New Orleans, revisited

Postkarte USAPostkarte USA

Die Postkarte habe ich am 24.09.1979 in New Orleans abgeschickt. Sie kam am 02.10. an.

Ich habe leider die Perspektive nicht wiedergefunden. Auf der Postkarte steht eindeutig „Saint Peter Street“ – die gibt es im Bayou St. John und ist nicht so pittoresk. Sie wird aber durch den Louis Armstrong Park unterbrochen. Vermutlich ist daher der untere Teil gemeint, der bis zum Hafen führt.

Mississippi ist schmutzig. Morgen fahren wir über Houston (NASA-Kontrollzentrum) nach Santa Fe, um uns Indianerpueblos anzusehen.

Darf man das heute noch auf unverschlüsselte Postkarten schreiben, oder wird man wegen Hassrede angezeigt?

French Quarter, New Orleans

New OrleansNew OrleansNew OrleansNew OrleansNew Orleans

Das französische Viertel in New Orleans im Jahr 1979. Oben habe ich auf dem Jackson Square gestanden, mit Blick auf die Saint Louis Cathedral (fehlt im deutschen Wikipedia, vermutlich wegen Irrelevanz). Mitte: Ich stand offenbar genau vor der Kathedrale in der Chartres Street mit Blick auf die Ecke St. Ann Street, rechts ist noch der Eingang zum Jackson Square zu erkennen. Unten: Toulouse Ecke Chartres Street. Ich habe eine Weile gebraucht, um per Google Street View die Ecke wiederzufinden. Die Natchez gibt es offenbar immer noch da. Die Brücke unten ist wohl die Crescent City Connection.

Vermischtes oder: Die Freiheit der Bürger

„Das Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) hat zu Silvester und Neujahr bisher 15 Böllerverletzte, ausnahmslos männlich, behandeln müssen. Diese waren zum Teil schwerstverletzt, allein fünf von ihnen wurden Opfer von Kugelbomben. Auch Kinder seien unter den Verletzten, teilte Kliniksprecherin Angela Kijewski dem Tagesspiegel mit. Ein Mann sei vollständig erblindet. Andere hätten Finger oder Teile von Händen verloren. Neben vielen Verbrennungen seien auch viele Gesichtsverletzungen zu verzeichnen gewesen.“

„Zahlreiche Böllerverletzte durch Kugelbomben, ein Mann erblindet, ein Haus unbewohnbar, 1900 Feuerwehr-Einsätze“ – aber die Freiheit des Bürgers zum Böllern darf nicht angetastet werden. Wo kämen wir denn da hin!

Und jetzt schalten wir nach New Orleans zu unserem Korrespondenten….

Die Indianer lassen keinen rein

brief

Bevor wir uns wieder den Weltläuften zuwenden: Ich habe hier einen Brief, den ich im November 1979 aus Belize an meine Eltern geschrieben habe. Ich musste doch sehr schmunzeln, als ich las, wie ich damals dachte und formulierte. Was ich schrieb, fasste meine damalige Reise von New York quer durch die USA und dann durch Mexiko zusammen.

„Kekoko“ ist übrigens lautmalerisch: Wir hatten keine Ahnung, wo das war, auch keinen Reiseführer und natürlich auch kein Internet. Wir mussten uns überall durchfragen. Gemeint ist die Caye Caulker, eine Insel vor der Küste von Belize. 1981 war ich noch einmal dort. Heute ist es dort sehr touristisch.

Man muss sich auch meine Eltern vorstellen, als sie den Brief erhielten. Wo und wie erhielt man damals Informationen über Belize? Zuhause gab es nur das Bertelsmann Volkslexikon und den Diercke Weltatlas. (Vier eng beschriebene dünne Seiten auf Luftpost-Papier. Die Rechtschreibung habe ich nicht verändert.)

Kekoko, 23.10.[1979]

Liebe Eltern!
Stellt Euch folgende Dinge vor: eine winzige Insel (200m breit, 800m lang), 2 Std. mit einem Fischerboot von Belize City entfernt auf einem Riff, 20 Häuser aus Holz, alle auf Pfählen, rundum Sandstrand, die ganze Insel voller Palmen, ab und zu ein Leguan, auf dem Wasser Pelikane, die fischen, ein paar Papageien, ein paar dunkelhäutige Leute, die alle wie Seeräuber aussehen, fast keine Touristen (genau genommen 8 außer uns) und das Wasser ist klar, daß man den Grund sieht und inmitten von Fischen schwimmt, außerdem sehr warm und den ganzen Tag 25-30°! Und dann stellt Euch Hartmut und mich vor, dann habt Ihr die Insel Kekoko [Caye Caulker] in der Karibik!

Im Augenblick ist es schon dunkel – die Sonne geht um 17:30 unter – jeden Tag ein Postkartenmotiv – und wir sitzen in der einzigen Kneipe am Strand, trinken Rum mit Cola (wie es sich gehört) und hören südamerikanische Musik.

Wir haben seit New York Sonnenschein, wenn wir draußen waren, und das sind immerhin schon 5 Wochen her. Ich kann nur über einige Eindrücke berichten, weil wir schon so viel erlebt haben und die Reise immer schöner wird. (Außerdem wird der Brief zu schwer und die Post ist nicht so sicher wie in Deutschland.)

Wir kamen am 18.9. abends in New York an. Schönes Wetter, aber leider streikten die Busfahrer. Wir mußten ein Taxi vom J.F.Kennedy-Flughafen nehmen. Die Leute, von denen ich die Adresse hatte, waren überrascht, weil sie sich nicht an mich erinnerten [eine Frau, die ich Monate zuvor mit dem Taxi in Berlin umherfuhr, hatte mir ihre Adresse in Queens gegeben]. Wir haben aber auf dem Dachboden übernachtet.

New York ist überwältigend groß. aber sehr schmutzig. Ich hatte mit der Kamera Schwierigkeiten; ich hoffe, daß die Bilder etwas geworden sind. Nach ein paar Tagen sind wir mit dem Bus nach New Orleans gefahren. Die Entfernungen in den USA sind etwas anders als in Deutschland: Wir haben 33 Stunden gebraucht! In den USA gibt es fast keine Eisenbahnen, und der Personenverkehr wir mit Bussen befördert.

In New Orleans gibt es ein altes Stadtviertel mit Häusern aus der französischen Kolonialzeit. Wir haben da den berühmten Houston zum Weltraumzentrum. Wir waren auch in dem Kontrollraum, den man im Fernsehen bei Mondfahrten sieht.

Von dort fuhren wir nach Santa Fe. Das ist eine berühmte Stadt des „Wilden Westens“. Die Fahrt dahin führte über 100e Kilometer durch die Prairie, alle 50 km eine Ranch. In Santa Fe gibt es eine ganze Menge Pueblos von Indianern, aber wir haben nur Museen besichtigt, weil die Indianer keinen reinlassen.

Von Santa Fe mit dem Bus genau nach Süden zur mexikanischen Grenze durch ein Gebiet (am Rio Grande), wo man hinter jeder Ecke Indianer vermutet.

Mexiko ist ganz anders. Ziemlich ärmliche Häuser (jedenfalls im Norden), aber ein sagenhafter Rummel auf den Straßen. Die Leute sind freundlich und hilfsbereit, wenn sie unser Schild „Alemania“ auf dem Rucksack lesen, weil sie [US-]Amerikaner nicht mögen. Im Bus haben wir jemanden getroffen, der uns erzählte, dass in der Gegend von Chihuahua 60000 deutsche Bauern leben.

Wir sind nach Cuauhtémoc gefahren und von einem deutschen Bauern auch prompt eingeladen worden. Er war 1924 von Rußland nach Mexiko eingewandert, sprach aber Deutsch. Natürlich haben wir Bratkartoffeln gegessen!

Nach 2 Tagen ausruhen sind wir mit dem Zug durch ein wildes Gebirge an den Pazifik gefahren. Noch was: die Bauern laufen noch in den Trachten der Jahrhundertwende herum! Der Gegensatz zu den Mexikanern in Cuauhtémoc, die alle wie Banditen aussehen und zu dem Sheriff, der mit Cowboyhut und Revolver herumläuft, ist recht komisch.

Von Los Mochis haben wir sofort Anschluß nach Guadalajara gehabt. Der Zug braucht 32 Stunden! Die Züge sind natürlich brechend voll, Händler verkaufen alles, vom Papagei bis zum Reibekuchen.

Kurz vor einer Weiche hielt der Zug an, die Leute von der Lok stiegen aus und würfelten erst einmal darum, wer die 10m gehen mußte, um die Weiche umzustellen. Die Strecke ist eingleisig, und ab und zu stoßen die Züge zusammen [erzählte man uns].

Von Guadalajara ging es nach Guanajuato (bei Leon). Die Stadt ist in eine enge Schlucht hineingebaut und hat nicht den Schachbrettgrundriß wie die meisten mexikanischen Städte. Wir sind lange in den kleinen Gäßchen herumspaziert.

Die Leute in Mexiko sind sehr oft arm, aber die Kinder spielen die große Rolle. 65% der Bevölkerung sind unter 24 Jahren alt. Die Schulbildung ist aber sehr ordentlich, wie wir aus Gesprächen mit Schulkindern erfahren haben. Unser Spanisch ist aber noch nicht sehr gut. Von der Silbermine habe ich eine Karte geschrieben.

Von Guanajuato fuhren wir nach Mexiko City = 12 Millionen Einwohner! In Mexiko [Stadt] sind wir tagelang in Museen herumgelaufen, die sehr beeindruckend sind. Die meisten behandeln die alten Indianerkulturen, weil die Mexikaner sehr stolz auf ihre Vergangenheit und ihr Land sind.

Wir haben sehr viel Pyramiden in der Umgebung besichtigt und sind der Meinung, daß die europäische Kultur der Antike dagegen sehr mickrig ist. Ich will darüber aber anhand der Dias ein bißchen erzählen, weil alles schrecklich viel war.

Von Mexiko City sind wir über Pueblo und Oaxaca (an den Vulkanen vorbei) nach Coatzacoalcos an der Karibik[küste] (mit mehreren Tagen Aufenthalt in mehreren Städten und Dörfern), von dort nach Merida, wo wir noch ein paar Ruinenstädte der Mayas besichtigt haben. Das war eines der beeindruckendsten Eindrücke der ganzen Reise.

Z.B. Monte Alban: eine Stadt der Zapoteken, die vor 1000 Jahren 150000 (!) Einwohner hatte, bis die Spanier sie zerstörten. 500m über der heutigen Stadt, bei sagenhaftem Fernblick, Dutzende von riesigen Tempeln und Pyramiden, halb vom Urwald überwachsen. Oder Uxmal bei Merida, eine riesige Pyramidenstadt mitten im Urwald.

In Yukatan [sic] (d.i. die Halbinsel, auf der Merida liegt, regnet es ein paar Mal am Tag, aber es bleibt warm. Man schwitzt wahnsinnig, nach dem Duschen ist man 5 Min. später wieder total durchgeschwitzt, obwohl in jedem Hotelzimmer ein Riesenpropeller an der Decke ist.

Mexiko ist für unsere Verhältnisse sehr billig, ein Hotelzimmer für 2 bekommt man für 8 Mark, ein Essen für genausoviel. Wir haben allerdings mehrere Leute getroffen, die sich nicht anpassen konnten, vor allem [US-]Amerikaner, die kein Wort Spanisch konnten und nur im Hotel oder im Cafe herumsaßen. Wir haben mit vielen Mexikanern gesprochen, mit Indianern auf dem Markt, die noch ihre alten Sprachen sprechen – Aztekisch oder Maya. Alle waren sehr nett. Aber in ein paar Jahren werden hier viele Neckermann-Touristen sein, die die Atmosphäre kaputtmachen.

Unangenehmes gibt es auch: hier [Caye Caulker] sind sehr viele Mücken und Sandfliegen, ich bin z. Zt. völlig zerstochen. Aber man gewöhnt sich daran, genauso wie die Cucarachas. Das sind Käfer [Schaben] mit langen Fühlern, ziemlich eklig, die überall herumkriechen. In Merida hatte wir auch Ameisen im Bett, aber um das zu vermeiden, muss man in Luxushotels übernachten. Aber dann kann man auch an die Ostsee fahren.

Von Merida sind wir nach Belize gefahren, das ist eine ehemalige englische Kolonie zwischen Mexiko und Guatemala an der karibischen Küste. Dort leben fast nur Farbige, Nachkommen der Sklaven aus Afrika, der Indios und der Seeräuber. Dementsprechend sehen sie auch aus.

Aber mir gefällt es hier sehr gut, keine Rassenvorurteile und sehr lustig. Wir hatten eine Adresse von dem deutschen Bauern aus Mexiko. Sein Sohn lebt 70km von der Grenze zu Mexiko in einem kleinen Dorf im Urwald. Dort leben auch die sog. Mennoniten, auch Nachfahren der deutschen Bauern, die noch wie um 1850 leben.

Toilette
Morgentoilette meines Reisebegleiters, fotografiert am 20. oder 21.10.1979 in Belize in der Nähe des heute offenbar verlassenen Ortes Neustadt. Das Haus gehörte dem Sohn des Mennoniten, der uns in Cuauhtémoc eingeladen hatte (bisher unveröffentlicht).

Als Deutscher ist man eine Attraktion (vorausgesetzt man hat kurze Haare) und wird überall herumgereicht. Wir haben uns für ein paar Tage den Bauch mit deutscher Kost vollgeschlagen. Aber die Ansichten dieser Bauern sind haarsträubend: Wenn die deutsche Regierung Krieg mis Rußland anfangen würde, würden sofort alle kommen.

Hier herrschen auch noch Sitten wie im Wilden Westen, mit Prügelstrafe usw. Einige sind so konservativ, daß sie kein Autofahren, nur mit Pferd und Wagen und Traktoren mit Eisenrädern, weil Gummi zu modern ist.

Von dort sind wir mit LKWs nach Belize City getrampt, in Belize City haben wir Fischer gefragt, wie man zu dieser Insel fährt.

Hier bleiben wir bis Freitag, fahren dann nach Guatemala, bleiben dort 1 Woche und fliegen dann (wahrscheinlich über Nicaragua) nach Kolumbien. Dort werden wir Anfang November sein.

Viele Grüße an alle von Hartmut und Burkhard

P.S: Jetzt müsste ihr euch noch einen Sonnenbrand dazudenken.

French Quarter

new orleans french Quarter

French Quarter in New Orleans, fotografiert am 23.09.1979. Ich bin mir nicht ganz sicher, welches Gebäude das ist – es wird vermutlich die 699 Royal Street sein.

Bell Gal und ein Spaziergang am Mississippi

Mississippi

Am Mississippi in New Orleans, fotografiert am 23.09.1979. Aus meinem Reisetagebuch:
French Quarter soll kriminell sein, sechs Tote pro Woche. Schwarzer Jazz in der Preservation Hall. St. Peter Street. Sweet Emma Band. Frau im Rollstuhl spielt einhändig. Jim Robinson Thrombonist. Spielen schon seit den 20-ern. Tolle Stimmung, thank you, musik lovers. Aber viele Busse voller deutscher Touristen. Striptease in der Bourbon Street.

[Ich merke erst jetzt, dass diese Band auf der Website der Preservation Hall abgebildet ist. Ich habe also Emma Barrett live erlebt, vier Jahre vor ihrem Tod. Unfassbar. „In 1967, she suffered a stroke that paralyzed her left side, but she continued to work, and occasionally to record. She played music until her death in 1983 at the age of 85″. Schade, dass ich nicht selbst ein Foto gemacht habe. Aber dafür habe ich noch eine Postkarte (siehe unten).]

Nice American gibt uns Informationen über Santa Fe. Kolumbien soll möglich sein [uns wurde immer abgeraten, weil das zu gefährlich sei. Merke: Es gab kein Internet, und wir hatten keinen Reiseführer, mussten uns also selbst umhören.] Wanzen im Zimmer. Banjospieler mit Kautabak. Großer Unterschied zwischen schwarzem und weißen Jazz.

23.09 (…) Interessantes Gespräch über zwei Stunden mit einem schwarzen Banker über alles mögliche. Kennt Karl Marx. Hält Ökonomen für dumm. Spaziergang am Mississippi. Treffen andauernd deutsche Touristengruppen. Verlassen New Orleans gegen 11 Uhr abends….

Ich kann nicht herausfinden, wo wir damals gesessen haben. Dafür gibt das Foto zu wenig her. Außerdem wird das heute anders aussehen.

(Der Mississippi ist übrigens der viertlängste Fluss der Welt. Ich sollte noch den Nil fotografieren und den Jangtsekiang. Den Amazonas habe ich schon oft gesehen… Ruanda lässt sich bereisen, und da entspringt der Nil.)

preservation
Postkarte, die ich am 26.09.1979 aus New Orleans nach Berlin geschrieben habe. Am 23.09. war ich in der Preservation Hall bei einem Konzert.

Dog Days

New Orleans

New Orleans, 22. September 1979. Aus meinem Reisetagebuch:
Schlechtes Wetter [bei der Abfahrt von New York] und anstrengende Busfahrt. Washington DC – wir sehen das Capitol [Thomas Jefferson Memorial] von weitem. Nach 33 Stunden Ankunft in New Orleans. Kilometerlanger Sandstrand mit Palmen [Vermutlich bei Gulfport]. YMCA New Orleans kostet 16 Dollar pro Doppelzimmer. Ziemlich mieses Loch.

Treffen Brian, einen Australier [der mit der blauen Jacke im Vordergrund]. Essen zusammen im French Quarter. Tolle Kolonialatmosphäre mit alten französischen Häusern. Dixieland-Kneipe ist zwar Nepp total (3.75$ pro Bier), aber voller wunderschöner Frauen.

Drei Stunden vor New Orleans sieht man noch die Folgen des Hurrikans, umgestürzte Bäume und zerstörte Häuser. Längste Brücke der Welt [falsch] über die Swamps von Luisiana. Bombenwetter. Dog days.

El Chepe oder: Archäologie des Befindens

cuauhtemoc
Cuauhtémoc im Norden Mexikos im Bundesstaat Chihuahua. Über meinen zweiten Aufenthalt in Cuauhtémoc 1981 habe ich am 25.05.2013 schon etwas geschrieben.

Wir könnten heute Sean Connery huldigen oder ihm zum Geburtstag gratulieren. Oder über den Landesparteitag der Link*innen lustig machen, wo man – immerhin! – den Kapitalismus*innen an die Kett*innen legen will – nach der Maxime: Immer die selben Leute treffen sich zu Veranstaltungen, um sich dort gegenseitig zu bestätigen und bejubeln, dass sie auf dem richtigen Weg zur Fünfprozenthürde sind und dass es ganz großartig ist, wenn man halb so viele Stimmen wie weiland die KPD bekommt.

Apropos Weg: Ich musste mir gestern wieder die Frage nach der Zahl 42 stellen, dröselte ich doch stundenlang an eingescannten uralten Dias Fotos, rund zweitausend oder mehr an der Zahl, die zu katalogisieren und den Nachgeborenen zu erhalten ich mir zur Aufgabe gemacht habe, trotz deren zum Teil desaströsen, weil im Original verstaubten Zustands. Ich stellte mir vor, jemand schaute die (wie?) in einem halben Jahrhundert an, eingedenk der oral überlieferten Tatsache, dass der besagte Vorfahre damals in Zeiten, bevor es das Internet als Massenmedium gab, in Lateinamerika auf das Abenteuerlichste herumgereist sei. Ist das in irgendeiner Weise relevant? el pasoOder werden diese Nachfahren verständnislos auf diese Fotos starren und mich für bekloppt erachten, weil ich zum Beispiel 1979 es versäumte, gleich Videos zu drehen – anstatt platt und zweidimensional etwas zu dokumentieren, was für andere ohnehin keinen Sinn ergibt? Ich sage nur: Dias! Wie meinen?

Gestern schaute ich Passagen meines ersten Reisetagebuchs (1979/80) an; einige Stellen hatte ich seit dem Notieren nie wieder gelesen. Merkwürdig, was ich damals wichtig fand! Das Geschreibsel klingt irgendwie hilflos und naiv. Es war meine erste Reise außerhalb Europas, und vorher war ich auch nicht viel herumgekommen. Ich plante ursprünglich, ins kalte Wasser zu springen und allein loszuziehen, aber ein Freund wollte unbedingt mit (was ich später bedauerte, weil wir nicht dieselbe Art des Abenteuerns mochten und oft vor der Option standen, getrennt weiterzureisen. Es war wie in der Ehe eine Frage des Abwägens der Vor- und Nachteile.)

Ich versuchte, mir mich selbst vorzustellen: Die paar Wochen in den USA waren exotisch: New York, New Orleans, das Space Center in Houston (leider ist das Foto, was ich im Kontrollraum gemacht hatte, verschollen), Santa Fe. Aber danach wurde es ganz anders: Mexiko?! Eine mir damals noch ziemlich fremde Sprache – was würde mich erwarten? Und danach: Südamerika? In meinem Tagebuch steht am Anfang nur Belangloses. Erst eine Busfahrt entlang des Rio Grande in Richtung El Paso „weckte“ mich auf: Ritten da nicht die Apachen entlang – oder so? Was macht man eigentlich, wenn man reist?

Ich hatte einfach Glück. Oder macht man instinktiv etwas, was zum größtmöglichen Abenteuer führt? Aus meinem Reisetagebuch:

27.9.1979 Fahrt Santa Fe – Albuquerque – El Paso. Western-Kulisse am Rio Grande entlang. In El Paso drei Mal die Grenze [zu Mexiko, kleines Foto] überquert, da uns beim ersten Mal der Grenzer in Mexiko zurückschickt, weil kein Zug mehr fahre. Beim zweiten Mal sagen wir, laut Touristen-Information, dass wir mit dem Bus fahren würden, Er lässt uns durch. Fahrt mit dem ordinario [Lokalbus] durch das nächtliche Ciudad Juarez. Erste Gespräche auf Spanisch. [Ich habe nie Spanisch „ordentlich“ gelernt. Ich hatte Latein und Französisch in der Schule, der Rest war learning by doing.]

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Hof von Mennoniten in Cuauhtémoc, im Hintergrund eine ihrer typischen Kutschen. Die orthodoxen Mennoniten benutzen keine Autos.

28.09. Kommen im 1.30 Uhr nachts in Chihuahua an. Suchen ein Hotel, es gibt nur eines mit allem Konfort (damals 250 Pesos pro Nacht). Sind zu müde, um ein anderes zu suchen. Frühstück: Tortillas! Fahren mit dem Bus nach Cuauhtémoc. Der Bus ist gerammelt voll. Cuauhtémoc hat einen komischen Bahnhof. Ein Kerl [ein Mennonite], dem die Getreidesilos gehören, spricht uns an. Nachdem er gehört hat, dass wir aus Alémania federal kommen [und nicht aus der DDR], lädt er uns zu sich ein, Wir verbringen den Nachmittag im Café [Ausblick von dort oberstes Foto], trinken zahllose Cola und spielen Schach. Die Bettler kommen uns bis ins Café hinterher. Viele Schuhputzerjungen. Mennoniten in traditioneller Tracht.

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In der Nähe des Bahnhofs von Cuauhtémoc, im Hintergrund Mennoniten-Jungen mit Cowboy-Hut, den alle Männer tragen.

Bei den Mennoniten abends gibt es Bratkartoffeln mit Bouletten. Lange Gespräche. Der Mann behauptet, die Mexikaner enteigneten alle reichen Bauern. Wir kriegen die Adresse seines Sohnes in Belize!

29.09. Frühstück mit anderen Mennoniten. Fresspakete für uns: Brote mit Schinken. Redekop [der Familienname des Mennoniten] organisiert den Fahrkartenverkauf, so dass wir bevorzugt werden.

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Bahnstrecke Cuauhtémoc nach El Sufragio – Ferrocarril Chihuahua al Pacífico

Der Zug nach El Sufragio [Sonora] fährt um 10 Uhr. Keine Schranken an den Gleisen, keine Signaltöne. Kaputte Scheiben, Musik und fliegende Händler. Das Gebirge ist abenteuerlich: 89 Tunnels und 40 Brücken. Zwischenstopp an der Barranca del Cobre [„Kupferschlucht“, Foto ganz unten]. Viele ärmliche Dörfer, die Leute hausen zum Teil ins ausrangierten Waggons. Händler verkaufen Papageien, Tacos, Bananen, Tequila.

Heute weiß ich, dass die Zug „El Chepe“ genannt wird und dass ich auf einer der exotischsten und aufregendsten Eisenbahnrouten der Welt war. Wikipedia zu dieser Strecke: „Von der Hafenstadt Topolobampo an der Pazifikküste führt die Strecke über Los Mochis [dort liegt El Sufragio] nach El Fuerte und schlängelt sich dann durch die zerklüfteten Felsen der Sierra Madre Occidental, vorbei an schwindelerregend tiefen Schluchten und bizarren Felsformationen. Über viele Brücken und durch zahlreiche Tunnel wird ein Höhenunterschied von 2400 m bewältigt. Während der mehrere Stunden dauernden Reise durchfährt der Zug verschiedene Landschafts- und Vegetationsformen: die Pazifikküste mit ihrem subtropischen Klima genauso wie kühle Bergregionen und Kakteensteppen.“

Wir kommen abends um 20 Uhr in Sufragio an und haben sofort Anschluss nach Guadalajara. Eine sehr kesse Mexikanerin, die angeblich in Florida als Diätassistentin gearbeitet hat, gibt uns ihre Adresse und die ihrer Freundin in Lima, Peru.

29.09. Um fünf Uhr am Morgen sind es schon 25 Grad [im Zug]. Sonnenaufgang im Gebirge, dazwischen Palmen im Nebel, davor grünes, wucherndes Gestrüpp. Hinter jedem Tunnel ist ein Postkarten-Motiv. Der Zug braucht 22 1/2 Stunden. Wir sind total verdreckt, aber bekommen zum Glück vom Fraß der fliegenden Händler keinen Durchfall.

War das jetzt wichtig zu erfahren? Wichtiger als die aktuellen Nachrichten? Ich bin ein egoistischer Schreiber und mache, was ich will. Zu meinen Fotos fällt mir oft mehr ein und ich muss mehr recherchieren als etwa bei schlechten Nachrichten zur aktuellen Seuche, Gift oder nicht Gift oder zum gegenwärtigen Vorsitzenden des Ausschusses der herrschenden Klasse in den USA.

barranca del cobre
Kupferschlucht (Barranca del Cobre)

Jefferson Memorial

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Das Thomas Jefferson Memorial in Washington D.C., fotografiert am 22.09.1979 auf der Durchfahrt. (Es folgte eine 33-stündige Busfahrt nach New Orleans.)

Das ist wieder ein hübsches geografisches Rätsel. Offensichtlich habe ich das von Osten aufgenommen; im Vordergrund sieht man das Headquarters National Park Service. Mein Standpunkt war aber höher – wenn man heute etwa die Francis Case Memorial Brücke auswählt, kann man das Denkmal nicht sehen. Von der Main Avenue SW kann man das kleine Gebäude am anderen Ufer gerade noch ausmachen, aber die Perspektive ist zu tief. Ich saß im Bus, also muss es eine Strasse sein. Oder es ist so viel gebaut worden, dass man den Punkt, wo ich damals geknipst habe, nicht mehr finden kann.