solchen erkennbar sind, haben so gut wie keine Chance, zu Geld zu kommen. Die Konkurrenz ist riesig: In den bekannteren Treffpunkten kommen meistens ein Dutzend Avatarinnen auf einen oder zwei potenzielle Kunden. Je "realistischer" der Avatar, um so leichter werden sexuelle Phantasien angeregt. Wer das nicht will, zahlt nicht für Cybersex, sondern benutzt die virtuellen Swingerclubs.
Um auszuschließen, dass sich hinter einer Avatarin ein realer Mann, verbirgt, bieten viele Cyberhuren gegen Aufpreis Voicechat oder Skype an oder handeln mit ihren realen Bildern, die sie dem potenziellen Freier zukommen lassen. In den einschlägigen Etablissements hängen Avatar-Portraits virtueller Prostitutierter neben realen Bildern von Frauen, die als Avatar dem horizontaten Gewerbe nachgehen. Schon jetzt ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, ob es sich um ein reales Foto oder um das eines Avatars handelt.
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Die Authentizität der Fotos aus dem realen Leben ist aber nur scheinbar vom Vorteil: Diejenigen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprechen, müssen diesen "Mangel" durch Exklusivität des Avatars und dessen ausgefeiltes Styling wettmachen. Das ist durchaus technisch anspruchsvoll: Selbst erfahrene Second-Life-User benötigen mehrere Tage Arbeit, um Gesicht, Haut, Körper und Haare so zu modellieren, dass diese realistisch und im Sinne der Besitzerin schön aussehen. Selbst im Eigenbau kostet das Outfit einer virtuellen Schönheit dann schnell 50 reale Euro, inklusive Kleidung und "Ausrüstung" wie Sex-Attachments. Mitch Wagner hat einer "virtual madame" das hübsche und sicher realistische Statement entlockt: "One learns a lot about the truth of of human nature from charging guys to pay for cartoon sex, and then watching them flock to it. 99% of people will tell you that they are against pornography, and yet it's 40% of online activity. The whole thing is pretty ridiculous, really."
Eine attraktive Prostituierte verlangt für eine Viertelstunde Cybersex umgerechnet zwei Euro - selbstverständlich gegen Vorkasse in Lindendollar, denn jeder Avatar kann sich jederzeit überall hin"beamen", ohne gefunden zu werden - auch die Cyberhure. Das bedeutet: Die Avatare, die handelseinig werden, müssen einen Ort suchen, der die gängigen Sex-Animationen entweder in Form der Poseballs oder animierter Möbel anbietet. Daher haben viele Landbesitzer virtuelle Stundenhotels mit demensprechender Einrichtung etabliert; Avatare müssen für eine bestimmte Zeitspanne Miete zahlen, um sich dort aufhalten zu können. Oft sind das so genannten "Skyboxen", abgeschlossene Räume, die in so großer Höhe liegen (Second Life kennt keine Gravitation), dass Avatare ohne Hilfsmittel dorthin nicht fliegen und sich als Voyeure betätigen können, sondern dorthin mit Erlaubnis des Besitzers "teleportiert" werden müssen.
Professionelle Huren besitzen in der Regel eigene Räume, inklusive realen Pornofilmen, die in dazu programmierte "Fernseher" hochgeladen werden und dann abgespielt werden können. Animierte animierten Duschen und andere Möbelstücke, auf denen Sex denkbar ist, sind fast schon Standard, ebenso eine großer Auswahl virtueller Kleidung für jede erdenkliche Form des Rollenspiels. Wer mehrere Sprachen spricht, ist im Vorteil. "Dirty talk" in einer Fremdsprache ist naturgemäß schwierig, weil man dazu mehr als das verstehen und sprechen muss, was sich im Vokabular eines Wörterbuchs findet.
Viele Second-Life-Huren, vor allem "Freelancer", bieten Service für beide Geschlechter an, schreiben zum Beispiel Blogs und kombinieren den Service in Second Life samt Avatar mit dem World Wide Web oder der Webcam – oder mit Hardware wie Dildos, die sich über das Internet steuern lassen. Nützlich für bezahlten Cybersex sind reale Erfahrungen im horizontalen Gewerbe: Tabatha C. (Avatarname) aus Kassel etwa, Mutter zweier Kinder, ist schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr als Hure aktiv. In Second Life aber ist sie wieder "rückfällig" geworden, täglich mehrere Stunden online und verfügt über einen großen Verteiler virtueller "Stammfreier". Annette A. aus Hamburg, nach eigenen Angaben 23 Jahre alt und Studentin, bietet für knapp drei Euro in ihrem privaten Raum 15 Minuten Cyber-Tanz mit ausgefeilter Animation, passende Musik und Sex-Service je nach Wunsch und Aufpreis. Dazu kommen zahlreiche Avatare, die Sex für Geld gelegentlich benutzen, um ihr Konto aufzubessern.
Ohne Zweifel ist Second Life mittlerweile der größte 3D-Treffpunkt einsamer Herzen, sicher auch für die, die sich im realen Leben zu kurz gekommen fühlen. Nicht zufällig entdeckt man, aber erst nach längeren und intensiven Kontakten, dass sich hinter einigen hübschen Avataren Behinderte, Rollstuhlfahrer oder Menschen verbergen, die in der Realität nur selten das Haus verlassen können. Anne Machalinski, Aili McConnon and Christy Nicholson, "embedded reporters" zum Thema "Sex in Second life", schreiben: "How many people outside of SL have all of the freedom to explore their every sexual whim or craving, all the physical qualities they really want, all of the sex play they really want, and all of the partners they really want? THAT is what sex in SL is all about. It's no guarantee you'll realize every fantasy you have in SL but the potential to do it is always there."
Auch wenn Second Life kein Spiel ist - dazu bedürfte es eines Spielziels und eventuell einer Entwicklung der Charaktere -, es antizipiert mit der Unverbindlichkeit des Spiels Verhalten und deren Normen und stellt diese gleichzeitig in Frage. Gleichzeitig fordert Second Life den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Kulturen, wie man sich näher kommt und sich über intime Dinge einig wird: Weltweit, über Sprachbarrieren hinweg, ohne ökonomischen Zwang und ausnahmslos im gegenseitigen Einvernehmen - Sextourismus einmal ganz anders.
Dieser Artikel erschien am 21.10. in Telepolis. Die hiesigen wohlwollenden Stammleserinnen und geneigten Stammleser bekommen auch diejenigen Screenshots zu sehen, die bei Telepolis nicht publiziert werden konnten. |