Manaus

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Die Fotos von Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas, habe ich 1982 gemacht. Ich bin damals per Schiff von Kolumbien den Amazonas hinunter (vgl. „Am Solimões„, 18.01.2011) gereist und von per Bus dort nach Norden nach Guyana. Ich war auch schon 1980 in Manaus: Damals bin ich aber an der Grenze zu Guyana in einen Fluss gefallen, was den Film und die Bilder aus Manaus ruinierte.

1980 gab es nur wenige Hochhäuser in Manaus, und fast alle Autos waren Volkswagen. Die Brasilianer sind ähnlich dumm und gnadenlos wie US-Amerikaner, wenn es um ihre eigene Geschichte geht, und reißen architektonische Zeugnisse einfach ab, um Platz für das „Moderne“ zu schaffen. Ich glaube nicht, dass von der Kolonialarchitektur heute noch etwas übrig ist – außer von der weltberühmten Oper.

Das oberste Foto zeigt den Hafen, das dritte von oben eine alte Markthalle ebendort (also nicht den Mercado Municipal Manaus). In den Bars dort habe ich Stunden verbracht – bei Mittags 45 Grad im Schatten.

So ist das hier am Amazonas

Brief

Am Rio Amazonas, 2.2.82
Liebe Eltern!
In dem kleinen Ort [Benjamin Constant], wo wir uns gerade aufhalten, haben wir ein Gebäude entdeckt, das stolz den Namen „correios“=Post trägt. So versuchen wir, einen Brief loszuwerden. Wenn er, wie wir vermuten, per Schiff transportiert wird, wird er genau so lange brauchen wie wir – bis Manaus.

Benjami Constant
Benjamin Constant (Brasilien) im Dreiländereck Kolumbien-Brasilien-Peru, Februar 1982

Wir haben gestern Kolumbien verlassen, sind auf die andere Seite des Amazonas übergesetzt und sind den zweiten Tag in Brasilien. Am Donnerstag (wer weiß?) soll angeblich ein größeres Schiff ankommen, das den ganzen Amazonas oder Rio Solimoes, wie er hier heißt, bis Manaus runterfährt. Es wird ca. 115 DM kosten und wahrscheinlich eine knappe Woche brauchen, so daß wir um den 12.2. da ankommen werden.

Brief

In Kolumbien ist alles etwas anders gekommen, als wir geplant haben. Erst haben wir 11 Tage in Bogota verbracht, bis A. [ein Bekannter aus Deutschland] aus Ecuador ankam, sind dann genau so lange nach Ost-Kolumbien in den Bergurwald, haben aber dort herausgefunden, daß absolut keine Möglichkeit besteht, über andere Flüsse als den Amazonas nach Brasilien zu gelangen. In der Trockenzeit ist zu wenig Wasser, oder zu viele Stromschnellen oder Wasserfälle. Man würde ein halbes Jahr brauchen und es gab keine Information über die Indianer in Brasilien.

Wir haben in Bogota noch zwei holländische Anthropologinnen getroffen, die zeitweise im Grenzgebiet Kolumbien / Brasilien arbeiten, die uns auch abgeraten haben, weil alle „Amtspersonen“ in Ost-Kolumbien in Rauschgifthandel verwickelt sind, inklusive der Polizei, die die Schlimmsten von allen sind, und die ab und zu mal einen brauchen zum Verhaften und vorzeigen, und dafür eignen sich unschuldige Ausländer ganz besonders.

solimoes
Der Amazonas bei Leticia, Kolumbien, vgl. „Am Solimões“ 18.01.2011

So haben wir uns noch einmal nach Bogota gewagt und nach einigen Schwierigkeiten einen Flug direkt in den äußersten Südostzipfel Kolumbiens nach Leticia am Amazonas gefunden. Dieser Flug über den Amazonas-Urwald Kolumbiens war ein Erlebnis für sich – 2 Stunden Flug (die Strecke entspricht ungefähr Hamburg-München) und bis zum Horizont der dunkelgrüne undurchdringliche Dschungel, nur unterbrochen von schmalen, braunen Flüssen, die sich in unzähligen Kurven durch den Urwald kringeln. Und dann taucht der Amazonas auf, von doppelter oder dreifacher Breite des Rheins, mit vielen Nebenarmen und Inseln – und plötzlich senkt sich das Flugzeug und landet in einem Ort von 18000 Einwohnern, wo die tropische Hitze (Durchschnittstemperatur 32 Grad!) einem wie eine Mauer entgegenschlägt. Hier ist das Dreiländereck Kolumbien – Peru – Brasilien, und je Land gibt es nur einen Ort, aber viele Bootsverbindungen. A. ist nicht mitgekommen, so daß wir jetzt wieder zu zweit sind.

amazonas

In Bogota haben wir noch zwei SPIEGEL-Ausgaben kaufen können und uns gewundert, wie kalt es in Europa ist (oder war?). Übrigens haben wir bis jetzt nichts verloren trotz aller Diebe, die in Kolumbien herumlaufen. In Brasilien ist alles anders in der Beziehung, die Leute sind viel weltoffener. Wir haben gerade einen Mann kennengelernt, der Brasilianer ist, aber deutsche Eltern und Großeltern hat, die alle in Südbrasilien wohnen. Er ist verheiratet mit einer Frau, die aus Kolumbien stammt, aber einer ihrer Vorfahren war Neger (sie ist braun und hat Kraushaar), besitzt aber einen Pass der USA. Die beiden sind so alt wie wir, sprechen also fließend Portugiesisch, Spanisch und Englisch, der Mann fließend Deutsch, und die beiden Kinder, die sie haben, sprechen Spanisch, lernen in der Schule Portugiesisch, die Mutter bringt ihnen Englisch, der Vater Deutsch bei. So ist das hier.

Wir beide sind jetzt schon 4 1/2 Monate unterwegs und recht gelassen allen Dingen gegenüber geworden. Wir haben noch 1 Monat Brasilien, Guyana und evtl. Surinam, der restlichen vier Wochen werden wir uns auf den Karibik-Inseln erholen und bräunen lassen. Auf jeden Fall werden wir von Manaus + Georgetown [Guyana] noch schreiben.

Serranía de la Macarena
Serranía de la Macarena, Kolumbien

Z. B. noch ein kleines Problem heute morgen: Uns war aufgefallen, daß unser Öfchen sehr stark rußte. Da wir mittlerweile einen ganzen Reparatur-Satz mit uns führen, habe ich ihn deshalb auseinandergenommen. Jetzt muss ich noch etwas zoologisches erklären: ihr kennt vermutlich keine Cucarachas. Das sind in ganz Südamerika verbreitete braune Käfer [gemeint ist die amerikanische Großschabe (Periplaneta americana, ca. 5 cm lang mit ebensolangen Fühlern, die sie eklig hin- und herschwenken. Diese Cucarachas sind eigentlich sehr hilflos, wenn sie auf den Rücken fallen, kommen sie nicht wieder herum, sie beißen auch nicht, sondern sind gaz schlicht eklig. Nachts kommen sie aus ihren Löchern, im Urwald auch tagsüber, und fressen kleine Löcher in die Lebensmitteltüten vorwiegend ausländischer Reisender. Gegen sie ist kein Kraut gewachsen, nur starkes Gift, das aber auch die Lebensmittel ungenießbar macht.

Da sind uns die Ameisen lieber, die wir vorwiegend mit Benzin bekämpfen. Ach so, gegen die Moskitos haben wir in den Abendstunden natürliche Verbündete gefunden. Rund umdie Lampen sitzen kleine durchsichtige Eidechsen an den Wänden, die so ca. alle 10 Sekunden vorschnellen und ein Moskito fressen.

Die Geschichte mit dem Ofen: in der Brennkammer fand ich mehr als 25 kleine und große Cucaracha-Leichen, völlig verkohlt. Da sie die Dunkelheit lieben, waren sie, als wir in Kolumbien im Urwald waren, nachts in den Ofen geklettert, aber morgens nicht schnell genug hinaus, wenn wir Kaffee kochten. Wir hatten uns schon gewundert, daß beim Anzünden jede Menge Cucarachas, einige mit geknickten Beinen, in alle Richtungen auseinanderstoben. Jetzt brennt übrigens der Ofen wieder völlig normal. Aber nur wenige Cucarachas erleben eine Flugreise über den Amazonas-Urwald, dazu als Leiche.

Serranía de la Macarena
Cascadas de Caño union, Meta, Kolumbien

Wo ich so schön hier in der Mittagshitze sitze und schreibe, noch ein paar Geschichtchen.

In Kolumbien haben wir uns von einem Dorf aufgemacht mit Hängematte, Eßgeschirr und Machete, um 2 Wasserfälle [Cascadas de Caño union] zu suchen, die am Rand des Gebirges mehrere 100 Meter hinabstürzen. Morgens um 4, weil es da angenehm kühl ist, ging es los, nach 8 Sttd. kamen wir über einen Pfad, über mehrere halsbrecherische Flußübergänge und Hängebrücken zu einem Dorf mit weniger als 10 Häusern. Bis dahin begleitete uns ein Mann mit Pferd, der dort wohnte. Wir marschierten noch 2 1/2 Std. weiter, is wir den einen Wasserfall in ca. 3 km Entfernung ab und zu durch da Dickicht sahen. Jede Stunde gab es eine kleie Hütte oder Finca, wie sie hier Höfe nennen, wo die Leute unter schwierigsten Bedingungen dem Urwald ihr täglich Brot abringen.

Nach 20 Minuten hatten wir uns völlig verirrt (wir waren zusammen mit A.), und selbst einen Weg mit der Machete (das sind die ca. 50 cm langen Haumesser, die jeder im Urwald trägt, war dem Unterholz nicht mehr beizukommen. Unter großen Mühen fanden wir den Weg zur letzten Finca zurück, entschlossen nun, zu dem Dorf zurückzukehren. Nach insgesamt 13 Stunden Fußmarsch kamen wir dann da an und der Lehrer des Ortes, der gerade seine Schule selbst baute, wies uns einen Platz für unsere Hängematte an.

Serranía de la Macarena
Unter Machetenträgern

Am nächsten Tag fanden Susanne und ich dann den anderen Wasserfall, und am dritten Tag ging es noch mal 9 Stunden zu Fuß zurück bis zu unserem Ausgangsort. An dem letzteren, einem Dorf, [Vistahermosa] wo das Pferd bzw. der Esel das wichtigste Verkehrsmittel its, sind wir 10 Tage geblieben und waren, wie uns eine Frau sagte, „das Wunder des Dorfes“.

Zum Schluß wurden wir von einem Soldaten des „Stützpunkts“ (das einzige Gebäude des Stützpunkts war eine Schilfhütte mit einem ausgedienten Armeefallschirm als Dach) eingeladen. Bei der Ausreise per Bus müssen alle Männer aussteigen und sich von den Soldaten nach Waffen abtasten lassen – Ost-Kolumbien ist nämlich das Operationsgebiet der Guerilleros [der FARC]. Wir wurden bei der Ausreise [gemeint ist Abreise] per Handschlag begrüßt, während sich die anderen Fahrgäste des Busses wohl darüber gewundert haben, was wir wohl für hochgestellte Persönlichkeiten gewesen sind.

Na ja, trotz aller Probleme hat uns Kolumbien eigentlich sehr gut gefallen – wir sind genau einen Monat dageblieben, so daß wir jetzt zwei 2 Wochen hinter unserem Plan herhinken. Aber wir haben noch genug Zeit und auch noch recht viel Geld; wir haben uns selbst gewundert, bei der Einreise nach Brasilien mußten wir 600 US Dollar pro Person vorzeigen (sonst hätten sie uns vermutlich nur unter Schwierigkeiten hineingelassen), aber wir hatten noch 400 mehr und 1000 DM pro Person und Monat wird reichen.

Villavicencio
Villavicencio, meine damalige Freundin knüpfte Bändchen aus bunten Baumwollfäden zu Armbinden und alle Mädchen wollten das auch können…, vgl. In den Llanos, revisited (09.10.2022)

Wir haben in Kolumbien gelernt, Armbändchen aus Baumwolle zu knüpfen, haben uns billig alle möglichen Farben Stickgarn in Bogota verkauft und fabrizieren in Mußestunden wunderschöne Bänder, ganz bunt mit Mustern, jedes Bändchen ca. 1000 Knoten. Heute haben wir gerade eins für 8.50 DM verkauft!

So weit – wir hoffen auf Post in Manaus, auch aus Berlin.

Herzliche Grüße an alle…

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Wie es weiterging, hatte ich schon beschrieben: „Traumhaus und Traumschiff am Amazonas“ (26.10.2021)

Aaliyah oder: Rechts der Bake, links der Bake

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Nach vier 12-Stunden-Tagschichten (3:50 Uhr aufstehen) war mir heute ein wenig nach Leibesübungen, zumal ich plane, im Oktober, wenn ich wieder nach Israel fliege, schon so braun gebrannt zu sein, dass jeder orientalische Sonnenbrand mich flieht.

temperaturÜberraschenderweise war es am Bootshaus kurz vor Mittag total leer. Der Besitzer meinte, es sei den Leute zu heiß. Das ist ja wieder mal typisch: Kaum ist der Sommer da, jammern sie wieder herum, dass es zu warm sei. Wie hätten sie’s denn gern?

Opa erzählt: 1980 in Manaus am Amazonas über 40 Grad im Schatten. 1998 in Elorza, Venezuela – eine Woche lang jeden Tag über 40 Grad. Das bisschen Hitze auf der Havel macht mir nichts aus, zumal dort immer eine leichte Brise weht.

Ich paddelte also wohlgemut in Tiefwerder los, der Weltläufte politischen, ökonomischen und kulturellen Situation der ganzen Welt eingedenk, und sinnierte vor mich hin, hoffend, der Kapitalismus würde irgendwann absaufen.

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Übrigens, weil ich es noch nie erwähnte: Mein Paddel ist von Kober & Moll („Die Marke Kober besteht seit 1886 und ist damit weltweit die älteste Paddel-Fabrik.“). Ich hätte nicht gedacht, dass man mit dem Verkauf von Paddeln allein Geld verdienen kann.

tiefwerder

Ja, es war fast niemand auf der Havel. Als ich sie überquert hatte, weil ich hoffte, am westlichen Ufer ein wenig Schatten zu finden, merkte ich dann doch, dass die Jugend unwiderruflich vorbei ist. Ich musste sogar eine kurze Pause einlegen. Außerdem fiel mir das Ruderblatt ab, und ich musste auf ein mit Vogelscheiße vollgeschissenes Dock Brett krabbeln, um das Teil wieder zu befestigen.

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Eine Frage an die hier mitlesenden Kapitäne, Leicht-, Schwer- und Vollmatrosen: Das Schiff auf dem Foto unten (ich habe nach Norden geknipst) fährt östlich der roten Bake nach Süden. Was erlauben? Ich dachte immer, die müssten mehr mittig in der Fahrrinne bleiben, weil die Bake befielt, zwischen ihr und dem Ufer nicht durchzuflutschen?

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Kurz vor dem Pichelssee kan mir noch ein ziemlich großer Pott entgegen, der aber offensichtlich leer war (oder vielleicht nur Federn geladem hatte). Der Name kam mir komisch vor. Ich befürchtete schon, dass Araber jetzt auch Schiffe kaufen und damit lärmend herumfahren.

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Jetzt weiß ich, dass vermutlich die Sängerin Aaliayh gemeint ist. Binnenschifffahrende Profis oder Leute, die zu viel Geld für Unsinn ausgeben, können jederzeit sehen, wo das Schiff gerade ist. Es hieß früher GMS Saphir, gehört jemanden aus Niedersachsen und wurde 1973 in Mainz gebaut.

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Immer, wenn der Couponschneider Don Alphonso in der bürgerlichen Presse über Berlin herzieht und die Stadt „Reichshauptslum“ nennt, denke ich, dass er einerseits völlig recht hat, aber andererseits gilt: Es kommt darauf an, wo man ist. An der Havel im alten Westen ist es idyllisch…

Havel

Hühner und andere Geschichten

Brief

Bogota, 4.1.81

Liebe Eltern!
Wir haben euren Brief heute bekommen – vielen Dank! Andererseits haben wir den Eindruck, daß unsere Post aus Nicaragua nicht überall angekommen ist. Wir haben für über 50 DM Postkarten und Briefe aus Managua und Leon losgeschickt und bis jetzt noch keine Reaktion. Wir vermuten aber, daß wegen der chaotischen Bürokratie alles zu spät angekommen ist. –

Zuerst mal, wie es weitergeht. Wir warten zur Zeit noch auf einen Freund aus Nürnberg, der aus Ecuador und Peru hierher unterwegs ist und mit dem wir weiterreisen wollen. Von hier aus bis Manaus in Brasilien werden wir höchstwahrscheinlich keine Post schicken, das sind 4 Wochen Dschungel, macht euch keine Sorgen. Falls ihr die Tour auf einer Karte verfolgen wollt – ich weiß nicht, was drauf ist. [Kleinere Orte waren auf den Karten bzw. Atlanten, über die meine Eltern verfügten, oft nicht zu finden.]

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Villavicencio in den Llanos Kolumbiens, fotografiert 1982.

Von Bogotá südöstlich nach Villavicencio, von da aus entweder mit dem Lastwagen oder Privatflugzeug nach Miraflores und Mitu am Rio Vaupes fast an der brasilianischen Grenze. – Das wird ca. 2-3 Wochen dauern, weil wir noch zu einigen Indianerdörfern in der Gegend wollen. Wir hoffen, daß es einen Grenzübergang in der Nähe von Mitú gibt (oder per Boot) nach Taracua Richtung Icana in Brasilien, von da aus auf den Nebenflüssen des Amazonas (bes. Rio Negro) bis Manaus. [Aus dem Plan wurde nichts, weil wir weder ein Flugzeug noch ein anderes Transportmittel in die Richtung fanden. Wir sind irgendwann zurück nach Bogotá und dann nach Leticia geflogen.]

Wenn sie uns in Mitú nicht rüberlassen, müssen wir zurück und vielleicht von Leticia in Kolumbiens Südzipfel ein Schiff auf dem Amazonas bis Manaus nehmen [was wir dann taten]. So, das zum weiteren Verlauf der Reise.

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Der Amazonas bei Leticia in Kolumbien

Bis jetzt ging von Nicaragua aus alles ziemlich glatt bis auf einige kleinere Unannehmlichkeiten wie z.B. einem 3-stündigen Warten auf meinen Pass bei der Ausreise aus Nicaragua, weil sie den Ort nicht kannten, wo wir eingereist waren [Leimus]. In Costa Rica an der Grenze stopften sie jeden Reisenden mit 4 Tabletten voll, die ihn gegen Malaria schützen sollen. Wenn man aber sowieso schon welche nimmt wie wir jetzt tun, ist das aber gefährlich. Eine andere Touristen konne einen Tag kaum etwas sehen. Es war aber auch kein Arzt da und der Mensch und ich haben uns angebrüllt. Wir haben dann die Dinger nur zum Schein in den Mund genommen und später wieder ausgespuckt..

In San José, Costa Rica, haben wir gemütlich Weihnachten gefeiert in einem erstklassigen Restaurant mit Schweizer Spezialitäten (4 Gänge, Suppe, Pastete, Truthahn mit Salat und Kroketten und Eisbecher für 15 DM). Costa Rica hat einen wahnsinnig guten Umtauschkurs für US-Dollar und wir haben sehr gut gelebt, obwohl ich die ersten drei Tage Durchfall, schreckliche Blähungen und ständiges Aufstoßen hatte. Wir fanden zufällig einen winzigen Laden, in dem in alter Chinese Krimskrams verlaufte (wir suchen nach Stäbchen, weil sie in vielen einfachen China-Restaurants keine haben). Da fanden wir eine kleines Flasche mit China-Öl, was man bei uns eventuell gegen Schnupfen nimmt. Auf der Gebrauchsanweisung war „interne Anwendung“ überall durchgestrichen. Der alte Chinese lächelte verschmitzt und sagte – auf Spanisch natürlich – daß 4 Tropfen Öl mit Wasser alle Magenprobleme beseitigen würden, nur dürfte er dafür keine Reklame machen. Und so war es auch!

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Kurz vor Silvester sind wir dann nach Panama-City, wo wir euren Brief auch erhalten haben. Die Stadt und die Leute haben uns sehr gut gefallen, daß wir uns entschlossen haben, Neujahr dort zu feiern. Der Panama-Kanal ist wirklich eine technische Meisterleistung, aber darüber mehr in Dias.

Silvester hatten wir über 30 Grad und es war schon etwas exotisch, Neujahr ausgerechnet da zu verbringen. Wir wollten ursprünglich anrufen, aber 3 Minuten kosten über 50 DM und R-Gespräche gehen nicht, weil Panama mit Deutschland darüber keine Abmachung getroffen hat.

Am 2.1. [1982] sind wir ins Flugzeug gesteigen und nach Medellin, Kolumbien, geflogen. Die Einreise verlief glatt, nur war es Sonntag und es gab keine Möglichkeit, Geld zu tauschen. Wir wollten bloß per Taxi zu einer Busgesellschaft, die nach Bogota fährt, weil man uns gewarnat hatte, in Medellin herumzulaufen wegen Räubereien und Dieben. Schließlich nach langer Fragerei fanden sich ein paar Flughafenpolizisten, die ihr privates Geld zusammenkratzten und uns unsere Dollar tauschten. Bei dem Busunternehmen mußten wir noch ein paar Stunden warten, ständig alle Leute belauernd, und dann ging es ab nach Bogota.

Dort hatten wir das seltene Vergnügen, mit einem 42-jährigen Chevrolet (!) ins Hotel gefahren zu werden. Hier fahren viele uralte amerikanische Straßenkreuzer herum. Das Hotel ist sicher (das ist hier die Hauptsache), sauber und die Leute freundlich, nur auf den Straßen geht es manchmal anders zu. Ein Australier aus unserem Hotel hatte Pass, Geld und Kamera in einer Umhängetasche (selbst schuld!), ging am hellichten Tag auf der Hauptstraße spazieren, solange, bis 4 Männer um die Ecke kamen und ihn aller seiner Sachen beraubten. Jetzt muss er mit Hilfe der Botschaft wieder nach Hause, der Arme.

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Hotel Aragon, Bogotá, Kolumbien 1982

Wir haben übrigens heute nach 4-stündigen Verhandlungen und Bürokratentum die 1000 DM erhalten, die Hartmut uns geschickt hatte und sind wieder gut bei Kasse, weil wir in Nicaragua viel gespart haben. Ich weiß gar nicht zu schätzen, wie viel Pfund Papier die Bank dafür gebraucht hat. Ohne Spanisch ist man in Kolumbien völlig hilflos. –

Nach ein paar Stunden kannte ich mich sogar wieder aus hier. [Ich war zum zweiten Mal in Kolumbien]. Wir haben unsere Wertsachen alle am Körper und im Gürtel, die Kamera in der Hostentasche darüber eine Rolle Klopapier, die ein bisschen herausguckt, damit alle wissen, was in der Tasche ist. Tragen sonst keine Taschen und haben italienische Lira (die 1000-Lira-Noten machen bei Dieben einen guten Eindruck) und ein paar 1-Dollar-Scheine, bei uns nur im Falle eines Falles. Vor uns in der Bank stand ein Mann, der nicht sehr solide [gemeint ist seriös] aussah und wollte einen 1000-Lire-Schein wechseln, was aber nicht ging. Er wußte aber nicht, daß es nur ein paar Mark sind. Vermutlich hatte er einen Touristen beraubt, der ihm die Lira angedreht hat und sich jetzt kaputtlacht wie wir.

Morgen werde ich die Frau anrufen, die ich vor 2 Jahren in Peru kennengelernt habe, eine Kolumbianerin mit dunklem Vater. Sie wohnt in einem absoluten Reichenviertel, und wir werden werden vielleicht Zugang zu den „höheren“ Kreisen finden. Es wäre auch vermutlich gut, für den Dschungel noch irgendwelche Empfehlungsschreiben zu haben für die örtlichen Behörden. Tief im kolumbianischen Urwald gibt es auch einen Ort, der Berlin heißt. –

Was mir gerade einfällt: Bei euren Briefen habt ihr jetzt beim Absender alle Sprachen für „Deutschland“ durch italienisch und französisch, aber auf Spanisch heißt es einfach ALEMANIA mit einem L. Das ist aber nicht so wichtig, und die nächsten Briefe gehen jetzt in Länder, wo portugiesisch oder Englisch gesprochen wird.

Punta Gorda
Punta Gorda, Belize

Noch ein paar lustige Erlebnisse, die mir gerade einfallen. In Belize haben wir in einer Hängematte in einer Hütte geschlafen, und an einem Morgen fand ich in meinem Schlafsack ein noch warmes Ei. Ein Huhn wohnte wohl sonst dort da und ließ sich beim Eierlegen gar nicht stören. – In Granada in Nicaragua lief auch immer ein Huhn in unser Zimmer, was ein Fenster hatte und zu ebener Erde lag. Nachdem ich es zum wiederholten Male wieder hinausgejagt hatte, lag ich auf dem Bett – ohne Brille -, als sich das Fenster bewegte und was großes Braunes hineinguckte, wie das Huhn immer. Ich brüllte: Raus, du Scheiß-Huhn!, aber es war nur Susannes Kopf, den ich ohne Brille mit dem Huhn verwechselt hatte. Jedenfalls haben wir den ganzen Tag gelacht und tun es immer noch, wenn das Gespräch auf Hühner kommt.

In Managua hatten wir unser Öfchen in Betrieb gesetzt, um Frühstück zu machen. Die anderen Gäste in der Herberge fanden das so aufregend (so etwas gibt es hier nicht), daß sie sich Stühle nahmen und sich im Kreis um den Ofen setzten wie zum Fernsehprogramm. Wir konnten vor Lachen kaum unseren Kaffee trinken. –

Heute saßen wir in einem Café bei einer Tasse Kaffe, als der Kellner kam und uns einfach unsere Löffel wegnahm, ohne etwas zu sagen. Vermutlich hatten sie davon nicht genug, aber ich muß noch immer lachen, wenn ich mir das in Deutschland vorstelle.

Die nächsten kleineren Erlebnisse kann man kaum beschreiben, sie machen aber auch den Reiz der Reise aus. Oder könnt ihr euch vorstellen, wie sehr wir uns gefreut haben, als wir in Panama den ersten Waschsalon nach 3 Monaten sahen? In einer Wäscherei waschen wir nämlich nur kalt, und unsere Wäsche kam fast genauz so wieder heraus wie vorher.

Wir haben jetzt schon 3 Pakete mit Souvenirs nach Hause nach Berlin geschickt, 1 von Mexico und 1 von Costa Rica und 1 von Panama, aber unsere Rucksäcke wiegen immer noch fast 20 kg.

panama
Altstadt von Panama

Das wär’s erst einmal, die Post hier ist ziemlich sicher und der Brief wird wohl ankommen. Also wie gesagt, der nächste Brief höchstwahrscheinlich erst in 4 Wochen nach der Ankunft dieses Briefes bei euch… [Der Brief kam am 19.01.1982 an.]

Regenzeit

Rio Mamore

Trinidad, 22.2.80 [gemeint ist nicht die Insel Trinidad, sondern die Stadt in Bolivien, angekommen in Unna 1.3.]

Liebe Eltern!
Im Augenblick stecken wir in einer kleinen Siedlung im Norden von Bolivien seit 5 Tagen fest. Es gibt keine Straßen nach Norden zur brasilianischen Grenze, wo wir hinwollen, keine Flugzeuge, weil das Flugzeug der Linie, mit der wir fliegen, in La Paz festsitzt, weil die Piste des „Flughafens“ (Graspiste) vorher unter Wasser stand und alle anderen Flugzeuge bis März ausgebucht sind. Schiffe bzw. Lastkähne, mit denen wir heruntergeschaukelt sind bis hierher, gibt’s auch nicht, weil der „Hafen“ (nur 10 Holzhäuser) völlig unter Wasser steht. Jetzt wissen wir, was Regen ist, denn es hat seit drei Tagen und drei Nächten geschüttet wie aus Eimern und alles ist überschwemmt.

Das Dschungelgebiet im Norden Boliviens ist 1/3 so groß wie die BRD, aber es gibt nur drei Siedlungen mit mehr als 1000 Einw., sonst nur Flüsse und Dschungel. Wir wollen mit einer Militärmaschine zu einem Dorf hoch im Norden an der Grenze, von dort gibt’s eine Straße nach Brasilien + weiter nach Manaus am Amazonas. Mit einem Lastkahn dauert es 5 Tage, so viel Zeit haben wir nicht. Ich hoffe, daß das komische Flugzeug in den nächsten Tagen endlich losgeht – wenn es nicht wieder regnet.

Allerdings gab es im Büro der Militärs in den letzten Tagen, wo wir alle 2 Stunden hingerannt sind, sehr unterschiedliche Informationen von denselben Personen: 1. das Flugzeug fliegt nicht, weil es regnet, 2. sie fliegen nicht, weil Karneval ist, 3. das Flugzeug ist mit nur einem Motor gelandet und sie können es nicht reparieren, 4. die Elektronik ist ausgefallen, 5. das Flugzeug ist von La Paz gestartet, aber wir wissen nicht, wo es ist (!!!). Es ist zum Ausflippen.

Unternehmen kann man auch nichts, weil die „Stadt“ nur aus ein paar Straßen besteht und praktisch von der Außenwelt nur per Flugzeug erreichbar ist – und es fliegt eben keines in die richtige Richtung – leider.

Wir sitzen den ganzen Tag am der Plaza, trinken Kaffee oder sonstige leckeren Sachen, gucken uns die nassen Palmen und riesigen Gummibäume an oder spielen Schach oder Rommee oder schreiben Briefe. Und alle 2 1/2 Stunden heißt es im Flugbüro: Wir informieren 3 Stunden später!

mine san jose Oruro
Silbermine San Jose in Oruro, Bolivien

Ansonsten ist Bolivien sehr schön, der große Geheimtip in Südamerika. Die Leute sehr freundlich und ausgesprochen höflich, aber mit der üblichen Südamerika-Mentalität, wenn’s heute nicht geht – mañana – morgen. Wir waren zwei Wochen auf dem Altiplano, das ist das Andengebiet, die Städte inkl. La Paz liegen alle über 3000m hoch. In Oruro haben wir eine Silbermine besichtigt nach langem Hin- und Herfragen – sehr interessant, die Mine sieht aus wie eine Mischung aus Korallenriff und Tropfsteinhöhle, überall hängt grünen oxidiertes Kupfer herunter und dazwischen glitzernde Silberadern. Die Arbeit ist sehr anstrengend, wie bei uns vor 50 Jahren. Die mineros waren auch sehr erstaunt über uns, weil normalerweise keiner reinkommt – vielleicht will die Verwaltung nicht, dass die Gringos was über die Arbeitsbedingungen erfahren. Außerdem verdienen die Bergleute umgerechnet 2.30 DM pro Tag, sehr wenig auch bei den Preisen, denn 1 Essen in einem billigen Restaurant kostet schon 2 DM!

Die Städte sind aber wesentlich sauberer und gepflegter als in Peru, die schönsten Plätze mit riesigen Palmen und unwahrscheinlich bunten Blumen (was in Deutschland mühselig gezüchtet wird, wächst hier wie Unkraut – trotz der Höhenlage) gibts hier. Selbst in Potosi, zur Zeit der Spanier wegen seiner Silberminen die größte Stadt ganz Amerikas, das aber 3900 m hoch liegt, wachsen Palmen!

sucre
Sucre, die Hauptstadt Boliviens, La plaza 25 de Mayo, Februar 1980

Und obwohl die Busse im Vergleich zu Peru reine Luxusbusse sind, haben wir schon 3 Buszusammenbrüche hinter uns. Beim letzten montierte der Busfahrer abends um 9 beim Schein einer Taschenlampe mitten auf der Straße (ohne Absperrung!) die Hinterachse raus, weil das Hinterrad immer eine andere Richtung wollte als der restliche Bus – und jede 10 Minuten, wenn ein Auto kam, hämmerte er die Achse wieder rein, weil sonst kein Platz auf der Straße gewesen wäre. Wir waren nach 2 Std. bedient und sind getrampt, aber haben es nur geschafft, weil zwei sehr hübsche Bolivianerinnen einen Bus angehalten und uns als ihre Begleiter ausgegeben haben – die ganze Meute aus unserem Bus wollte nämlich auch mit und der andere Busfahrer wollte nur 2 Leute mitnehmen – uff!

Wir sind bis hierher auf einem kleinen Lastkahn einen Urwaldfluß abwärts gefahren, haben den ganzen Tag in der Hängematte gelegen und uns die Dschungelbäume beguckt. Die Ruhe brauchten wir auch, denn es gab nur Flußwasser zu trinken (der Fluß ist eine schmutzig-braune Brühe) und wir hatten leichte Magen- und Darmbeschwerden – aber Hygiene ist ein eigenes Kapitel.

puerto villaroel
Puerto Villaroel am Rio Mamoré, Boliven 1980.

In 5 Tagen gab es 1 Dorf, wo wir auch angelegt haben, aber in der einzigen Kneipe buw. dem Krämerladen gab es nur eine einzige (!) Flasche Bier, und unser Kapitän war schneller als wir. Ursprünglich wollten wir noch 1 Woche im Norden ganz tief in den Dschungel zu den Kautschukzapfern und uns mal ein paar Krokodile und Affen „live“ ansehen [dazu bin ich erst 1984 gekommen], aber wir sitzen ja hier fest und haben das gestrichen.

Zum Glück ist unser „Hotel“ ganz nett, man kann in einem teilweise überdachten Hof sitzen und auch essen, denn selbst wenn es hier gießt, kühlt es sich kaum ab, es sind immer 25° und mehr, und wenn es trocken ist, sind es über 30. Aber das Nichtstun nervt uns ganz schön. Wir sind auch schon etwas wieder auf Europa eingestellt [wir waren schon fünf Monate unterwegs], weil wir jetzt die 2000 km rauf nach Guyana nur mit einem Stop in Manaus machen, weil wir erst unsere Flugbuchungen in Georgetown bestätigen lassen müssen und dann erst wieder eine Woche Zeit haben, um in Guyana etwas zu unternehmen.

Und außerdem wollen wir ja noch ein paar Tage in Barbados am Strand liegen, daß wir wenigstens knackig braun sind, obwohl wir jetzt auch schon ganz schön braun sind.

Hier gibt’s auch einen ganz kleinen putzigen Papagei im Hotel, der überall herumkrabbelt und alles anknabbert, vor allem Kugelschreiber und Zehen. Wenn man ihn anflötet, piepst er zurück und krabbelt das Hosenbein hoch bis auf die Schulter oder den Kopf. Vielleicht ist es auch ein Kakadu, denn einen großen Papagei haben sie auch und der sieht etwa anders aus, aber sehr würdevoll.

Aus Berlin werden wir ja bis zu unserer Rückkehr nichts mehr erfahren (…). Mein Auto wurde wohl abgemeldet – leider. Sonst geht#s uns gut, auch gesundheitlich, ich hoffe, auch allen auch. Macht euch keine Gedanken, denn gefährlich wird es jetzt nicht mehr besonders – Hauptsache, der Flug mit den Klapperdingern klappt. Wenn ihr den Brief bekommt, bin ich hoffentlich schon tief in Brasilien, wenn nicht schon in Guyana. Bis dann, viele liebe Grüße…

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Ein Mädchen auf der Mario Angel, einem „Seelenverkäufer“ auf dem Río Mamoré im Dschungel Boliviens.

Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt

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Leider muss ich das Publikum mit einem Luftpostbrief belästigen, den ich vor 45 Jahren aus Südamerika an meine Eltern geschrieben habe, 17 Seiten auf hauchdünnem Papier (um Porto zu sparen: Aerogramm). Ich werde immer noch schamrot, wenn ich lese, was für einen Unsinn ich damals meinte von mir geben zu müssen. Man kann das nicht unkommentiert lassen; manches ist auch schlicht falsch. Die Rechtschreibung habe ich nicht verändert. Einiges ist doppelt (hier schon einmal erwähnt), weil ich damals nicht wusste, ob die Briefe überhaupt ihr Ziel erreichen würden.

Wie ich hier schon schrieb: Die Adressaten wussten fast gar nichts über die Länder Südamerikas oder auf dem Niveau des Bertelsmann Volkslexikons. Für mich wird es interessant, wenn ich meine heutige Sicht mit der von damals vergleiche oder mit den Briefen, die ich 1984 bei meiner dritten halbjährigen Reise schrieb – die waren ganz anders, aber auch nicht so, wie ich heute schreiben würde.

Vermutlich werden sich die Nachgeborenen auch nicht mehr vorstellen können, dass man überhaupt Briefe schrieb. Heute steht man von überallher ständig in Kontakt und schreibt zudem die sozialen Medien voll. Beim Verfassen des Briefes war ich drei Monate unterwegs gewesen und hatte die USA, Mexiko, Belize, Guatemala, Honduras, Kolumbien und Ecuador gesehen und war quer durch Peru gereist. Ich hatte keinen Reiseführer, und meine Kenntnisse über die Länder beschränkten sich auf Allgemeinbildung und Karl May. Schon witzig, dass ich mich damals – nach der Hälfte der Reise – als „erfahren“ fühlte. „Erfahren“ hätte ich mich vielleicht am Ende der 2. Reise 1980, die zum Teil viel abenteuerlicher und auch gefährlicher war, fühlen können.

Cuzco, [richtig: Cusco] 21.1.1980 (angekommen 2.2.80)

Liebe Eltern!
Leider weiß ich nicht, ob meine Briefe bisher angekommen sind, weil ich seit Kolumbien keine Post mehr bekommen habe (Anf. Nov.). Der letzte Brief ist in Quito, Ecuador, losgegangen, und seitdem ist sehr viel passiert und wir haben sehr viel erlebt. Zunächst einmal: Uns geht es ausgezeichnet, gesundheitlich wie stimmungsmäßig, finanziell wie üblich knapp.

Heute sitzen wir in einem kleinen Café in Cuzco im Süden von Peru und hören zum 2. Mal seit 4 Monaten Klassik – Tschaikowsky, und sind ganz glücklich nach den ewigen Schnulzen hier. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie begeistert wir über kleine Dinge sein können – ein bisschen europäische Musik, eine funktionierende Dusche (seit Quito habe ich nicht richtig heiß geduscht!) oder eine deutsche Zeitung. Seit Berlin gab es kein Schwarzbrot mehr, an Fleischsalat kaum zu denken – aber das sind Kleinigkeiten.

Von Quito sind wir eine Woche im Urwald von Ecuador gewesen – in einem kleinen Dorf gab es eine Anakonda als Haustier im „Hotel“. Bootsfahrten über Dschungelflüsse, schreiend bunte Papageien + Schmetterlinge + Stromschnellen, die uns manchmal Angst einjagten.

Stellt euch z.B. vor, man fährt 8 Std. mit einem urtümlichen Gerät von Bus zwischen Hühnern, Schweinen und viel zu viel Passagieren über Schotterpisten durch die Anden, durch Pässe von 5000m Höhe (!), und plötzlich reißen die Wolken auf und 1000m weiter unten dunkelgrüner Dschungel bis zum Horizont – und der Bus braucht 3 weitere Stunden über endlose Serpentinen nach unten. Ab und zu sind die Brücken über die Flüsse eingestürzt und man muß Stunden warten, bis die Fähre kommt. Nach einer Nacht Regen führen die Flüsse so viel Wasser und sind so reißend, daß sogar Stahlbrücken einstürzen – wir haben eine gesehen!

Im Süden von Ecuador waren wir in einem kleinen Ort – Banos (d.h. „Bäder“), der direkt unter einem noch tätigen Vulkan, d. Tungurahua, liegt und wo es heiße Schwefelquellen gibt, in denen wir gebadet haben. Wir hatten nichts besseres zu tun, als den Vulkan zu besteigen– eine 3-Tage-Tour mit leichtem Gepäck. Zuerst ging es zu einer Hütte auf 3600m Höhe – eine unbeschreiblich schöne Pflanzenwelt gibt’s dort oben – Heidekraut, Krüppelkiefern mit Moosen und Flechten bewachsen, die bis auf den Boden hängen, unzählige bunte Blumen und dazwischen Nebelschwaden.

Das Schönste war der Sonnenaufgang mit Fernsicht über 150 km und Blick auf mehrere schneebedeckte 6000er Vulkane, u.a. den Chimborazo, den höchsten Vulkan der Welt. Ich bin dann noch weitere 5 Std. hoch über Geröll, Felsen und Gletscher bis zum Vulkankrater auf 4800m (der Gipfel liegt etwas über 5000 und ist nur für Bergsteiger mit Ausrüstung begehbar). Sehr komische Gefühle bekommt man, wenn überall aus den Ritzen und Spalten heiße Dämpfe aufsteigen!

Wenn ich alles schreibe, was wir erlebt haben, wird der Brief zu lang, also nur einige Episoden.

Ferrocarriles Ecuatorianos
Das Foto habe ich 1979 an der Bahnstrecke zwischen Guayaquil (eigentlich Durán) und Quito gemacht. Zuerst veröffentlicht 15.03.2023.

– Eisenbahnfahren in Ecuador ist lustig – auf der Strecke von Riobamba nach Guayaquil an der Küste fährt ein Pullman-Zug aus der Jahrhundertwende, mit knallrot angestrichenen Holzwaggons und einer ebenso putzigen Dampflok, die keuchend die Anden rauf und runter schnauft, wie im Wilden Westen! Der Zug hält in den Dörfern wie eine Straßenbahn mitten auf der Straße, und ringsum Holzhäuser mit Saloon, ein wahnwitziges Getümmel von Leute und Pferden. Ihr braucht euch nur mal einen Wildwest-Film anzusehen – es staubt sogar genauso.

Dann ging unser Geld fast aus und wir mußten nach Lima, Peru. Wir sind die ganze Strecke von von Guayaquil, Ecuador, bis Lima, Peru, an einem Stück gefahren, 57 Stunden Transport auf Zementlastwagen und Busfahren mit Reifenpannen.

Der Küstenstreifen von Peru (über 1300km!) ist eine Sandwüste wie in der Sahara – bis zum Horizont nur Sand, Sand und noch mehr Sand mit riesigen Wanderdünen und Oasen mit Palmen [Die Strecke habe ich 1984 fotografiert]. Wir lagen nachts hinten auf der Ladefläche eines Lasters, sahen einen unbeschreiblich schönen Sternenhimmel, ringsum Sandwüste, und der Wagen rauscht mit einer Staubwolke die Straße entlang. Wir sahen allerdings aus wie die Räuber, ein Tuch vor dem Gesicht, Bartstoppeln – ich hatte leider Durchfall und mußte in den Oasen mitten auf dem „Bürgersteig“ (morgens um 1/2 5 war zum Glück keiner auf der Straße – nur die Dorfhunde guckten ganz interessiert). Die letzten 24 Stunden hatte wir die Nase voll und sind mit dem Bus gefahren.

Lima, die Hauptstadt von Peru, hat wenig Sehenswürdigkeiten zu bieten, wenn man in die Außenbezirke fährt, sieht es aus wie nach einem Bombenangriff, alles total zerfallen, Slums, bettelnde Kinder, alles total verdreckt – vielleicht kann ich durch Fotos einen Eindruck verschaffen. Peru ist ein sehr armes Land. Ich glaube, 4 oder 5x so groß wie Deutschland, nur 20 Mio. Einwohner [heute 34,4 Mio.], allein 6 Mio. in Lima, also ziemlich „leer“. Die gutgestellten Bauern verdienen ca 100 DM im Monat!

Wir brauchten inklusive Hotels, Restaurants + Andenken jeder 400 DM in 5 Wochen, so billig ist es hier! Ein Essen mit Suppe und Getränk kostet 1.20 DM, allerdings ist die Qualität nicht mit Europa zu vergleichen, aber hier gibt es eben nichts! Die Bauern ziehen alle in die Stadt, weil sie glauben, mehr verdienen zu können – dabei stimmt das überhaupt nicht. Ganz Lima ist voll vom fliegenden Händlern, die buchstäblich alles verkaufen – unbeschreiblich – vor Weihnachten war die Hölle los.

Nach Lima sind wir mit der höchsten Eisenbahn der Welt (über 4.800m!) [heute nur noch die höchste Eisenbahn in Amerika] zu einer Landkooperative gefahren, d.h. eine ehemalige amerikanische Hazienda, die enteignet wurde und von den Bauern kollektiv bewirtschaftet wird. Die Leute sind unglaublich gastfreundlich – Touristen aber auch so gut wie unbekannt. Wir wurden bei einer Familie zum Essen eingeladen – der Mann ein sonnengebräunter Indio, der uns zur Begrüßung umarmte, seine Frau ganz dick mit 4 oder 5 Röcken, langen schwarzen Zöpfen und einem großen weißen Hut (d.i. hier die Tracht und auch oder gerade die alten Frauen sehen alle sehr hübsch aus) und zum Essen gab es —drei Meerschweinchen! Wenn man nicht daran denkt, schmeckt es gut, nur wenig Fleisch, aber bei der Armut verständlich, daß die Leute zu Tieren ein anderes Verhältnis haben als wir. [Es existierte ein Fotos dieses Mahls, aber ich habe es weder veröffentlicht noch gefunden.]

Rente oder Versicherung gibt es nicht, die alten Leute leben von ihren Kindern – und ihr könnt euch vielleicht denken, mit welchen Gefühlen wir uns verabschiedet haben. Sie entschuldigten sich dafür, daß sie so „schlecht“ vorbereitet gewesen waren – dabei hatten sie selbst kaum etwas zu essen.

Wir haben hier (die Kooperative nennt sich SAIS Tupac Amaru, das heißt so viel wie „landwirtschaftliche Interessengemeinschaft“ – Tupac Amaru ist ein Indio, der vor 200 Jahren den Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier angeführt hat und dafür gevierteilt worden ist) vieles über die Verhältnisse in Peru erfahren.

Nach 4 Tagen sind wir dann langsam weiter in den Süden Perus, haben malerische Indiomärkte besucht, einen 45-Std.-Horror-Trip mit dem Bus von Ayacucho nach hier über 5000er Pässe, Fernsicht aus dem Bus wie von einem Schweizer Alpengipfel, Lamaherden auf kahlen Hochebenen, bitterarmen Hirtenkindern und 8stündigem Steckenbleiben des Busses im Schlamm (hier ist Regenzeit, d.h. aber, es regnet nur nachts oder nur ein paar Stunden täglich, sonst scheint die Sonne.)

zeichnung

Unser Bus, links ein liegengebliebenes Auto (in einer Kurve!), rechts 700m Schlucht. Oben ca. 20 Hühner, ein Schwein, hinten in einer Klappe ein Schäferhund, ca. 70 Gepäckstücke auch noch auf dem Dach – und alle Passagiere mussten beim Überholmanöver aussteigen, damit es im Falle eines Absturzes nur 1 Toten gegeben hätte!!! Die „Straße“ nur Schotter und Schlamm. Mir wurde es recht mulmig.

Jetzt mal was über die letzten 2 Wochen. Cuzco im Süden ist die alte Hauptstadt der Inkas, deren Reich von den Spaniern im 16. Jahrhundert zerstört wurde. Ihr müsst wissen, daß ca. 3/4 der Bevölkerung Perus Indos sind, d.h. Nachfahren der Inkas, die kaum Spanisch sprechen, sondern Quechua, eine uralte Sprache, die eigentlich gar nicht in schriftlicher Form existiert. [Der Unterschied zwischen dem Quechua der Inka-Zeit und dem von heute ist so groß wie der zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch.] Ich habe mal ein bisschen gelernt, es ist aber so schwer wie Chinesisch. Z.B. heißt „Feind“ in Quechua „auca“. Die Aucas [sie heißen Huaorani – nur die Inka nannten sie Auca – im Sinne von „Barbaren“] sind ein Indiostamm im Dschungel von Ecuador. Das Inkareich erstreckte sich im 16. Jh. von Quito, Ecuador bis nach Chile! Die Inkas kannten das Rad nicht, haben aber 6m breite Straßen gebaut von Cuzco nach Quito, über 5000km lang! Alle paar Kilometer gab es kleine „Raststätten“ für die Läufer (Pferde gab es nicht) mit Bädern.

Die Inkas hatte nur einen Fehler – sie waren friedfertig [das ist natürlich totaler Unsinn!] und besaßen haufenweise Gold – und die Spanier mit ihrer europäischen „Kultur“ haben alles kurz und klein geschlagen. Die Landwirtschaft heute ist auf einem niedrigeren Stand als damals, weil die Inkas Terrassenanbau bis auf 4500m Höhe betrieben haben, heute ist alles verfallen. So, das zur Einführung für das Folgende.

Die Häuser von Cuzco sind noch auf den alten Inkamauern gebaut – d. sind teilweise Felsbrocken bis 30 Tonnen (wie haben die die ohne Maschinen bewegt?), die so miteinander verfugt sind, daß man an einigen Stellen kein Messer dazwischen stecken kann – und ohne Mörtel! Obendrauf stehen viele spanische Kolonialkirchen, die aber bei den verschiedenen Erdbeben wegen der „fortschrittlichen“ europäischen Bauweise fast alle zusammengefallen sind, während die Inkabauwerke noch alle stehen.

Die berühmteste Sehenswürdigkeit Südamerikas ist die alte Ínkastadt Machu Pichu, ca. 120km von Cuzco in den Bergen – ich glaube, irgendwer in der Verwandtschaft hat eine Postkarte mit Machu Pichu bekommen. Man kann mit einem Zug hinfahren, wir sind nach 88km aufgestiegen (Hartmut + ich + und noch ein Belgier) und haben uns mit Rucksack, Zelt, Gaskocher, Haferflocken, Wasserflasche, Kaffee, Milchpulver, Schlafsack + Kleinigkeiten in die Berge geschlagen. Es gibt die letzten 33km vor Machu Pichu eine alte Inka“straße“, eben weil die Inkas keine Fahrzeuge kannten, haben sie ihre Wege per Luftlinie in die Berge gebaut.

Wir haben für die Strecke 5 Tage gebraucht, der 1. Pass war über 4200, der 2. 3800, der 3. 3500m, aber das war mit mein schönstes Erlebnis in Südamerika, aber auch sehr anstregend. Nachts haben wir meist in halbverfallenden Inkaruinen übernachtet, die alle hoch auf den Gipfeln sind – und jeder Sonnenauf- und -untergang war überwältigend – die 6000er Kordilleren Perus im Hintergrund. Teilweise sind die Wasserleitungen der Inkas noch heute in Betrieb, obwohl sie seit 400 Jahren nicht mehr erneuert wurden, und wir konnten uns mit eiskaltem Gebirgswasser waschen und hatten was zum Kochen.

inca trail
Aufstieg am Morgen im Nebel, ca. 4.000 Höhenmeter, auf dem so genannten „Inca trail“ oder auch camino de los Incas nach Machu Picchu, Peru. Das Foto zeigt meinen damaligen Reisebegleiter (Januar 1979). Zuerst veröffentlich am 02.04.2021.

Dabei gibt es keine Dörfer, kein Haus, nichts als Gegend! Hier im Gebirge ist außerdem gerade Frühling, leider kann ich die Orchideen, die hier wie Unkraut wachsen, nicht mitbringen!

Leider können die Fotos nicht viel vom Eindruck vermitteln, z.B. die vorletzte Nacht – nur ein Beschreibungsversuch. Wir sitzen alle an einem Lagerfeuer in einer Inkaburg, ein Sternenhimmel wie im Bilderbuch, 750m weiter unten fast senkrecht in einer Schlucht ein reißender Fluß (Rio Urubama), steile Hänge, von tropischer Vegetation überwachsen (auf 3000m Höhe! Schneegrenze bei 4000-4500m), Unten verschwindet die Sonne gerade noch hinter der „Veronica“ (über 6000m!), rechts rauscht ein Wasserfall, das Feuer flackert über dem Gemäuer, wir essen Haferflocken und stellen uns vor, wie alles vor 500 Jahren ausgesehen hat. Überall auf den Ruinen blühen Orchideen, die Fotos müssten ein bißchen von dem Eindruck wiedergeben können.

Am 6. Tag sind wir bei Sonnenaufgang vom „Sonnentor“ (2700m) einen alten Pfad runter nach Machu Pichu, um ein paar Stunden ohne Touristen ruhig alles besehen zu können (die kommen mit dem Zug um 10 und werden mit Bussen über eine halsbrecherische 8km-Serpentinenstrecke nach oben gekarrt). Leider ging ausgerechnet da mein Fotoapparat kaputt (ist schon wieder repariert), aber unser belgischer Freund hat einen besseren und wir werden die Fotos tauschen bzw. ihm abkaufen [was nicht passiert ist, aber ich habe Machu Picchu dann 1984 fotografiert].

Machu Pichu ist von den Spaniern zum Glück nicht entdeckt worden und so noch ziemlich erhalten, hoch über dem Tal, aber zwischen noch höheren Bergen (die Berge sind so steil wie in den Dolomiten, aber mit Regenwald bewachsen). Die Stadt ist sehr geheimnisvoll, man weiß eigentlich nichts über ihre Funktion. Man hat hier über 100 weibliche Mumien [gemeint sind Skelette] gefunden, warum nur Frauen, weiß man auch nicht, vielleicht waren es Priesterinnen, vielleicht waren die Inkas matriarchalisch organisiert, vielleicht waren die Männer im Kampf gegen die Spanier gefallen?

Ich werde alles besser erzählen, jedenfalls als die ersten Touristen kamen und und verwundert anstarrten, waren wir schon wieder auf dem Marsch die Serpentinen runter zur Bahnstation. Eisenbahnfahren in Peru ist noch abenteuerlicher, aber auch etwas unangenehm, weil die Züge fürchterlich überfüllt sind, für europäische Verhältnisse unvorstellbar. 3 Personen auf einem, Sitz, jede Indiofrau hat einen Riesensack dabei, auf dem Gang steht, liegt und sitzt alles, Kinder schreien, fliegende Händler verkaufen Früchte, Schnaps (Chicha aus Mais, schmeckt so wie Alsterwasser, aber ein bißchen besser, ein Glas kostet 10 Soles, 1 DM=145 Soles) und Gebäck und zu allem Überfluß klettert der Schaffner über alles hinweg. Bei jeder Station gibt es ein Drama, Trauben von Leuten hängen draußen an den Türen, die Frauen kreischen und heulen – jeder deutsche Bahnangestellte würde einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen kriegen. Fahrpreise 100km =1 DM!

Aber für Normaltouristen sind solche Touren unmöglich, aber so kriegt man mit, wie die Leute hier wirklich leben. Es gibt einen „Touristenzug“ nach Machu Picchu, der 3000 Soles kostet, der Normalzug kostet 270, 3000 Soles sind ein Wochenverdienst! In Cuzco gibt es genug amerikanische und europäische Touristen mit dem Geld für 3 Wochen, was wir in drei Monaten brauchen und ihr könnt euch sicher denken, was der peruanische Indio für ein Verhältnis zu ihnen hat. Hunderte von bettelnden Kinder und Frauen, Schuhputzjungen von 8-10 Jahren, Kinder von 6,7, und 8 Jahren (wirklich!), die abends in den Restaurants Zigaretten verkaufen, kaum ein Hemd am Körper, total verdreckt und zerfetzt und hungrig. Da vergeht einem das „ach, wie süß“, wenn man wieder mal einen der schwarzäugigen Indiokinder im Wickeltuch auf dem Rücken der Mutter sieht.

Huancayo
Das Foto habe ich in 1979 Huancayo im Hochland von Peru gemacht. Zuerst veröffentlicht am 05.11.2011.

Ich habe sehr viel Geduld aufbringen müssen, um ein paar realistische Fotos zu machen. Ein Bekannter von mir, der recht unbefangen touristisch drauf losknipsen wollte, wurde von Marktfrauen mit heißen Kartoffeln beworfen und mußte wieder abziehen.

Es gibt sogar Leute, die, ohne ein Wort Spanisch zu können, hier hinfahren, was die hier wollen, weiß ich nicht. Ich glaube, ich bekomme langsam ein Gefühl dafür, was eigentlich „Entwicklungshilfe“ bedeutet.

So, morgen machen wir uns auf die Reise nach Bolivien (La Paz). Die politischen Verhältnisse sind ein wenig unsicher, Straßen- und Ausgangssperre – in Bolivien kann jederzeit wieder ein Putsch kommen. Aber macht euch mal keine Sorgen, wir haben uns bisher immer durchgebissen und werden das auch weiter tun. Ich spreche schon fast fließend Spanisch und wir haben ja auch schon eine ganze Menge Südamerika-Erfahrung und können eine Menge verkraften.

(…) Wir ändern die Route. 2 Wochen Anden von Bolivien, dann durch den Dschungel in den Norden (es gibt keine Straßen, aber in der Regenzeit müßte man von Dorf zu Dorf mit dem Boot kommen) an die brasilianische Grenze, dann weiter nach Norden nach Manaus (Brasilien) direkt am Amazonas, weiter nach Norden nach Boa Vista in den Süden von Guyana, von Georgetown je nach Zeit und Geld (ab La Paz haben wir zusammen noch 2000 DM, das müßte reichen) [drei Monate für zwei Personen] nach Surinam [das haben wir später aus Zeit- und Geldmangel weggelassen], Ende März von Guyana nach Barbados (vielleicht bleibe ich noch eine Woche in Trinidad), je nachdem ob ich aus Berlin Post nach La Paz bekomme oder nicht, dann spätestens am 28./29.3. zurück nach Luxemburg. Seid unbesorgt, wenn ihr keine Post mehr bekommt, wir schicken Karten vielleicht von Manaus + Georgetown, aber wer weiß, ob die ankommen! Und wenn ihr die bekommt, sind wir fast wieder da. Wir werden wahrscheinlich abǵeholt und kommen zuerst in Unna vorbei, ich fahre dann weiter nach Berlin, komme aber, sobald die Fotos fertig sind, für längere Zeit nach Unna. (…)

Die ursprünglich geplante Route über Sao Paulo und Rio dauert zu lange, und Rio ist sauteuer und wir wollen nicht hetzen. Die Entfernungen hier sind ja auch ein bisschen anders, allein der Dschungel von Bolivien im Norden, den wir in 14 Tagen „machen“ wollen, ist so groß die die ganze BRD!

Vielleicht noch ein paar allgemeine Sachen. Seit Kolumbien habe ich kein Klavier mehr gesehen. Nur 2x bisher hatte ich „Darmgeschichten“, beide Male in Peru (Hygiene ist hier ein unbekanntes Wort, aber wer denkt daran, die Töpfe vor dem Kochen zu waschen, wenn es kein Trinkwasser gibt, selbst in den Städten?), in Cuzco eine Woche lange mit Erbrechen und Magenkrämpfen, aber das hat hier jeder Europäer, der nicht gerade im Hilton übernachtet. Unsere Mägen haben sich schon abgehärtet, wenn andere Gringos nach einem Essen auf dem Markt oder nach Chicha-Genuß (mit Spucke von den Indiofrauen zubereitet!) den großen Durchfall bekommen, sind wir noch quietschvergnügt – aber bitte: über Schwarzbrot, Fleischsalat und Vanillepudding in Unna wäre ich trotzdem glücklich.

(…) Das Verhältnis zu anderen Rucksack-Reisenden hat sich mittlerweile gewandelt, jetzt sind wir die „alten Hasen“ und geben den anderen Tips. Es ist manchmal lustig zu sehen, wie unerfahrene „Gringos“ (das ist hier der Ausdruck für Ausländer) von den ausgekochten Indiofrauen fürchterlich über’s Ohr gehauen werden, auch wenn es nur um Pfennige – für uns! – geht. Ich habe gestern zum Beispiel 20 Minuten gefeilscht, nur um ein paar Strümpfe um 30 Pfennige billiger zu kriegen und habe Erfolg gehabt. Z.B. auf den Märkten: ein Alpaca-Pulli kostet 10 DM. Der erste Preis liegt bei 20 DM und man braucht eine halbe Stunde, um ihn herunterzuhandeln – was wäre das ohne Spanisch! [US-]Amerikaner zahlen sowieso das Doppelte und Deutsche mit umgehängter Kamera auch. Eine Banane kostet 8-10 Soles (1 DM= 145 Soles), der „Gringopreis“ liegt bei 20, aber nach einem kurzen „Pläuschchen“ kostet sie plötzlich nur noch die Hälfte. Wir haben auf einem Markt für Indios buntbemalte Früchte gekauft, eine für 3-4 DM, die in Europa nicht unter 50 DM zu haben wären [ich habe nicht herausgefunden, ob es die überhaupt außerhalb von Peru oder online zu kaufen gibt] – aber wir können das auch nicht alles transportieren – und jeder bekommt nur eine Kleinigkeit. 1 Schachtel Zigaretten in Peru kostet 23 Pfenning, 1 „Hotel“übernachtung 1,50-2 DM (das letztere schon gut!), Tagesdurchschnitt bei 10-12 DM (dafür kostete die Kamera-Reparatur 20 DM) – wenn ich das mit den Berliner Preisen vergleiche – ich habe wohl ein anderes Verhältnis zu Geld bekommen und die Umstellung wird recht groß sein. Vielleicht muß ich Taxifahren auch wieder lernen.

Hygiene: heute morgen wollten wir duschen – das Wasser floß spärlich und was eiskalt, nach dem Einseifen blieb es dann ganz weg! Klospülung gibt es so gut wie gar nicht in ganz Südamerika, die Leute werfen das Papier daneben und man gewöhnt sich mit der Zeit an den Anblick der Reste vom Vorgänger. Vielleicht ist es schwer zu vermitteln, warum wir das alles überhaupt machen und wieso es uns trotzdem gefällt. Einerseits sind die Leute hier unvorstellbar (für Europa) freundlich und hilfsbereit, wenn man sich nicht wie der „reiche Onkel“ benimmt und das werden wir vermissen. Andererseits lernt man zu begreifen, daß sehr viele Dinge, die man für selbstverständlich hielt, eben nur in Europa vorhanden sind, auch, was die Mentalität angeht. Die Indios sind wie die Kinder, sie freuen sich über Kleinigkeiten und erwachsene Männer sehen mit offenem Mund den Feuerschluckern und Zauberern auf den Märkten zu. Andererseits ist eben alles chaotischer, nichts funktioniert „ordentlich“ – aber wir in Europa haben vielleicht 500 Jahre mehr gebraucht dazu, was will man verlangen?

Sucre
Burks auf der Mauer des Klosters „la Recoleta“ in Sucre, der Hauptstadt Boliviens. Zuerst veröffentlicht am 25.12.2010.

Aber es sieht so aus, als wenn die Leute hier vieles aus Europa unkritisch übernehmen, die Reichen sitzen in teuren Bars und essen amerikanische Hamburger, weil es „schick“ ist, obwohl Gemüse auf den Märkten viel gesunder wäre. Die Indiotracht, handgewebte Wolle, hält vielleicht 10 Jahre, aber die Leute in der Stadt tragen Synthetic-Zeug in den unmöglichsten Farbkombinationen, das hält halb so lange und ist außerdem für die Witterung unpraktisch. [Das ist vermutlich Quatsch.] Viele bewundern die Europäer, die viel Geld haben und weite Reisen machen, wo viele nicht einmal das Geld haben, um den Bus zum nächsten Dort zu bezahlen – und das bei den Preisen! Schulbildung bei den einfachen Leuten ist so gut wie nicht vorhanden, wir wurden gefragt, ob man mit dem Bus nach „Alemania“ fahren könnte.

Selbst Studenten wissen ohne Ausnahme (!) nichts über Berlin – aber wer in Deutschland weiß schon, wo Ecuador liegt? Oder Belize? Wir sind die große Sensation: Im Dschungel von Ecuador waren wir abends in einer Kneipe, wo Arbeiter Billard spielten – wir wurden nach jeder Kleinigkeit in Europa ausgequetscht und mußten selbstverständlich nichts bezahlen – stellt euch vor, 2 Südamerikaner mit Rucksack kämen nach Unna, wer die ansprechen oder gar zu seinen Eltern zum Schweinebraten einladen würde (Meerschweinchen gibt’s ja nicht)?

So, in Cuzco wird es jetzt heiß, 25 Grad und mehr zur Mittagszeit, heute Abend muss man wieder einen Pullover anziehen – [unleserlich] wenn wir – hoffentlich am Freitag – in La Paz angekommen sind, dann geht der Brief ab.

La Paz, 26.1.
Nun sind wir schon in der Hauptstadt Boliviens [die Hauptstadt ist Sucre]! Ankunft gestern nach ein paar schönen Tagen am Titicacasee und Einreise ohne Schwierigkeiten. Wir haben Probleme, unsere Rückflüge zu buchen, ich habe in Berlin angerufen, weil die Briefe an mich immer noch nicht angekommen sind (…) Ich komme Ende März, genau wann, weiß ich noch nicht – wenn es Schwierigkeiten gibt, melde ich mich noch mal. Das ist der letzte Brief. [Ich habe später noch einen geschrieben.]
Tschüß bis Ende März
Was ihr mit dem Schmetterling anfangt, weiß ich nicht, aber mir geht er kaputt. Er ist vom Rio Napo, einem Nebenfluß des Amazonas in Ecuador. [Offenbar hatte ich einen toten Schmetterling in den Brief gelegt. Von dem habe ich aber nie wieder etwas gehört.]

Drei Fenster

machu picchu

Postkarte am meinen Großvater (väterlicherseits) am 05.01.1980 aus Cusco, Pero, wenige bevor ich zu meinem ersten Marsch nach Machu Picchu aufbrach. Das Foto zeigt den Tempel der drei Fenster, den ich natürlich auch fotografiert habe.

Ich werde erst bei dieser Karte wieder daran erinnert, dass ich auf meiner ersten halbjährigen Reise eigentlich von Bolivien nach Brasilien wollte, und von dort aus über Surinam nach Guyana. Aber da ich mich mit meinem Reisebegleiter nicht einig wurde, habe ich letztlich nachgegeben, und wir sind von Bolivien über den Rio Mamoré nach Puerto Velho und von dort nach Manaus am Amazonas.

machu picchu

Angeln am Amazonas

solimoes

Leider habe ich keine Fischbestimmungsapp. Falls hier Angler mitlesen: Welche Fischart könnte das sein?

Amazonas ist nicht ganz korrekt, die Mutter aller Flüsse (vermutlich vom indianischen Wort Amassona: „Schiffezerstörer„) wird von den Brasilianern Solimões genannt. Das Foto habe ich 1982 gemacht, ein paar hundert Kilometer westlich von Manaus. Ich bin damals per Schiff von Kolumbien den Amazonas hinunter (vgl. Am Solimões, 18.01.2011, sowie Am Solimões, revisited II, 17.06.2022) gereist und von Manaus per Bus nach Norden nach Guyana.

Warm und still (fast) [Update]

san fernando de atabapo

Ein stiller und sehr warmer Sonntagnachmittag in San Fernando de Atabapo am Orinoco (1998). Wait a minute. Still? Ganz hinten ist der Kirchturm der Parroquia San Fernando zu sehen. Ich stand also ungefähr zwei Blocks nördlich davon. Der Ort ist so klein, dass die Straßen keine Namen haben.

Ich wanderte so vor mich hin, als urplötzlich ein infernalisches Getöse über mich hereinbrach, so laut wie drei Techno-Partys gleichzeitig, nur in sehr schlechter Qualität. Der Pfaffe des Ortes hatte irgendwo an der Kirche eine Lautsprecheranlage angebracht, deren Klang vermutlich bis auf die andere Seite des Flusses nach Kolumbien reichte, um seine Schäfchen zum Gottesdienst zu bitten. Jeder wäre ohnehin aus seiner Siesta aufgeweckt worden. Es war grauenvoll und hörte auch für eine Weile nicht auf. Ich weiß gar nicht, ob es Musik war oder irgendwie muezzinmäßig.

Ich sehe gerade, dass Google jetzt einige Hinweise gibt, wo was ist. Ich erkenne meine Herberge von damals wieder – sie heißt Hotel Pendare, ist gestrichen und hat ein gemauertes zweites Stockwerk bekommen. 1998 hieß das Etablissement noch Cafe Orinoco und bot eine grandiose Aussicht auf die Flüsse Rio Atabapo und Rio Guaviare. Vor dem Eingang ist auch eines meiner Lieblingsfotos entstanden. Die Ausstattung der Zimmer war aber nur etwas für extrem hartgesottene Globetrotter. Ich wüsste gern, ob das Mädchen vom Lande sich noch an mich erinnert…

Man braucht nur vier Tage von Berlin bis Puerto Ayacucho, wenn alles gut geht. Aber dann weiter den Orinoco hinauf wird es extrem kompliziert – immer noch. „Verkehrstechnisch ist die Stadt durch einen Flughafen und einen kleinen Hafen angebunden“, behauptet das deutsche Wikipedia. Haha. Die Tide des Orinoco und seiner Nebenflüsse ist bei San Fernando zwar nicht 12 Meter wie des Amazonas bei Manaus, aber Bootstege kann man dort nicht bauen – die würden in der Regenzeit weggeschwemmt oder wären dann nur für U-Boote. Das spanische Wikipedia ist realistischer „El transporte fluvial en Atabapo está compuesto por 4 embarcaciones (llamadas coloquialmente voladoras) que prestan el servicio Samariapo-Atabapo-Samariapo: El Suricato, La Roca, Nautisa y Autana. Actualmente no existe ningún transporte con destino fijo a otro municipio del Estado Amazonas“.

No existe ningun. Kein Transport, nirgends. Also nur vier Boote für die ganze Region, die halb so groß ist wie ganz Deutschland, und von denen garantiert so viele oder so wenige schwimmfähig sind wie die bei der Bundesmarine. Damals gab es nur eins, und ob die Reise damit losging, hing davon ab, ob der Kapitän und Besitzer sich am Abend vorher mit Damen vergnügt und vollgesoffen hatte oder nicht. Das erzählten mir die Mitreisenden.

[Update] Ich habe noch ein Foto gefunden, dass ich bei dieser – oben erwähnten – Reise per Boot gemacht habe – in Samariapo. Dorthin hatte uns ein LKW aus Puerto Ayacucho gebracht und damit die unbefahrbaren Stromschnellen des Orinoco umgangen. Vermutlich habe ich das Foto unweit des Comando Fluvial Puesto Samariapo geschossen.

samariapo

Achte auf das große Brüllen

solimoes

Der Oberlauf des Amazonas wird von den Brasilianern Solimões genannt. Das Foto habe ich 1982 gemacht, ein paar hundert Kilometer westlich von Manaus. Ich bin damals per Schiff von Kolumbien den Amazonas hinunter (vgl. Am Solimões, 18.01.2011) gereist und von Manaus per Bus nach Norden nach Guyana.

Die Hütte wird vermutlich nur zeitweise benutzt. Dem Pororoca könnte sie nicht standhalten.

Am Solimões, revisited I

manaus
Unser Kochgeschirr samt Benzinofen im „Hotel“zimmer in Manaus (Brasilien).

10.12.1981 Wir erreichen Manaus in der Nacht. Wir machen uns früh auf zum Hotel Fortaleza, das mittlerweile 700 kostet [[ich war 1980 schon einmal in Manaus – vielleicht das in der Rua Saldanha Marinho N°321; in meinem älteren Reisetagebuch steht aber die Rua dos Barés – dort habe ich kein Hotel Fortaleza gefunden]. (…)

Am nächsten Tag hat das Studentenhotel, wo fast alle anderen (die gestern schon weiter nach Santarem/Belem gefharen sind) übernachten, keine Plätze für Frauen, dafür aber „Mensaessen“ für 200.

Salesianer-Museum [Museu do Índio] typisch für paternalistische Art der „Indianerbehandlung“ in Brasilien: Statistiken, wie viele zur „salesianischen Familie“ gehören und wie viele noch im „primitiven Stadium“ verharren. (…) auf den Fotos sind alle sittsam gekleidet, besonders schlimm die Jubelbilder über die „Integration“ – stramm stehende Schulkinder vor Militärmaschinen. Ein kleines Modell: „Wie richte ich eine Mission ein“.

Mich beeindrucken nur die Krüge und die Waffen. Sie tranken fermentierten Alkohol und Kokosmilch. [Fortsetzung morgen]

Traumhaus und Traumschiff am Amazonas

benjamin constant

Nachtrag zu Am Solimões (18.01.2011) – Tabatinga Benjamin Constant am Amazonas, der in Brasilien bis zur Mündung des Rio Negro Solimões genannt wird.

Von Benjamin Constant bis Manaus sind es mehr als tausend Kilometer. Wir waren eine Woche per Schiff unterwegs.

Ich schrieb am 14.12.2004: „Wenn man weiß, dass die Tide in Manaus mehr als zwölf Meter beträgt, kann man ahnen, welch unbändige Urgewalt hier am Werk ist. Der Amazonas fordert heraus, und niemand hat eine Chance gegen ihn. Und deshalb ist der Reisende auf einem Schiff nur auf ihm geduldet.“ In Tabatinga ist die Tide des Amazonas noch nicht so hoch.

Aus meinem Reisetagebuch, 5.Januar 1982:
„Am nächsten Morgen schüttet es. Wir schaffen es gerade noch, zum DAS zu kommen. Ausreisestempel [aus Kolumbien] gibt es ohne größere Probleme, obwohl sich der Mensch natürlich erst einmal zwei Mal beim Datum vertut. Wir müssen ein Taxi für 1000 (!) nach Tabatinga nehmen. Dort bei der Policia Federal müssen wir beim dunkelhäutigen Einreisebeamten 600 US Dollar cada persona vorzeigen. Sie sind freundlich, aber kaum zu verstehen. Der erste Eindruck von Tabatinga ist natürlich sehr vom Regen verwischt. Die Fähre kostet 400.“

Jetzt muss ich mich korrigieren. Ich wunderte mich über meinen Tagebuch, weil dort nach Tabatinga Benjamin Constant, auch Brasilien, folgt. Umgekehrt würde auch gar keinen Sinn machen, weil Tabatinga die Grenzstadt zu Kolumbien ist und man einfach laufen kann. 2012 habe ich hier die „Skyline“ des brasilianischen Ortes gepostet, inklusive der markanten Catedral, und die gehört eindeutig nicht zu Tabatinga, sondern zu Benjamin Constant. Wir haben also in Tabatinga nicht übernachtet, sondern sind mit der Fähre nach Benjamin Constant gereist.

Weiter im Tagebuch:
„Benjamin Constant unterscheidet sich sehr von Leticia [Kolumbien]. Die Häuser sind den Umständen entsprechend gepflegt. Sogar gejätete Vorgärten gibt es. Nirgendwo fehlt die Mülltonne vor dem Haus. Straßenbeleuchtung, saubere Kneipen, manchmal mit Samba.

Das Hotel Pousada São Jorge [das gibt es tatsächlich noch!] ist total vollgehängt mit Wäsche, aber wir können kochen und haben Platz für die Hängematten, während zwei komische Schweden lieber das teuerste Hotel am Ort nehmen.

Drei Bayern mit dementsprechenden Hüten (und das am Amazonas!). Drei Schweizer, die sich gerade für 1200 $ ein Boot bauen lassen [Foto unten] und damit bis Belém fahren wollen. Sie laden uns ein mitzukommen. Wir sind erst angetan, aber der Fluss soll sehr gefährlich wegen der Strudel sein, die [vermutlich sollte das Boot einen Scheinwerfer bekommen] sind ausgeleuchtet, aber keiner von ihnen weiß wie, sie haben noch nicht einmal eine Karte. [Wir haben abgelehnt.]

Ein Engländer aus Leticia. Ein Costaricenser, der Schnickschnack verkauft. Ein Brasilianer mit deutschen Vorfahren und kolumbianischer Frau, die Kreolin ist (das gibt viersprachige Kinder!) – sie sind den Putumayo einen Monat lang runtergefahren [per Einbaum – die hatten ein Baby dabei, aber kaum Geld und sind so mitten durch den härtesten Dschungel Kolumbiens gereist. Ich sprach mit dem Mann Deutsch – er war in meinem Alter -, und seine bildschöne Frau verstand kein Wort und machte sich immer lustig über den Klang des Deutschen und imitierte ihn wie wie Adenoid Hynkel].

Es gibt eine Kirche, die jeden Morgen die Leute mit flotter Musik unterhält – unmöglich bei uns! An den Ufern und Nebenarmen des Rio Solimões sieht es aus wie in der Karibik.

Das Schiff, die Marcia Maria, ist ein wahrer „Luxus“dampfer, wenn man von den Platzproblemen absieht. Es gibt eine tadellos funktionierende Dusche, ein sauberes Klo usw. Die Brasilianer schrubben sowieso ihre Schiffe mehr als woanders [Bolivien, Kolumbien usw.]. Es gibt jede Menge Wasserfilter und sonstige Kleinigkeiten, die das Leben im Dschungel erleichtern. Nur der ganze Müll kommt natürlich in den Fluss, auch das Öl.

benjamin constant

Porto de Ceasa, revisited

porto de Ceasa

Die Ankunft der Fähre von Porto do Careiro Castanho am Solimoes (Amazonas, Brasilien) in Porto de Ceasa. (Den Bus, mit dem ich von Porto Velho nach Manaus gereist bin, hatte ich am 05.11.2020 hier schon gezeigt.) Das Foto ist vom 26.02.1980.

Porto de Ceasa

porto de Ceasa Brasil amazonas

Die Ankunft der Fähre von Porto do Careiro Castanho am Solimoes (Amazonas) in Porto de Ceasa. Mit dem Bus auf dem Bild bin ich von Porto Velho nach Manaus gereist.

Aus meinem Reisetagbuch, 24.02.1980 [Porto Velho]:
Brasilianisches Portugiesisch ist das letzte: Ich verstehe kein Wort. Wir fragen uns trotzdem durch zur Busgesellschaft Rondonia. [Scheint es nicht mehr zu geben.] Im Bus [von Guaramirim] quatschen wir mit Kenneth, der einen schottischen Vater und eine deutsche Mutter hat und recht gut Deutsch spricht. Er lädt uns in sein Appartement ein und bezahlt auch noch das teure Taxi.

Kenneth arbeitet in irgendeiner Landwirtschaftsbehörde. Jedenfalls hat er nicht viel zu tun. Es gibt Kaffee aus großen Kanistern. Er führt uns über den Markt von Porto Velho, und wir probieren alles aus: Ein Getränk aus Cupuaçu, Tapioka (schmeckt wie Maniok mit Zimt, lecker!), Tambaqui, ein wahnsinnig großer Fisch. Eine Gemüserolle mittags schmeckt auch ausgezeichnet. Das Essen ist vergleichsweise teuer, aber auch um mehrere Klassen besser als in Bolivien.

[Was nicht in meinem Tagebuch steht, was ich aber nie vergessen werde: Auf dem Markt begegnete uns ein Mann in sehr ärmlicher Kleidung, der seinen zerfetzen Hut abnahm, in den Händen drehte und unseren Gastgeber Kenneth in unterwürfiger Haltung bat, die „reichen ausländischen Herren“ – also uns! – zu fragen, ob sie nicht Arbeit für ihn hätten.]

Wir gehen noch in ein Eisenbahn-Museum. Alle Lokomotiven sind schon sehr schrottig.

Kenneth hat sich mehrere Flächen Land gekauft, 200 km südlich von Porto Velho, 500 Hektar für 40.000 DM. Die Leute aus den südlichen Regionen Brasiliens kommen alle in den Norden und arbeiten für die Grundbesitzer. Die Indianer hätten zwei seiner Leute umgebracht. So etwas hören wir auch von der Busstrecke nach Boa Vista, wo wir nach Manaus hinwollen. Aus irgendwelchen Gründen greifen die Indianer nur in der Nacht an, deswegen warten die Busse vor dem gefährlichen Gebiet, bis ein Konvoi zusammen ist.

Der Bus nach Manaus kostet 1022 Cruzeiros – wir nehmen versehentlich den Luxus-Bus, der doppelt so teuer wie der normale Bus ist, weil wir nicht kapieren, dass leito „mit Liegesitzen“ bedeutet. Nur drei Sitze nebeneinander! Mit Kopfkissen, großen Colaflaschen, Kaffee und Bonbons.

26.02. Wir kommen um ca. acht Uhr am Rio Solimoes an und warten eine Stunde auf die Fähre. Ich rede mit dem Busfahrer, der sogar einen Schlips trägt. Der erzählt, dass er studieren wollte, aber dass ihm die Regierung das nicht erlaubt habe, weil er bei den Studentenunruhen vor 12 Jahren mitgemischt hat.

Marcia Maria und reisende Rassisten

marcia maria

Mit der Marcia Maria war ich 1982 zehn Tage unterwegs auf dem Rio Solimões (Amazonas), von Tabatinga bzw. Benjamin Constant in Brasilien bis nach Manaus.

„Reiselustige Personen, so heißt es, sind weitaus weniger rassistisch. Das ist natürlich grober Unsinn. Selbst den größten Fremdenfeind begeistert eine schöne Aussicht. In Wahrheit reisen vor allem Rassisten. Die glauben in fremden Ländern etwas anderes zu finden als immerzu das Ewiggleiche. Am schlimmsten sind die Weltenbummler, ehemals Landstreicher genannt. Landstreicher aber konnten noch etwas. Oft waren das vorzügliche Taschendiebe, Trickbetrüger oder unterhaltsame Tölpel. Die Weltenbummler können gar nichts. Die brauchen auch nichts mehr zu können, weil sie nicht die Armut treibt, sondern ihr stumpfsinniger Reichtum. Die wollen niemanden berauben. Die wollen sich nur selbst bereichern. Und das nicht einmal mit Geld, denn davon haben sie genug. Nein, sie wollen Erlebnisse. Sie müssen ständig etwas erleben, um nur ja nicht leben zu müssen. Und sie wollen Erfahrungen. Sowohl gute als auch schlechte. Sie wollen lieber Erfahrungen sammeln, anstatt Wissen anzuhäufen.“ (Lisa Eckhart: Omama)

Hula Hoop

manaus hula hoop

Wer kennt noch Hula Hoop? Ich kann mich vage erinnern, dass ich als Kind die Erfindung bestaunt habe. Das Foto habe ich im Februar 1982 in Manaus (Brasilien) gemacht.

In den Spelunken Leticias

solimoessolimoessolimoes

Leticia am Amazonas im Süden Kolumbiens. (Die Fotos hatte ich hier schon gepostet, aber nicht die Passage aus meinem Tagebuch.)

Aus meinem Reisetagebuch, etwas erweitert:
Am Eingang der Stadt steht ein Schild: 18.000 Einwohner, temperatura 32o [Grad Celsius]. Viele kleine Läden mit allem, mit dem man handeln kann. Ein paar Schiffchen im Kleinformat. Manchmal sieht man „zivilisierte“ Indianer – die Physiognomie ist hier schon im Durchschnitt anders als im Hochland, rundlicher, die Menschen sind in der Regel kleiner.

Die wenigen Ausländer treffen sich unvermeidlich abends in den nicht sehr Vertrauen erweckenden Spelunken am Fluss mit dazu passendem Publikum. Ein Engländer erzählt uns von einem Überfall in Cali: zwei Polizisten hätten auf ihn eingeschlagen – sie wollen 300 Dollar haben. Sie schleppten ihn in sein Hotel, weil niemand seine Schecks hätte wechseln können, mit Wachtposten vor der Tür. Ein Freund lenkt den Mann mit einer Prostituierten ab, der Engländer kann seinen Konsul anrufen. Der wiederum ist mit dem Polizeichef befreundet. Es wird hin- und her telefoniert, alles ist informell – Südamerika eben. Am nächsten Tag rückt ein Kommando der DAS an, des Departamentos Admistrativo de Seguridad – die „Drogenpolizei“ und sorgt für Ordnung. Mit denen ist normalerweise nicht gut Kirschen essen. Die DAS verhält sich zur normalen Polizei Kolumbiens wie die GSG 9 zu einem Verkehrspolizisten. Der Engländer ist jedenfalls freigekommen, ohne seine Barschaft zu verlieren. Und vermutlich hat der Konsul den Polizeichef dann beim Golf gewinnen lassen oder so ähnlich.

Irgendwann stößt ein völlig betrunkener deutschstämmiger Kolumbianer zu uns, der alle Getränkerechnungen bezahlt.

Am nächsten Morgen gibt es einen Flaggenaufzug mit schräger Militärmusik und einem „Gleichschritt“, bei dem sich jeder Preuße schaudernd abwendet. Auf dem Fussballplatz läuft jemand mit einem DDR-T-Shirt herum, wo auch immer er das aufgetrieben hat. Ein Kolumbianer wird von seinen Landsleuten angemacht, weil er während der Nationalhymne sitzen bleibt.

Tabatinga ist der erste Ort in Brasilien. Die Grenzbeamten möchten gern 600 Dollar pro Person vorgezeigt bekommen, mittellose gringos dürften nicht einreisen. Ich verstehe kein Wort von dem merkwürdigen Portugiesisch, was hier gesprochen wird. Wir haben 1600 Kilometer per Schiff auf dem Amazonas vor uns. Bis Manaus werden wir zehn Tage brauchen.

Am Solimões also known as Amazonas und noch was zwischendurch [Update]

amazonas

Der Amazonas, dessen Oberlauf in Brasilien Solimões genannt wird; hier der Anflug auf Leticia im Süden Kolumbiens (ungefähr hier).

Es ist zu spät, um noch etwas Kluges zu schreiben, etwa über das Förmchenweitwerfen zwischen Don Alphonso und Panorama und….

strobl

Das ist ja lustig. Ich wollte soeben etwas zu der Dame, die mir bis jetzt nicht wirklich bekannt war, auf Twitter nachsehen. Ich habe – soweit ich mich erinnern kann – noch nie etwas zu ihr gesagt oder geschrieben. Vielleicht blockt sie auch auch nur alle verdächtigen Personen rein prophylaktisch. Jetzt komme ich mir richtig gefährlich vor.

Der Don Alphonso scheint angepisst zu sein, so verbissen schreibt er gegen „Linksextremismus“ an, alsdaselbst er Frau Strobl dorthin eintüten will, unter Anspruchnahme ausgerechnet der üblichen Verfassungsschutzberichte. Da kann man nur zu Popcorn zm Single Malt greifen…

Altera pars antwortet ebenso schmallippig: „Was Panorama getan hat, nennt sich Verdachtsberichterstattung. Diese ist legitim, denn um Missstände aufzudecken, können und dürfen Journalisten nicht abwarten, bis Vorwürfe dienst-, straf- oder zivilrechtlich geklärt sind.“

Ach ja? Disagree, Eure Ehren. Das erinnert mich an den RBB und die Akte Lammel: Erst wird jemand in den Dreck gezogen, immer schon im Konjunktiv, es könnte ja sein usw., und dann, wenn dessen Lebensgrundlage zu bröckeln beginnt, fangen die Rechtfertigungen an, man dürfe das, und zum Schluss, wenn Gerichte nach den harten Fakten fragen, muss man jammernd alles zurücknehmen, wie im Fall Lammel.

Nein, so darf man das nicht, Panorama, obwohl mir das „Opfer“ herzlich egal ist. Der Bundeswehroffizier hat Jehova gesagt irgendetwas geliked, was böse ist. Da kann man nur das Haupt schütteln. Hoffentlich kommt niemand auf die Idee zu recherchieren, was ich in den frühen 90-er Jahren im Usenet gepostet habe… aber keine Sorge: bei Panorama wissen die garantiert nicht, was das ist.

Ich rieche die deutsche Blockwart- und Denunziantenmentalität und mitnichten investigativen Journalismus. Wer sich Für- und Widerrede antun will: Don Alphonso überführt die Gegenseite der Lüge. Aber wen interessiert’s?

Jetzt sind wir vom Amazonas weit abgekommen. Back to zero. Aus meinem Reisetagebuch, Januar 1982, über den Flug von Bogota nach Leticia:
Die Handgepäckkontrolle im Flughafen von Bogota ist zum Schreien: Der Apparat bwz. Metalldetektor piept ununterbochen, weil sich alle Leute gleichzeitig durch die Sperre drängeln, während ein Sicherheitsmann verzweifelt an den Männern herumfummelt.

Die Maschine fliegt über Cali, das wir aber nicht zu Gesicht bekommen. Die Anden liegen unter einer fast geschlossenen Wolkendecke, die erst beim Erreichen des Amazonas aufreißt.

Die Unruhe unter den Passagieren wächst, der Faszination des riesigen, braunen, bis zum Horizont in großen Schleifen träge, breit und majestätisch sich windenden Flusses können sich nur wenige entziehen. Man sieht kaum Schiffe.

Kurz darauf, fast unerwartet, schon der Flughafen von Leticia. Die Hitze schlägt über einem zusammen, als wäre man gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Die Gepäckverteilung altertümlich – alles von Hand, und das bei der Temperatur! Auf dem Flugfeld steht eine alte Maschine mit völlig verbeulter Schnauze, nicht gerade zur Beruhigung der Fluggäste.

Wir marschieren bei brüllender Hitze mit den schweren Rucksäcken eine Viertelstunde bis nach Leticia und freuen uns ums andere Mal über unsere zweckmäßigen Hüte. Ein Hotel zu finden erweist sich als ungemein schwierig, fast alle sind voll. Ein Kolumbianer verweist uns auf Residencial Condominio (…), wo wir unterkommen. Ein ziemlich abgerissener Busche aus Manaus gibt uns eine Cola aus und seine Adresse….

Jetzt lausche ich noch ein paar Minuten Kate Liu, wegen der Nerven und so…

[Update] Die Deutsche Welle meint auch, sich einmischen zu müssen. „Seit einigen Tagen geht es auf Twitter heiß her zwischen „Don Alphonso“ und seinen Unterstützern auf der einen Seite und eher linksgerichteten, feministischen Usern und solchen mit Migrationshintergrund auf der anderen.“ Mehr muss man nicht lesen.

Der gottverlassene Landstrich, revisited

Dieser Text erschien am 19.9.97 im Berliner Tagesspiegel – leider erheblich und sinnentstellend gekürzt.

San Fernando de Atabapo
San Fernando de Atabapo im venezolanischen Bundesstaat Amazonas (obwohl der Ort am Orinoco liegt).

Oberhalb der großen Katarakte fanden wir längs des Orinoco auf einer Strecke von 450 km nur drei christliche Niederlassungen, und in denselben waren kaum sechs bis acht Weiße, das heißt Menschen europäischer Abkunft. Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten einst Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben. (Alexander von Humboldt)

Wuchtiger Granit, von der stillen Kraft der Strömung rund geschliffen, versperrt den Weg. Den Orinoco aufwärts, oberhalb der unpassierbaren Stromschnellen: Die Trockenzeit hat den Pegel so weit fallen lassen, daß schwarze Felsbrocken sich unerwartet dort auftürmen, wo man vor einigen Tagen noch ohne Mühe passieren konnte. Der indianische Kapitän strahlt über das ganze Gesicht: Er darf zeigen, daß er jeden Quadratmeter des Flusses kennt. Das Steuer abrupt nach links und rechts, Außenbordmotoren röhren, die Passagiere stöhnen auf, die Bugwelle klatscht an die vorbeihuschenden Felsen, gerettet.

Wer von Puerto Ayacucho, der quirligen und stickigen Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, nach Süden reisen will, muß zunächst mit einem Lastwagen vorliebnehmen. Der bringt ihn an den Katarakten vorbei an den Oberlauf des Orinoco. Die Straße endet abrupt im Fluß. In einer Bretterbude verkaufen zwei Frauen gekühlte Getränke. Ein einsamer Ventilator surrt aufgeregt, aber vergeblich gegen die Hitze. Umsteigen in ein hoffnungslos überladenes Schnellboot. Die Fahrt nach San Fernando de Atabapo im tiefsten Urwald Venezuelas dauert vier Stunden.

Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört… Krokodile und Boa sind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecarim, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; sie hausen hier wie auf einem angestammten Stück Erde.

Das schrieb Alexander von Humboldt im April 1800, als er und sein Gefährte Bonpland im Auftrag der spanischen Krone die Region erforschten. Humboldt bewies, daß zwischen den größten Flußsystemen Südamerikas eine Verbindung besteht. Der Cassiquiare, den Humboldt als erster Europäer befuhr, zweigt vom Orinoco ab, östlich von San Fernando de Atabapo, und ergießt sich zwei Tagesreisen mit dem Kanu weiter südlich in den Rio Negro. Der wiederum mündet bei Manaus in den Amazonas. Das Gebiet am Oberlauf des Orinoco ist weitgehend unerforscht und gilt als letzte Heimstatt indianischer Völker, die sich dem Kontakt mit der Zivilisation weitgehend verweigern. Die Schilderungen Humboldts, ab 1805 unter dem Titel „Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents“ veröffentlicht, können noch heute als Reiseführer dienen.

Auf beiden Seiten lief fortwährend dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Osten schienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen an einer merkwürdig gestalteten Insel vorbei. Ein viereckiger Granitfels steigt wie eine Kiste gerade aus dem Wasser empor; die Missionare nennen ihn El Castillito.

Orinoco
„El Castillito“

San Fernando de Atabapo: ein verschlafener Ort mit 3000 Einwohnern. Eine Kirche. Ein Restaurant: der folgenlose Genuß des Tagesmenüs setzt eine tropentaugliche Darmflora voraus. Das einzige Hotel an der Plaza Bolivar: nur drei Zimmer, weit jenseits von mitteleuropäischem Standard und Komfort. Mittendurch eine Heerstraße für Ameisen und die in Volksliedern liebevoll besungenen Cucarachas. Am Abend schauen auch ein paar Kröten herein, die der kurze, aber um so heftigere Tropenregen unternehmungskustig macht. Hängematte und Moskitonetz gehörten zur Grundausstattung des Reisenden wie Toilettenpapier und Plastikfolie, um Papiere und Geld vor Feuchtigkeit zu schützen.

San Fernando de Atabapo

Das grandiose Panorama entschädigt: Eine Gewitterwolke dräut über dem satten Dunkelgrün des Urwalds, die letzten Sonnenstrahlen gleißen durch das kitschige Abendrot und lassen die Sandbänke weiß leuchten. Hier fließen drei Ströme zusammen: Guaviare, Atabapo und Orinoco. Der Guaviare, breiter als der Rhein, entspringt tausend Kilometer westlich in den kolumbianischen Anden und hat weißes Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seiner gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoco weit mehr gleicht. Von Süden ergießt sich der Atabapo in den Guaviare. Wassertemperatur: erstaunliche 37 Grad. Der sonnendurchglühte Granit heizt den Fluß auf. Er ist dunkel wie schwarzer Tee, aber klar bis auf den Grund. Die Färbung rührt von Gerbsäure, die Insekten abhält, ihre Eier zu legen.

Für Individualreisende ist die Region östlich und südlich von San Fernando Sperrgebiet – zum Schutz der Indianer. Um hier zu reisen, benötigt man eine schriftliche Erlaubnis der Indianerbehörde im Kultusministerium, des Innenministeriums in Caracas und der Distriktsverwaltung in Puerto Ayacucho. Aber die Behörden sind weit, und Papier zählt weniger als der menschliche Kontakt. Am oberen Orinoco gibt es zwei Dutzend illegale Goldminen. Der Kommandant der örtlichen Guardia Nacional kann die genauen Standorte auf der Karte zeigen. Wichtige Honoratioren des Ortes sind daran nicht ganz unbeteiligt, und der Schmuggel nach Kolumbien ist ebenfalls einträglich. Übermäßiger Aktivismus der Sicherheitskräfte würden den regen Bootsverkehr nur unnötig stören. Auch die kolumbianischen Grenzposten auf der anderen Seite des Guivare beobachten den Fluß, manchmal. Was gringos tun, interessiert sie nicht. Jede zweite Nacht sind in der Ferne Schußwechsel zu hören. Die Guerilla, sagen die Venezolaner.

Orinoco
Der Autor in San Fernando de Atabapo

Clemente Guicho ist Curripaco – eine indianische Ethnie, die am Westufer des Atabapo lebt, aber äußerlich nicht von den Kreolen zu unterscheiden ist. Deshalb bleiben die Curripaco von Touristen auf der Suche nach Naturvölkern unbehelligt. Curripaco, ein Aruak-Dialekt, wird nur noch von 600 Menschen in rund dreißig Dörfern gesprochen. Guicho hat ein schnelles Boot, eine Vorliebe für amerikanische Dollar, kümmert sich nicht um Vorschriften und fährt gern den Atababo hinab, bis nach Javita kurz vor der brasilianischen Grenze.

Unsere Piroge bleib ein paar Minuten lang zwischen zwei Baumstämmen stecken. Kaum war sie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo mehrere Wasserpfade oder kleine Kanäle sich kreuzten, und der Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenste Weg war. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald. Das Klima in Javita ist ungemein regnerisch.

Doch die Wettergötter haben ein Einsehen. Keine Wolke trübt den Himmel, und am Abend kann der Reisende die Hängematte unter freiem Himmel aufspannen. Das Kreuz des Südens steigt langsam zum Zenit.

Es war eine der stillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdstrich so gewöhnlich sind. Die Sterne glänzten im milden planetarischen Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflächen der südlichen Halbkugel zu beleuchten schienen. Ungeheure Insektenschwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewachsene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte sich die gestirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergesenkt.

Elorza am Rio Arauca, südliche Llanos. Selten verirrt sich jemand nach Elorza. Nur die Fiesta im März, die toros coleados, zieht venezolanische Touristen an, die die Wildwest-Atmosphäre genießen wollen: breitbeinige Männer mit staubigen Stiefeln und Cowboy-Hut, schmelzender Gesang, untermalt von Gitarre und Harfe, Reiter, die versuchen, einen Stier möglichst schnell am Schwanz zu Fall zu bringen.

Am Ortsrand leben knapp hundert Guahibos, eng zusammengedrängt unter einem Wellblechdach und umgeben von Müllbergen. Die Guahibos sind Nomaden, die Mehrzahl stammt aus Kolumbien. Sie nennen ihre Wohnstätte garpón, „großes Haus“, und erhalten Sozialhilfe; einige Männer sprechen spanisch und verdingen sich für ein Almosen als Gelegenheitsarbeiter auf den umliegenden Farmen. Das gibt böses Blut: der Wahlkampf steht vor der Tür, und Lokalpolitiker haben Parolen ausgegeben, die frei übersetzt lauten: „Guahibos raus!“ und: „Arbeitsplätze zuerst für Einheimische!“

Pater Christobal ist Pole und aus Ostpreußen gebürtig. Sein klimatisierter Amtssitz nimmt die ganze Breite der Plaza Bolivar von Elorza ein. Als öffentliche Person könne er zwar nicht immer laut sagen, was er denke, aber seine kirchliche Autorität geltend machen. „Vor fünfzehn Jahren haben Viehzüchter und ihre Handlanger ein Massaker an den Guahibos verübt“, erzählt er, „es gab siebzehn Tote, auch Frauen und Kinder. Einige Überlebende hausen im garpón. Sie haben heute noch Angst. Die Schuldigen waren bekannt, wurden aber nicht bestraft.“

Guahibos
Guahibo, auch Wayapopihíwi genannt, im Süden Venezuelas, irgendwo in einem winzigen Dorf ungefähr hier. Das Stammpublikum wird auch mich erkennen.

Man erfährt, daß der örtliche Automechaniker Roberto Para vor einigen Jahren eine Anthropologin aus Paris zu den nomadisierenden Guahibos gefahren hat, die irgendwo in der Savanne leben. Bis zum Rio Meta, der Grenze zu Kolumbien, sind es rund 200 Kilometer, aber es gibt in diesem gottverlassenen Landstrich nur zwei aufgegebene Gehöfte. Die kolumbianische Guerilla macht das Gebiet unsicher, attackiert die venezolanischen Grenzposten und erhebt bei nächtlichen Überfällen von den Viehzüchtern „Kriegssteuern“.

Fünf Stunden mit dem rüttelnden Jeep durch die Savanne (vgl. Foto). Der Boden zeigte überall, wo er von der Vegetation entbößt war, eine Temperatur von 48 bis 50 Grad. Die Ebenen ringsum schienen zum Himmel anzusteigen, und die weite unermeßliche Einöde stellte sich unseren Blicken als eine mit Tang und Meeralgen bedeckte See dar. Im Norden stehen Rauchsäulen am Himmel – die Rancher nennen das „Flurbereinigung“.

Ein schlammiger Fluß: der Rio Capanaparo. Ein alter Mann rudert den Reisenden schweigend an das andere Ufer. Wieder ein garpón. Aller Augen richten sich auf den chefe. Der erklärt in stockendem Spanisch: Das Feuer und die Viehzucht engen den Lebensraum der Guahibos immer mehr ein. Sie litten Hunger, weil sie nicht mehr jagen könnten. Die Regierung lobt sich im Ausland für ihre gut gemeinte, das heißt paternalistische Indianerpolitik. Sie bietet den Nomaden an, gratis in Reihenhaussiedlungen wohnen zu können wie die katholischen und assimilierten Indianer am Orinoco. Dort wären sie geschützt vor Übergriffen sowohl der kolumbianischen Guerilla als auch der Viehzüchter. Doch sie wollen nicht.

Kein Stamm ist schwerer seßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben sie von faulen Fischen, Tausendfüßen und Würmern, als daß sie ein kleines Stück Land bebauen. Wir fanden daselbst sechs von noch nicht katechisierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie unterschieden sich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen schwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Missionen… Mehrere hatten einen Bart; sie schienen stolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu verstehen, sie seien wie wir.

Die ersten Weißen, die die Guahibos kennenlernten, waren Deutsche – im 16. Jahrhundert. Die Konquistadoren Georg Hohermuth von Speyer und Friedrich von Hutten zogen 1535 im Auftrag der Welser von Coro an der Küste nach Süden, bis in das Quellgebiet des Guaviare im heutigen Kolumbien. Mehrere hundert deutsche und spanische Landsknechte durchstreiften monatelang die Savanne, ausgemergelt vor Hunger und vergeblich auf der Suche nach einem Paß in die Anden, in das Land der Muisca, zum legendären El Dorado. Die Muisca zahlten mit Gold für die Kinder der Guahibos, erfuhren sie.

Fiengent ain Cassicquen oder Obersten, ßo sagt, er wer auff der andern Seitten des Birgs gewest, gab uns groß Zeittung von Reichtumb. Vermochten aber mit den Pfferden nit hynuber… berichtet der fränkische Edelmann Philipp von Hutten am 30. Oktober 1538 aus Coro an den kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann in einem der ersten Briefe, den ein Deutscher aus Südamerika geschrieben hat.

coro
Plaza von Santa Ana de Coro, gegründet 1527 vom Spanier Juan de Ampiés, der sich dazu die Erlaubnis des Kaziken Manaure holte. Die kleine Kathedrale, dem heiligen Franziskus geweiht, war noch im Bau, als Georg Hohermuth von Speyer und Philipp von Hutten 1528 auf diesem Platz standen.

Coro, im Nordwesten Venezuelas. Auf einem Platz, inmitten liebevoll restaurierter Kolonial-Architektur, steht ein Glaskasten. Darin ein schlichtes Holzkreuz. Die Legende sagt, hier sei 1528 die erste Messe der Stadt gelesen worden, und das Holz stammte von dem Baum, unter dem sich der spanische Konquistador Juan de Ampiés und der Caquetio-Kazike Manaure zum ersten Mal trafen. Ein Jahr später kam Ambrosius Dalfinger aus Ulm, um im Auftrag der Welser einen schwunghaften Handel mit afrikanischen und indianischen Sklaven aufzuziehen. Ganz privat suchte er El Dorado. Ihm folgten deutsche und spanische Glücksritter und die Pocken, die die Indianer dezimierten.

Eine Geschichte, die sich in Südamerika Dutzende Male in verschiedenen Variationen ereignet hat. Warum also das flaue Gefühl des Autors im Magen, auf der Plaza Bolivar zu stehen, vor der eintürmigen Kathedrale Coros? Hans Hauser ist eine literarische Figur, die zum Glück und zu Recht vergessen worden ist. „Mit den Konquistadoren ins Goldland“ hieß das Buch, erschienen im Jahr 1958 in Stuttgart, von einem ebenso vergessenen Autor: Blonde deutsche Männer sorgen in fremden Landen für Ordnung, bekehren heidnische wilde Indianer und erleben prächtige Abenteuer. Der Held ist frei erfunden, nicht jedoch die Nebenfiguren: der leutselige Ambrosius Dalfinger, der tapfere Georg Hohermuth von Speyer, der stolze Philipp von Hutten und der finstere Nikolaus Federmann, Gründer von Bogota.

„Was so durch kindliche Eindrücke, was durch Zufälligkeiten der Lebensverhältnisse in uns erweckt wird, nimmt später eine ernstere Richtung an, wird oft ein Motiv wissenschaftlicher Arbeiten, weiterführender Unternehmungen.“ Das schreibt Alexander von Humboldt über das Motiv seiner Reise. Und Philipp von Hutten schrieb am 31. März 1539 an seinen Vater: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen.

Die Zitate Alexander von Humboldts (kursiv) sind entnommen aus: „Eine südamerikanische Reise“, hg. v. Reinhard Jaspert, Berlin 1979, einer Auswahl u.a. aus Humboldts Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, (Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents), 36 Bände, 1806ff., (Nachdruck bei Brockhaus 1970).

Die Zitate Philipp von Huttens aus: Eberhard Schmitt und Friedrich Karl von Hutten: Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquistadors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen 1996.

Wasserblick

Manaus

In einem Slum Vorort von Manaus, Brasilien 1982. (Mehr Fotos von Manaus gibt es hier.)

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