Lagebericht

Jerusalem

Ich darf die geschätzte Leserschaft auf meinen Telepolis-Artikel aufmerksam machen: „Lagebericht aus Israel: „Wir sind im Krieg“.

De Artikel wurde ein bisschen verändert, und ich war einverstanden. Da bin ich schmerzfrei. Ich war gerade zu Fuß unterwegs am Old Wingate Place in der German Colony und vorher am Präsidentenpalast vorbeigelaufen, ohne das geplant zu haben. „Terroristen“ ist nicht „neutral“ genug. Die BBC nutzt den Begriff auch nicht. Das wäre mir egal, weil Terroristen eine Tatsachenbehauptung ist und unstrittig. Was soll man sonst sagen? Militante? Ich bin auch militant. Auch „Palästinenser“ benutze ich nicht, aber warum, versteht der deutsche Durchschnittsleser sowieso nicht.

Ich habe dann mit dem Chefredakteur von Telepolis eine Videokonferenz per Signal abgehalten auf einer Parkbank, um eine Übereinkunft zu erzielen. Das ist schon trés chic. Das hätte mir jemand vor 30 Jahren sagen sollen, was heute möglich ist.

Jerusalem

Denkmal für die Davidka, ein selbst gebauter Mörser während des Unabhängigkeitskrieges, Davidka Platz (Davidka Square)




Unter abschaumigen Dumpfbacken

randale Neukölln Silvester
Screenshot: Die Gesetzlosen, „Achtung, Reichelt!!

Es dünkt mich, das Publikum verlangte, die Qualität des Blogs deutlich zu steigern , also die Zahl spärlich bekleideter Damen auf das Notwendigste zu reduzieren. Natürlich kann man randalierende junge Männer in Großstädten divers verschieden diskutieren. Unter uns Marx-Kennern: Ja, auch das könnte in die Rubrik „Klassenkampf“ eingetütet werden, aber nur „könnte“.

Wir hatten das vor uralten Zeiten in Kreuzberg: Schon 1997 hatte „die Eskalation der Gewalt eine völlig neue Qualität erreicht“. (Der Textbaustein ist wiederverwendbar.)

Zu meiner Überraschung sagte Güner Balci, die „Integrationsbeauftragte“ von Berlin-Neukölln, genau das, was ich gestern hätte schreiben sollen: „Das sind totale Dumpfbacken“. Aber solche reihten sich schon vor einem Vierteljahrhundert in die ursprünglich politisierte Randale am 1. Mai ein, bis jeder nur noch von „Randale-Touristen“ sprach und die Kreuzberger die Schnauze voll hatten.

Einige der Personen kenne sie persönlich. Es handle sich dabei um „hoffnungslos Abgehängte“. Diese hätten, auch wegen sozialer Medien, anders als vor 20 Jahren aber eine hohe Deutungsmacht. Dennoch seien sie „platt gesagt: absolute Loser“, bei denen auch Drogen eine Rolle gespielt hätten.

Der Grund für die rohe Gewalt gegen die Helfer sei allerdings kein durchdachtes Agieren, sondern vielmehr ein Reflex, erläuterte Balci: „Die sind vom Staat und wir sind gegen die.“

Inszenierten sich die Jugendlichen als „harte Möchtegern-Gangster gegen die Polizei“, erhöhe das ihre Glaubwürdigkeit auf der Straße. „Es ist ihr Geschäftsmodell, auffällig zu sein und Ärger zu machen.“

Diese Klientel kenne ich zu Genüge aus der Notaufnahme in Kreuzberg als „Störer“, wie wir von der Security sie nannten. Ahmad Mansur wird in demselben Artikel zitiert: „In Berlin gibt es Gruppen von Jugendlichen, die den Staat als sehr schwach wahrnehmen, weil sie selbst aus sehr patriarchalen Strukturen kommen. Einige haben in ihren Heimatländern einen Polizeistaat erlebt und nehmen die demokratische Polizei als schwach wahr und suchen Streit und Kontakt mit diesen schwachen Polizisten“, sagte Mansour. Auch andere Einsatzkräfte wie die Feuerwehr würden als Vertreter des Staats wahrgenommen und verachtet.“

Das sind doch klar und wahre Worte. Leider sind sowohl Balci und Mansur mehr oder weniger allein auf weiter Flur, weil insbesondere die „Grünen“ als auch die „Linken“ das anders sehen bzw. am liebsten gar nicht hingucken wollen. Sobald man mit denen anfängt zu diskutieren, wird man mit Whataboutismen bombardiert, die Nazis seien viel schlimmer. Auch die Qualitätsmedien, insbesondere der lokale RBB, hielten sich auffallend zurück. Man gewann den Eindruck, dass sie die üblichen Verdächtigen von der so genannten arabischen Allee Sonnenallee und der Hermannstrasse am liebsten als „Jugendliche“ betitelt hätten. Keinesfalls darf erwähnt werden, dass die auch fast alle Türkisch oder Arabisch sprechen, aber ausnahmslos nie Japanisch oder Hindi oder Urdu oder eine skandinavische Sprache.

Ich darf an das Jahr 2007 erinnern. Damals schrieb ich hier zum Thema „Gewalt ist geil“. Und 1998: „Die Bösen sind die anderen“. Erstaunlich, wie der aktuell der Artikel von damals ist – man müsste nur ein paar Worte ändern, und er könnte heute publiziert werden:

Die Lobbyisten der Berufs-Betroffenen (Helfen und Heilen) reden über Gewalt mittels Jugendlicher. Die können nichts dafür, daß sie so sind. Die Gesellschaft will sie wiederhaben. Die Lobbyisten der harten Hand (Strafen und Einsperren) rufen: die Obrigkeit muss gegen das Böse härter durchgreifen! (…) Mit der ganzen (nicht etwa der halben!) Härte des Gesetzes gegen Chaoten vorgehen usw. Die Bösen, die hier gemeint sind, können etwas dafür, dass sie so sind. Die Gesellschaft will sie nicht mehr. Sie sind Psychopathen – „hirnverbrannte Schläger“. Drogenmissbrauch führt zu Hirnschäden.

Wozu dient der Gewalt-Diskurs? Er verschafft der Gesellschaft Angstlust wie der Horrorfilm: Ohne Gewalt weiß niemand, was das Gute ist. Gut ist: Wollen wir mal darüber reden, mit einer Kerze in der Mitte. Runder Tisch. Reden ist erlaubte Gewalt, die Fortsetzung des Hooliganismus der Randale zu Silvester mit anderen Mittel. (…). Reden heißt: der Sozialarbeiter zwingt dem Schläger sein Spiel und seine Regeln auf. Du musst dich der Gruppe anpassen. Wo kämen wir denn hin. Wenn du es zu etwas bringen willst, musst du das tun und jenes lassen. Der Arbeitsmarkt im Kapitalismus belohnt dich dafür, dass du kein Warlord bist. Geld, Frauen, Liebe und Prestige sollen die kompensatorische Gratifikation für Gewalt sein.

Wer Macht hat, redet nicht über Gewalt. Die Herrschenden können andere beauftragen, Gesetze zu erlassen, die die Beherrschten zwingen, ihren Wünschen nachzukommen (…) Wer über Gewalt kommuniziert, demonstriert, dass er selbst über nur begrenzte Macht verfügt. Man will, dass die, die den eigenen sozialen Status potentiell bedrohen, sich an Regeln halten, die man selbst aufgestellt hat. Nur die Mittelschichten fordern von allen anderen, sich an Regeln zu halten, weil sie „Angst vor dem Absturz“ (Barbara Ehrenreich) haben. Wer aufsteigen will, muss die Werte der Gesellschaft verinnerlichen und sich selbst kontrollieren. Beherrsche dich, und nicht etwa andere! Der soziale Aufsteiger ist gegen Gewalt, weil Gewalt archaisch ist und die Regeln, die ihm ein gesichertes Leben ermöglichen, ad absurdum führt. Der klassische Radfahrer tritt nach unten, aber fordert gleichzeitig, dass die da oben das nicht tun. Sie sollen ihn dafür belohnen, dass er sich an die Regeln hält.

Gewalt ist eine Ikone, ein sinnliches, also medial vermitteltes Bild eines Phänomens, das unterschiedliche Gruppen jeweils verschieden wahrnehmen und interpretieren. Hooligans Dumpfbacken finden Gewalt geil. Sie verschafft ihnen alles, was das Leben versprechen kann: Körpergefühl, Überschreiten der Grenzen, Macht, Gruppendynamik, Thrill. Ein Trip ohne psychotrope Hilfsmittel.

randale neukölln silvester
Screenshot: Die Gesetzlosen, „Achtung, Reichelt!!




80 Mal Nitro oder: Medienkritik unter beleidigten Leberwürsten [Update]

nitro

Das neue „Nitro“-Magazin ist da – die 80-ste Ausgabe. Ich war Chefredakteur von 2004 bis 2007. Darin ein vierseitiger Artikel von mir: „Medienkritik unter beleidigten Leberwürsten“ (hier als Service für die Leserschaft als pdf).

Update: Das pdf ist korrigiert und jetzt vollständig.

nitro




Alles offensichtlich

vomitating
Leser deutscher Tageszeitungen nach dem Lektüre der aktuellen Kriegspropaganda und anderer Themen (Symbolbild). Credits: umryfame/Wikipedia

China

„Ich sage nur China, China, China!“ (Kurt Georg Kiesinger 1969)

„Die demokratischen Staaten sollten sich gegen die immer aggressivere Politik von Xi Jinping gemeinsam wappnen. Sie tun das Gegenteil – Deutschland vorneweg.“ Immerhin ist das Elaborat als „Kommentar“ gekennzeichnet. Was interessiert mich die Meinung eines Journalisten, der chinophobe (gibt es das Wort) Propaganda as usual verbreitet? (Es fehlen noch „die Uiguren“.) Und wer ist mit „demokratische Staaten“ gemeint? Der US-Imperialismus? Erdogan? Unser Handelspartner Saudi-Arabien? Immer aggressiver? Seit wann? Und vor allem: Gegen wen?

„Der Westen“ ist nicht das Maß aller Dinge, und die Chinesen haben das sehr gut verstanden. Man kann sogar darüber streiten ob es besser ist, sich von einem Ausschuss, der die Geschäfte der Bourgeoisie organisiert, regieren zu lassen, oder ob es nicht vernünftiger sei, dass die politische Elite sich zunächst in der Praxis bewähren muss, wie im alten Rom, bevor man zu einem politischen Amt greifen kann, und dass „Demokratie“ auch ein Einparteiensystem sein kann.

Die Herren exportieren deutsches Wesen
zu den Chinesen!
Zu den Chinesen!
(Stefan Heym)

Ukraine

„Russlands Nachschubprobleme in der Südukraine offenbar verschärft“. Offenbar. Vermutlich. Vielleicht. Oder auch nicht. Einzige Quelle: Britischer Geheimdienst – dann muss man es drucken.

„Deutschland will dem Vernehmen nach rund 5.000 Soldaten schulen“. (Was bedeutet „dem Vernehmen nach“? Hat irgendjemand gesagt, aber wir wissen nicht wer?) In was denn? Wie man gendergerechte Toiletten benutzt?

„Nato beginnt am Montag Verteidigungsübung mit Atomwaffen.“ Das hat natürlich gar nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Für was üben die denn? Wie man am schnellsten Jod-Tablette schluckt oder sich eine ABC-Plane, die bekanntlich gegen Atombomben schützt, über den Kopf zieht?

Die pöhsen Drogen

„Auch in Berlin sterben wieder mehr Männer und Frauen an harten Betäubungsmitteln, oft an einer Heroin-Überdosis. Doch immer weniger Süchtige sind in Therapie.“ Das, Tagesspiegel, ist grober Unfug. Warum habe ich eigentlich ein Buch (1993!!) darüber geschrieben? Damit ihr die abgelutschten Sprechblasen aus den 80-ern jetzt wiederholt? Therapie heilt von Heroin? Ach was. Irgendwelche Statistiken, ob das stimmt? Habt ihr nicht? Dachte ich mir. By the way: Ich habe damals alles, was nötig ist, gesagt und geschrieben. Allein schon das Wort „Entgiftung“ ist so „neutral“ wie ein beliebiges Statement Melnyks. Alkohol ist Gift, Heroin jedoch nicht. Keine Ahnung, aber um so lauter herumjaulen…




Teuflische Allmacht

telepolis

Ein Artikel von mir in (auf?) Telepolis: „Rückblick auf 2.000 Jahre christlichen Antijudaismus. Bug oder Feature der dominierenden abendländischen Religion?“ Der Text bezieht sich auch auf die in Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus genannten Quellen.




Archie oder: Das Einstein-Bose-Kondensat

das Einstein-Bose-Kondensat

Bei Heise las ich: Das Bose-Einstein-Kondensat (BEC), auch als der fünfte Aggregatzustand bekannt, sind gasförmige Wolken aus Atomen, die sich nicht mehr wie einzelne Atome verhalten, sondern so, als befänden sie sich in einem Kollektiv. Die meisten Teilchen sind dabei im selben quantenmechanischen Zustand. BECs wurden zum ersten Mal vor über 95 Jahren von Albert Einstein und Satyendra Nath Bose beschrieben und doch erstmalig erst vor gerade einmal 25 Jahren in einem Labor von Forschern beobachtet.

Das erinnerte mich an etwas. Vor langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat usw….

Ich habe die Links auf der letzten Seite – der Auflösung des Rätsels – aktualisiert. Die müsst ihr schon selbst finden, aber nicht mit Archie! (Für die Nachgeborenen: Google gab es erst ein Jahr später.)




Vorschau: 50-Jähriges

waz

Erinnert mich daran, dass ich im November 50-jähriges Berufsjubiläum habe! Von den Honoraren konnte man damals schon nicht leben. (Und auch meinen Vornamen konnten damals schon einige Kollegen nicht richtig schreiben.)




Der gottverlassene Landstrich, revisited

Dieser Text erschien am 19.9.97 im Berliner Tagesspiegel – leider erheblich und sinnentstellend gekürzt.

San Fernando de Atabapo
San Fernando de Atabapo im venezolanischen Bundesstaat Amazonas (obwohl der Ort am Orinoco liegt).

Oberhalb der großen Katarakte fanden wir längs des Orinoco auf einer Strecke von 450 km nur drei christliche Niederlassungen, und in denselben waren kaum sechs bis acht Weiße, das heißt Menschen europäischer Abkunft. Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten einst Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben. (Alexander von Humboldt)

Wuchtiger Granit, von der stillen Kraft der Strömung rund geschliffen, versperrt den Weg. Den Orinoco aufwärts, oberhalb der unpassierbaren Stromschnellen: Die Trockenzeit hat den Pegel so weit fallen lassen, daß schwarze Felsbrocken sich unerwartet dort auftürmen, wo man vor einigen Tagen noch ohne Mühe passieren konnte. Der indianische Kapitän strahlt über das ganze Gesicht: Er darf zeigen, daß er jeden Quadratmeter des Flusses kennt. Das Steuer abrupt nach links und rechts, Außenbordmotoren röhren, die Passagiere stöhnen auf, die Bugwelle klatscht an die vorbeihuschenden Felsen, gerettet.

Wer von Puerto Ayacucho, der quirligen und stickigen Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, nach Süden reisen will, muß zunächst mit einem Lastwagen vorliebnehmen. Der bringt ihn an den Katarakten vorbei an den Oberlauf des Orinoco. Die Straße endet abrupt im Fluß. In einer Bretterbude verkaufen zwei Frauen gekühlte Getränke. Ein einsamer Ventilator surrt aufgeregt, aber vergeblich gegen die Hitze. Umsteigen in ein hoffnungslos überladenes Schnellboot. Die Fahrt nach San Fernando de Atabapo im tiefsten Urwald Venezuelas dauert vier Stunden.

Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört… Krokodile und Boa sind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecarim, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; sie hausen hier wie auf einem angestammten Stück Erde.

Das schrieb Alexander von Humboldt im April 1800, als er und sein Gefährte Bonpland im Auftrag der spanischen Krone die Region erforschten. Humboldt bewies, daß zwischen den größten Flußsystemen Südamerikas eine Verbindung besteht. Der Cassiquiare, den Humboldt als erster Europäer befuhr, zweigt vom Orinoco ab, östlich von San Fernando de Atabapo, und ergießt sich zwei Tagesreisen mit dem Kanu weiter südlich in den Rio Negro. Der wiederum mündet bei Manaus in den Amazonas. Das Gebiet am Oberlauf des Orinoco ist weitgehend unerforscht und gilt als letzte Heimstatt indianischer Völker, die sich dem Kontakt mit der Zivilisation weitgehend verweigern. Die Schilderungen Humboldts, ab 1805 unter dem Titel „Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents“ veröffentlicht, können noch heute als Reiseführer dienen.

Auf beiden Seiten lief fortwährend dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Osten schienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen an einer merkwürdig gestalteten Insel vorbei. Ein viereckiger Granitfels steigt wie eine Kiste gerade aus dem Wasser empor; die Missionare nennen ihn El Castillito.

Orinoco
„El Castillito“

San Fernando de Atabapo: ein verschlafener Ort mit 3000 Einwohnern. Eine Kirche. Ein Restaurant: der folgenlose Genuß des Tagesmenüs setzt eine tropentaugliche Darmflora voraus. Das einzige Hotel an der Plaza Bolivar: nur drei Zimmer, weit jenseits von mitteleuropäischem Standard und Komfort. Mittendurch eine Heerstraße für Ameisen und die in Volksliedern liebevoll besungenen Cucarachas. Am Abend schauen auch ein paar Kröten herein, die der kurze, aber um so heftigere Tropenregen unternehmungskustig macht. Hängematte und Moskitonetz gehörten zur Grundausstattung des Reisenden wie Toilettenpapier und Plastikfolie, um Papiere und Geld vor Feuchtigkeit zu schützen.

San Fernando de Atabapo

Das grandiose Panorama entschädigt: Eine Gewitterwolke dräut über dem satten Dunkelgrün des Urwalds, die letzten Sonnenstrahlen gleißen durch das kitschige Abendrot und lassen die Sandbänke weiß leuchten. Hier fließen drei Ströme zusammen: Guaviare, Atabapo und Orinoco. Der Guaviare, breiter als der Rhein, entspringt tausend Kilometer westlich in den kolumbianischen Anden und hat weißes Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seiner gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoco weit mehr gleicht. Von Süden ergießt sich der Atabapo in den Guaviare. Wassertemperatur: erstaunliche 37 Grad. Der sonnendurchglühte Granit heizt den Fluß auf. Er ist dunkel wie schwarzer Tee, aber klar bis auf den Grund. Die Färbung rührt von Gerbsäure, die Insekten abhält, ihre Eier zu legen.

Für Individualreisende ist die Region östlich und südlich von San Fernando Sperrgebiet – zum Schutz der Indianer. Um hier zu reisen, benötigt man eine schriftliche Erlaubnis der Indianerbehörde im Kultusministerium, des Innenministeriums in Caracas und der Distriktsverwaltung in Puerto Ayacucho. Aber die Behörden sind weit, und Papier zählt weniger als der menschliche Kontakt. Am oberen Orinoco gibt es zwei Dutzend illegale Goldminen. Der Kommandant der örtlichen Guardia Nacional kann die genauen Standorte auf der Karte zeigen. Wichtige Honoratioren des Ortes sind daran nicht ganz unbeteiligt, und der Schmuggel nach Kolumbien ist ebenfalls einträglich. Übermäßiger Aktivismus der Sicherheitskräfte würden den regen Bootsverkehr nur unnötig stören. Auch die kolumbianischen Grenzposten auf der anderen Seite des Guivare beobachten den Fluß, manchmal. Was gringos tun, interessiert sie nicht. Jede zweite Nacht sind in der Ferne Schußwechsel zu hören. Die Guerilla, sagen die Venezolaner.

Orinoco
Der Autor in San Fernando de Atabapo

Clemente Guicho ist Curripaco – eine indianische Ethnie, die am Westufer des Atabapo lebt, aber äußerlich nicht von den Kreolen zu unterscheiden ist. Deshalb bleiben die Curripaco von Touristen auf der Suche nach Naturvölkern unbehelligt. Curripaco, ein Aruak-Dialekt, wird nur noch von 600 Menschen in rund dreißig Dörfern gesprochen. Guicho hat ein schnelles Boot, eine Vorliebe für amerikanische Dollar, kümmert sich nicht um Vorschriften und fährt gern den Atababo hinab, bis nach Javita kurz vor der brasilianischen Grenze.

Unsere Piroge bleib ein paar Minuten lang zwischen zwei Baumstämmen stecken. Kaum war sie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo mehrere Wasserpfade oder kleine Kanäle sich kreuzten, und der Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenste Weg war. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald. Das Klima in Javita ist ungemein regnerisch.

Doch die Wettergötter haben ein Einsehen. Keine Wolke trübt den Himmel, und am Abend kann der Reisende die Hängematte unter freiem Himmel aufspannen. Das Kreuz des Südens steigt langsam zum Zenit.

Es war eine der stillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdstrich so gewöhnlich sind. Die Sterne glänzten im milden planetarischen Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflächen der südlichen Halbkugel zu beleuchten schienen. Ungeheure Insektenschwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewachsene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte sich die gestirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergesenkt.

Elorza am Rio Arauca, südliche Llanos. Selten verirrt sich jemand nach Elorza. Nur die Fiesta im März, die toros coleados, zieht venezolanische Touristen an, die die Wildwest-Atmosphäre genießen wollen: breitbeinige Männer mit staubigen Stiefeln und Cowboy-Hut, schmelzender Gesang, untermalt von Gitarre und Harfe, Reiter, die versuchen, einen Stier möglichst schnell am Schwanz zu Fall zu bringen.

Am Ortsrand leben knapp hundert Guahibos, eng zusammengedrängt unter einem Wellblechdach und umgeben von Müllbergen. Die Guahibos sind Nomaden, die Mehrzahl stammt aus Kolumbien. Sie nennen ihre Wohnstätte garpón, „großes Haus“, und erhalten Sozialhilfe; einige Männer sprechen spanisch und verdingen sich für ein Almosen als Gelegenheitsarbeiter auf den umliegenden Farmen. Das gibt böses Blut: der Wahlkampf steht vor der Tür, und Lokalpolitiker haben Parolen ausgegeben, die frei übersetzt lauten: „Guahibos raus!“ und: „Arbeitsplätze zuerst für Einheimische!“

Pater Christobal ist Pole und aus Ostpreußen gebürtig. Sein klimatisierter Amtssitz nimmt die ganze Breite der Plaza Bolivar von Elorza ein. Als öffentliche Person könne er zwar nicht immer laut sagen, was er denke, aber seine kirchliche Autorität geltend machen. „Vor fünfzehn Jahren haben Viehzüchter und ihre Handlanger ein Massaker an den Guahibos verübt“, erzählt er, „es gab siebzehn Tote, auch Frauen und Kinder. Einige Überlebende hausen im garpón. Sie haben heute noch Angst. Die Schuldigen waren bekannt, wurden aber nicht bestraft.“

Guahibos
Guahibo, auch Wayapopihíwi genannt, im Süden Venezuelas, irgendwo in einem winzigen Dorf ungefähr hier. Das Stammpublikum wird auch mich erkennen.

Man erfährt, daß der örtliche Automechaniker Roberto Para vor einigen Jahren eine Anthropologin aus Paris zu den nomadisierenden Guahibos gefahren hat, die irgendwo in der Savanne leben. Bis zum Rio Meta, der Grenze zu Kolumbien, sind es rund 200 Kilometer, aber es gibt in diesem gottverlassenen Landstrich nur zwei aufgegebene Gehöfte. Die kolumbianische Guerilla macht das Gebiet unsicher, attackiert die venezolanischen Grenzposten und erhebt bei nächtlichen Überfällen von den Viehzüchtern „Kriegssteuern“.

Fünf Stunden mit dem rüttelnden Jeep durch die Savanne (vgl. Foto). Der Boden zeigte überall, wo er von der Vegetation entbößt war, eine Temperatur von 48 bis 50 Grad. Die Ebenen ringsum schienen zum Himmel anzusteigen, und die weite unermeßliche Einöde stellte sich unseren Blicken als eine mit Tang und Meeralgen bedeckte See dar. Im Norden stehen Rauchsäulen am Himmel – die Rancher nennen das „Flurbereinigung“.

Ein schlammiger Fluß: der Rio Capanaparo. Ein alter Mann rudert den Reisenden schweigend an das andere Ufer. Wieder ein garpón. Aller Augen richten sich auf den chefe. Der erklärt in stockendem Spanisch: Das Feuer und die Viehzucht engen den Lebensraum der Guahibos immer mehr ein. Sie litten Hunger, weil sie nicht mehr jagen könnten. Die Regierung lobt sich im Ausland für ihre gut gemeinte, das heißt paternalistische Indianerpolitik. Sie bietet den Nomaden an, gratis in Reihenhaussiedlungen wohnen zu können wie die katholischen und assimilierten Indianer am Orinoco. Dort wären sie geschützt vor Übergriffen sowohl der kolumbianischen Guerilla als auch der Viehzüchter. Doch sie wollen nicht.

Kein Stamm ist schwerer seßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben sie von faulen Fischen, Tausendfüßen und Würmern, als daß sie ein kleines Stück Land bebauen. Wir fanden daselbst sechs von noch nicht katechisierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie unterschieden sich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen schwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Missionen… Mehrere hatten einen Bart; sie schienen stolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu verstehen, sie seien wie wir.

Die ersten Weißen, die die Guahibos kennenlernten, waren Deutsche – im 16. Jahrhundert. Die Konquistadoren Georg Hohermuth von Speyer und Friedrich von Hutten zogen 1535 im Auftrag der Welser von Coro an der Küste nach Süden, bis in das Quellgebiet des Guaviare im heutigen Kolumbien. Mehrere hundert deutsche und spanische Landsknechte durchstreiften monatelang die Savanne, ausgemergelt vor Hunger und vergeblich auf der Suche nach einem Paß in die Anden, in das Land der Muisca, zum legendären El Dorado. Die Muisca zahlten mit Gold für die Kinder der Guahibos, erfuhren sie.

Fiengent ain Cassicquen oder Obersten, ßo sagt, er wer auff der andern Seitten des Birgs gewest, gab uns groß Zeittung von Reichtumb. Vermochten aber mit den Pfferden nit hynuber… berichtet der fränkische Edelmann Philipp von Hutten am 30. Oktober 1538 aus Coro an den kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann in einem der ersten Briefe, den ein Deutscher aus Südamerika geschrieben hat.

coro
Plaza von Santa Ana de Coro, gegründet 1527 vom Spanier Juan de Ampiés, der sich dazu die Erlaubnis des Kaziken Manaure holte. Die kleine Kathedrale, dem heiligen Franziskus geweiht, war noch im Bau, als Georg Hohermuth von Speyer und Philipp von Hutten 1528 auf diesem Platz standen.

Coro, im Nordwesten Venezuelas. Auf einem Platz, inmitten liebevoll restaurierter Kolonial-Architektur, steht ein Glaskasten. Darin ein schlichtes Holzkreuz. Die Legende sagt, hier sei 1528 die erste Messe der Stadt gelesen worden, und das Holz stammte von dem Baum, unter dem sich der spanische Konquistador Juan de Ampiés und der Caquetio-Kazike Manaure zum ersten Mal trafen. Ein Jahr später kam Ambrosius Dalfinger aus Ulm, um im Auftrag der Welser einen schwunghaften Handel mit afrikanischen und indianischen Sklaven aufzuziehen. Ganz privat suchte er El Dorado. Ihm folgten deutsche und spanische Glücksritter und die Pocken, die die Indianer dezimierten.

Eine Geschichte, die sich in Südamerika Dutzende Male in verschiedenen Variationen ereignet hat. Warum also das flaue Gefühl des Autors im Magen, auf der Plaza Bolivar zu stehen, vor der eintürmigen Kathedrale Coros? Hans Hauser ist eine literarische Figur, die zum Glück und zu Recht vergessen worden ist. „Mit den Konquistadoren ins Goldland“ hieß das Buch, erschienen im Jahr 1958 in Stuttgart, von einem ebenso vergessenen Autor: Blonde deutsche Männer sorgen in fremden Landen für Ordnung, bekehren heidnische wilde Indianer und erleben prächtige Abenteuer. Der Held ist frei erfunden, nicht jedoch die Nebenfiguren: der leutselige Ambrosius Dalfinger, der tapfere Georg Hohermuth von Speyer, der stolze Philipp von Hutten und der finstere Nikolaus Federmann, Gründer von Bogota.

„Was so durch kindliche Eindrücke, was durch Zufälligkeiten der Lebensverhältnisse in uns erweckt wird, nimmt später eine ernstere Richtung an, wird oft ein Motiv wissenschaftlicher Arbeiten, weiterführender Unternehmungen.“ Das schreibt Alexander von Humboldt über das Motiv seiner Reise. Und Philipp von Hutten schrieb am 31. März 1539 an seinen Vater: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen.

Die Zitate Alexander von Humboldts (kursiv) sind entnommen aus: „Eine südamerikanische Reise“, hg. v. Reinhard Jaspert, Berlin 1979, einer Auswahl u.a. aus Humboldts Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, (Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents), 36 Bände, 1806ff., (Nachdruck bei Brockhaus 1970).

Die Zitate Philipp von Huttens aus: Eberhard Schmitt und Friedrich Karl von Hutten: Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquistadors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen 1996.




Was geschah mit Tron? [Update]

TronWas geschah mit Tron? – eine weitgehend sachliche Zusammenfassung vom Heinz-Nixdorf-MuseumsForum – mit einigen kleinen Verschwörungstheorien. Morgen ist es zwanzig Jahre her, Vgl. Burkhard Schröder: Tod eines Hackers (1998).

Ich hatte 2006 bei Telepolis geschrieben: „Hacker leben nicht gefährlich“.

„Der Hacker als Sozialcharakter ist der Magier des Informationszeitalters, ein Mythos, der sich beim näheren Hinschauen als blosse Projektion entlarvt, wie es in der Natur des Mythos liegt.

Information bedeutet Macht, wer über sie verfügt, übt Macht über andere aus. Dass das möglich sei, ist im Zeitalter des Internet absurd. Der Hacker gibt sich mit Informationsmonopol einiger Weniger nicht zufrieden – er will die Codes knacken, mit denen die Mächtigen ihr Wissen vor dem Zugriff andere schützen – so die Selbststilisierung der Szene: Robin Data gegen die bösen Sheriffs weltweit operierender Firmen.

Stilisierung deshalb, weil die vielzitierte Hackerethik, dass Informationen frei sein sollten, dann nicht mehr greift, wenn die eigenen Interessen berührt werden. Das zeigt sich im Fall Boris F. deutlich. Die Hackerethik fällt auf die Hacker zurück.

Wer glaubt, die eigene Gruppe nach aussen abschotten zu können nach dem Prinzip security by obscurity, wird genausowenig Erfolg gaben wie die Hersteller von Smart Cards und Verschlüsselungssystemen, deren Prinzipien nicht offengelegt werden, damit sie öffentlich überprüft werden können. Konspirative Koketterie und unkritisierte Veschwörungstheorien bergen für sensible junge Menschen Risiken. Das zu thematisieren wäre die Konsequent aus dem Tod Trons – für die Hacker als auch für die Journalisten, die über sie berichten.“ (aus meinem Buch über Tron, S. 205)

Auszug aus einem Brief Markus Kuhns an die Los Angeles Times, Juli 2002:

-"Streitfeld, David" wrote on 2002-07-08 19:24 UTC:I am a reporter for the Los Angeles Times working on a story about smart card hacking. i wanted to ask you about Boris F...].
-The German journalist Burkhard Schröder wrote a book on the case. I think that both his presentation of the case and the conclusions he maked are the most sensible ones that I have seen so far, therefore I’d like to refer you to him as a more well-informed source.
-Do you think his death was a suicide?
-From all I know, this seems to be the most plausible hypothesis.
-Why do so many people think he was killed, even if it’s unclear by who?
-Lack of an obvious motive, plus he was affiliated with the Chaos Computer Club in Berlin, a highly media-active association that includes quite a number of conspiracy theory enthusiasts.“

[Update] von Detlef Borchers: „Missing Link: Trons Tod – Eine weitere Spurensuche nach 20 Jahren“.




Was tun? [Update]

Dieeter Dehm (man muss ihn nicht mögen) auf Facebook:. „Wer jetzt eine schnelle Draufsicht von oben wagt, darf die Katastrophe der SPD (9,5) und der Linken (2,9) durchaus summarisch bewerten: eine rote Perspektive konnte maximal gerade mal 12,4% der WählerInnen mobilisieren! Während beide Parteien von grünlicher Romantik und Sprachpolizei bezüglich Migration und Geschlechterkleinkrieg geprägt werden, haben WählerInnen das Original davon gewählt: die Grünen (18). Erst, wenn sich beide rosaroten Parteien bundesweit entgrünlichend bemühen, das Rote zu schärfen und auszuweiten, wird der werktätige Alltagsverstand nicht mehr länger kampflos der AfD überlassen. Beide Parteien sollten sich jetzt schnell verständigen, wie mit den Gewerkschaften die erkämpften, nationalstaatlich verfassten Sozialstandards gemeinsam zu retten sind.“

Burks (man muss ihn nicht mögen) auf Facebook: „Die üblichen Sprechblasenfacharbeiter bei der Linken wiederholen nur immer das, womit sie ständig krachend scheitern. Die Linke muss sich aufs Kerngeschäft konzentrieren und Systemopposition werden. Lifestyle-Themen („Klimawandel“, Ökodings, „nachhaltig“, Genderifiziertes) können die Grünen eh besser.“

[Update] Dazu passt Warum der „Kampf gegen rechts“ die Gesellschaft weiter spaltet. Darin der schöne Satz: “ Innerhalb des derzeitigen Wirtschaftssystems lässt sich nicht „die Welt retten“ – dieses System ist selbst eng mit dem Faschismus verwandt“.

Noch ein Update: Nutzlos gegen Rechts (2008), Der „Kampf gegen rechts“ ist gescheitert (2004), Wir waren doch die Guten (2003).

I told you so.




Der Putsch in Chile

Über den Putsch in Chile habe ich am 11. September 2003 auf Telepolis geschrieben: „Die mit Hilfe der US-Regierung in Blut getauchte „Demokratisierung“ ließ einen verklärten Mythos der Linken entstehen“.




Betr.: Traumfrau

Ich habe aus gegebenem Anlass eine Geschichte ausgebuddelt, die ich 1986 (!) geschrieben und in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte: Betr.: Traumfrau (pdf, 2 Seiten).

Nach einer wahren Begebenheit. Vorsicht: 80-er-Jahre-Retro-Layout und nicht jugendfrei!




Frage zu einer investigativen Recherche, update

investigative Recherche

Vielen Dank an alle, die sich die Mühe machten, mir Tipps zu geben. Heute bin ich sehr gut gelaunt, denn ich beschloss am Morgen, in einem fernen Winkel eines Schrankes noch mal gezielt zu suchen, ob nicht doch noch Unterlagen zu einem Artikel zu finden seien, den ich 1997 (ja!) für das Berliner Stadtmagazin TIP geschrieben hatte.

Ein Anwalt schickte mir jüngst eine Unterlassungserklärung, weil sein Mandant in dem Artikel nicht besonders gut abschnitt. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Recherchen von damals – von vor zwanzig Jahren! – noch aufbewahrt hatte.

Und siehe, das war so! Unter einem Stapel Akten (die obigen haben mit dem aktuellen Fall nichts zu tun) fand ich, was ich suchte. Meine Thesen von damals standen noch viel ausführlicher in der „Süddeutschen“ (sind online nicht verfügbar). Das wird jetzt lustig vor Gericht (falls es dazu käme).

Vermutlich wird der Herr den Streisand-Effekt kennenlernen. Oder er ist vernünftig und lässt die Sache auf sich beruhen. Das werde ich seinem Anwalt, der gern von irgendjemandem bezahlt werden möchte, vorschlagen.




Die Sehnsucht, moralisch überlegen zu sein

Vor einem Jahr schrieb Harald Martenstein Markus Günther in der FAZ: „Nichts tut so gut wie das Gefühl, gegen Rechts zu kämpfen. Denn dann steht man garantiert auf der richtigen Seite. Wenn es stimmt, was Franz Werfel einst schrieb, dass nämlich neben dem Geschlechtstrieb kein Bedürfnis das Handeln des Menschen so sehr bestimmt wie die Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit, dann ist leicht zu verstehen, warum der Kampf gegen Rechts solche Energien freisetzt: Er belohnt den Kämpfer mit einem maßlosen, ja mit dem denkbar größten moralischen Sieg überhaupt.“

Ich hatte das schon 2004 in Telepolis angemerkt – da gab es noch keine AfD: „Der Kampf gegen Rechts ist die moderne Form des mittelalterlichen Exorzismus und wird gleichfalls mit magischen Ritualen geführt“. Vgl auch meinen damaligen Artikel in der Taz: „Der kategorische Imperativ in der protestantisch geprägten Alltagskultur lautet: Habe die richtigen Gefühle, dann wird alles gut.“

Es hat sich nichts geändert.




Unter Verdacht

Nitro

Meine Reportage über die „Akte Lammel“ ist im aktuellen Heft des unabhängigen Medienmagazins Nitro in der Rubrik „Investigativ“ erschienen. [Bestellung als Einzelheft]

Auf diesem Blog werden aber weitere Folgen zum Thema erscheinen.




Der Großmufti und die Islamogermanen

Amin el-Husseini | Hitler

Amin al Husseini und Adolf Hitler, Fotograf Heinrich Hoffmann, Quelle: Wikipedia | Bundesarchiv

Dieser Artikel von mir erschien 1996 in der Berliner Stadtzeitschrift tip – unter dem Titel „Führer unter sich“. Viele der Quellen zum Thema, die heute online verfügbar sind, haben daraus abgeschrieben. Ich habe ihn geringfügig aktualisiert.

Im Sommer 1933 entdeckten Spaziergänger am Ufer eines Sees im Grunewald eine Leiche: Der Ertrunkene war Mohammed Nafi Tschelebi, ein syrischer Student an der Technischen Universität Charlottenburg. Mit ihm verloren die Muslime im Deutschen Reich ihre herausragenste Persönlichkeit.

Während die Islamische Gemeinde in Berlin trauerte, kam Tschelebis Tod den Nationalsozialisten sehr gelegen: Er enthob sie der unangenehmen Pflicht, gegen den prominenten Muslim vorzugehen und sich dadurch bei den Anhängern der Lehre des Propheten unbeliebt zu machen. Die Umstände seines Todes blieben ungeklärt. Auch was mit seiner Leiche geschah und wo sie bestattet wurde, ist nicht bekannt.

Man kann vermuten, dass Mohammed Nafi Tschelebi schon von dern Schergen Hitlers beobachtet wurde. Am 30 Mai 1930 hatte sich, von Tschelebi angeregt, die Deutsche Moslemgemeinde gegründet, später „Deutsch-Muslimische Gesellschaft„. Ihr Ziel war, „das Verständnis für den Islam zu fördern“ und die „Kameradschaft unter den Muslimen in ganz Europa zu pflegen“.

Nicht nur Muslime, sondern auch Andersgläubige – wie Juden und Christen – durften Mitglied werden. Die Nazis hielten diese Organisation zeitweilig für einen „Zufluchtsort für Kurfürstendammjuden„, reiche Deutsche mosaischen Glaubens, die im vornehmen Westend lebten. Auch der kosmopolitische Zuschnitt des Vereins war den Nationalsozialisten suspekt. Bei einigen Mitgliedern witterten sie „bolschewistische Gedanlen.“

Erst mit Mohammed Nafi Tschelebi war ein frischer politischer Wind durch die islamische Gemeinde Berlins gezogen. Eine Gruppe arabischer und nationalistischer Studenten im Tschelebi hatte 1927 die Führung übernommen. Ihr autokratischer Leite, der Inder Abdel Jabbar Kheiri, wurde abgesetzt. Tschelebi übernahm auch den Vorsitz der muslimischen Studentenvereinigungen „Islamia“ und „El-Arabyia“.

Im selben Jahr gründete Tschelebi das „Islam-Institut“* im Humboldt-Haus in der Fasanenstrasse (heute: Literaturhaus) als Gegenpol zu der traditionell mehr konservativen und unpolitischen Islamischen Gemeinde. Das Institut sollte die „Entfremdung zwischen Europa und der islamischen Welt“ überwinden helfen. Seine Gründer verstanden sich als „ehrliche Makler“ in völkerverbindender Mission. Auch bei der Gründung des Islamischen Weltkongresses 1932 in Berlin sass Tschelebi im Vorstand.

Nach Tschelebis Tod führten das Islam-Institut und die Deutsch-Muslimische Gesellschaft nur noch ein Schattendasein. Seine Nachfolger verstrickten sich in endlose Intrigen und Profilierungskämpfe. Das völkerverbindende Motto und der Gedanke der Verständigung zwischen den drei grossen Buchreligionen wurde zu den Akten gelegt.

Dabei mischten die Nazis wenig später kräftig mit. Die deutsche Wehrmacht marschierte 1941 in Richtung Ägypten, und im Irak putschte eine anti-britische Offiziersclique. Die Nationalsozialisten definierten ihre Interessen im Nahen Osten neu. Nach der Eroberung Nordafrikas sollte das britische Mandatsgebiet Palästina von zwei Seiten in die Zange genommen werden. Deutsche Truppen sollten über den Kaukasus vorstossen und im Irak eine Marionettenregierung etablieren.

Der ägyptische Journalist Kamal Eldin Galal gründete am 21.9.41 im Restaurant Berliner Kindl am Kurfürstendamm das „Islamische Zentral-Institut e. V.“ – unter wohlwollender Billigung des Auswärtigen Amtes, das sich eine Propagandawirkung in der arabischen Welt versprach. Die meisten Mitarbeiter des neugegründeten Instituts arbeiteten auch als Journalisten für das Amt, Galal unter dem Decknamen Baschir Sufian.

SS Mullahschule

Im Juni marschierten die Engländer in den Irak ein. Einer der Drahtzieher des Putsches war Amin El-Husseini gewesen, ein fanatischer Antisemit und Mufti von Jerusalem. El-Husseini hatte seine Finger in mehrere Aufständen arabischer Nationalisten in Palästina gehabt und stand auf der englischen Fahndungsliste ganz oben. Der Gesuchte floh über Teheran und Italien nach Berlin.

Dort traf der Mufti am 6.11.41 ein, nannte sich fortan „Grossmufti von Palästina“ und verlangte gleich, dass ihm „eine grössere Judenwohnung“ zur Verfügung gestellt werden sollte. Das geschah – Adresse: Goethestrasse 27 in Zehlendorf. Bald darauf wurde er von Hitler persönlich empfangen.

Amin el-Husseini gelang es in kurzer Zeit, sowohl das „Islamische Zentralinstitut“ als auch die Islamische Gemeinde zu instrumentalisieren und alle seine Gegenspieler kaltzustellen. Bei der Einweihung des Instituts im Prinz-Albrecht-Palais, dem „Haus der Flieger“, wurde der Mufti von der Islamischen Gemeinde als „Führer der arabischen Welt“ begeistert empfangen. In seiner antisemitischen Hetzrede behauptete er unwidersprochen, die Juden seien die „erbittersten Feinde“ der Moslems und seit jeher ein „zersetzendes Element“. „Das Weltjudentum“ hätte den Krieg entfesselt.

In den letzten Kriegsjahren intervenierte el-Husseini von Berlin aus bei diversen Behörden, um zu verhindern, dass osteuropäische Juden auswandern konnten. Adolf Eichmann hatte Mai 1943 den Briten vorgeschlagen, 5000 jüdische Kinder aus Bulgarien nach Palästina emigrieren zu lassen, im Austausch gegen die Freilassung internierter Deutscher im Ausland. Der Mufti protestierte bei der SS – erfolgreich. Die Kinder wurden stattdessen nach Polen geschickt, in den sicheren Tod. Ein deutscher Beamter protokollierte, dass der Mufti die Juden „am liebsten alle umgebracht“ sähe.

Amin el-Husseini | Bosnische Freiwillige

Der Großmufti von Jerusalem bei den bosnischen Freiwilligen der Waffen-SS. Der Großmufti schreitet die Front mit Hitlergruß ab. Credits: Wikipedia | Bundesarchiv

1944 reiste el-Husseini mehrfach nach Bosnien, wo er im Auftrag der SS muslimische Regimenter rekrutierte. Die bosniakische „Waffen-Gebirgs-Division-SS Handschar“ erfreute sich des Wohlwollens Heinrich Himmlers, der sich um die religiöse Erziehung kümmerte. In Dresden wurde eine Mullah-Schule der SS eingerichtet. Himmler schwärmte von der „weltanschaulichen Verbundenheit“ zwischen dem Nationalsozialimus und dem Islam.

Bei Kriegsende floh Amin el-Husseini in die Schweiz. Von Frankreich aus gelangt er nach Kairo, dann in den Libanon. Obwohl Jugoslawien ihn als Kriegsverbrecher ausgeliefert sehen wollte, ließen ihn die Alliierten laufen: Sie hofften, sich seiner in Palästina bedienen zu können.

Der Mufti genoss die Unterstützung der Arabischen Liga und finanzierte mit dem von den Nazis erhaltenen Geld die sogenannte Arab Liberation Army, die die Juden in Palästina terrorisierte. 1949 rief das Arab Higher Comittee, eine einflussreiche Gruppe palästinensischer Notablen, el-Husseini zum Präsidenten einer Gesamt-Palästinensischen Regierung im Gaza-Streifen aus. 1951 wurde der jordanische König Abdullah ermordet. Die Täter gehörten zu einer Geheimorganisation, die der Grossmufti 1948 gegründet hatte, um „Palästina vor den Zionisten zu schützen“. Einer der zum Tode verurteilten Verschwörer, Dr. Mussa Abdullah el-Husseini, war ein Vetter des Muftis.

Im selben Jahr immatrikulierte sich ein weiterer Verwandter El-Husseinis an der Universität Kairo: Rahman Abdul Rauf el-Qudwa el-Husseini. Der Student hielt es für ratsam, seinen genauen Namen zu verschweigen, um sich von der kompromisslosen und fanatisch antisemitischen Politik des Grossmuftis zu distanzieren. Er nannte sich später Yassir Arafat.
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* Das damalige „Islam-Institut“ hat nichts mit dem Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland zu tun, obwohl dieses immer wieder – historisch falsch – eine Kontinuität behauptet.

Literatur: Kurt Gensicke: Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten: Eine politische Biographie Amin el-Husseinis, 1988




Die dunkle Seite oder: Im Schattenreich

Ein Artikel von mir im Tagesspiegel beschreibt das Darknet. Leider sind einige Sätze gekürzt worden. Der Artikel begann im Original-Manuskript so:

Das dunkle oder das tiefe Netz? Die meisten Internet-Nutzer wissen nicht, was das ist. Darknet und „Deep web“ sind Terra incognita. Muss man da unbedingt hin? Sind dort nicht nur Kriminelle, mit denen man nichts zu tun haben möchte? Und wo kann man anfangen?

Wer in die Schattenreiche des Internet eintauchen will, hat ein ähnliches Problem wie jemand, der als Hetero-Mann inkognito einen Darkroom einer Schwulen-Sauna aufsuchen möchte: Was zieht man an? Am besten nichts, das ist dort am unauffälligsten. Ganz ähnlich funktionierte eine virtuelle Tarnkappe, die man im Darknet und „Deep web“ braucht, um nicht gesehen werden zu können. Die anderen möchte man schon sehen können, aber man muss nicht wissen, wie sie heißen und wer sie sind.




Bange machen gilt nicht

Ein Kommentar von mir in der taz: „Wer hat Angst vor der bösen NSA? – Ja, ich bin ein Extremist – im Sinne der NSA. Ja, ich bekenne: Ich habe Tor und andere Anonymisierungsdienste genutzt und werde das weiterhin tun. Ich beschäftige mich oft mit dem Thema und suche im Internet danach. Deswegen bin ich in der NSA-Datenbank XKeyscore vermutlich schon gespeichert. Wenn nicht, wäre ich empört. Ich hielte es für unerträglich, wenn das Imperium des Bösen mich für harmlos hielte. [mehr…]

Sensationell ist, dass die taz mehr Links in den Artikel hineingedröselt hat als ich in das Original-Manuskript… Geht also.

In der Mitte meines Manuskripts hieß es: „Viel schlimmer als diejenigen, die keine Ahnung von Sicherheit im Internet haben wollen, sind die Defätisten, die mit geheimnisvoller Miene murmeln: „Die sind eh schon drin. Man kann nichts tun.“ Hier meine Verschwörungstheorie: Vermutlich werden gerade die von Geheimdiensten bezahlt. Das genau wollen die erreichen: Dass niemand mehr etwas unternimmt.“

Der letzte Satz sollte heißen: „Wer nach einer Reform oder gar einer Kontrolle der Dienste ruft, ist nicht nur naiv, sondern vergisst – oder ist nur zu feige – die Systemfrage zu stellen.“ (hat die taz mittlerweilie ergänzt).




Es gilt das genehmigte Wort

Ein Artikel von mir (5,5 Mb, pdf) in der Zeitschrift Nitro: „Es gilt das genehmigte Wort“

Im Journalismus gilt das Interview als zentrales Genre, es ist ein Mittel, um Informationen zu beschaffen. In Deutschland haben kritische Interviews allerdings keine Tradition. (…) Um so wichtiger ist es für Politik und Wirtschaft, diese Landschaft auch zu pflegen, also darauf zu achten, dass nichts publiziert wird, was nicht in den Kram passt. Bekanntes Mittel ist die so genannte „Autorisierung“, die nicht zufällig von der Autorität abstammt, die im Mutterland des Obrigkeitsstaates immer noch die Gehirne prägt. Die Autorisierung von Interviews ist so typisch deutsch wie andere Dinge, die unübersetzt in andere Sprachen übernommen wurden – wie „Blitzkrieg“, „Kindergarten“, „Berufsverbot“ und „German Internet Angst“.




Warum nicht 18 Penisse?

honi soit

Ein Artikel von mir in Telepolis: „Mehr als die Hälfte der australischen Bevölkerung hat eine Vulva. „Honi Soit“, die Studentenzeitung der Universität von Sidney, hielt das für normal und zeigenswert. Auf der Titelseite einer ihrer August-Ausgaben platzierte sie 18 Vulvae von Studentinnen. Es geschah, was zu erwarten war (…)