Warum zum Rio Meta?

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Noch einmal Uferpromenade des Rio Arauca in Elorza, Venezuela, fotografiert im März 1998. Der Junge ist der Sohn meiner Hängematten-Platz-zum-Aufhängen-„Vermieterin“.

Als einziger Ausländer in einem größeren Dorf war ich natürlich eine Attraktion, und für den Jungen sowieso. Abends, wenn ich nur spazieren ging, weil es sonst nichts zu tun gab, außer sich in den wenigen Spelunken mit fragwürdigem Publikum zu besaufen, folgte er mir auf Schritt und Tritt, weil er vermutlich neugierig war – und seine Mutter auch -, was ich eigentlich in dem Örtchen wollte.

Ich hätte es selbst nicht gewusst, weil ich von Palmarito aus irgendwie in den extremen Süden Venezuelas wollte und von dort aus zum Orinoco. Von Palmarito am Rio Apure aus gibt es aber keine Verbindung nach Süden ohne eigenen Jeep. Ich musste also weit nach Westen ausweichen, bis an die kolumbianische Grenze bei Guasdualito. Da erwischte ich dann einen Bus nach Elorza.

Ich hatte irgendwann wohl erwähnt, dass ich zum Rio Meta wolle. Auf dem hätte ich per Boot nach Puerto Carreno in Kolumbien reisen können und dann weiter per Straße auf der venezolanischen Seite nach Süden nach Puerto Ayachucho.

Das war mein ursprünglicher Plan, aber es kam alles anders, weil ich mit einem weißen Jeep der Katholischen Kirche quer durch die Llanos direkt von Elorza nach Puerto Ayacucho gefahren wurden und gratis dazu. Den Rio Meta habe ich dabei passiert und gesehen.

Den Jungen hat das Thema wohl beschäftigt. Irgendwann fragte er ganz plötzlich, als hätte er sich lange nicht getraut: „Gringo [so nannten mich alle], warum willst du zum Rio Meta?“

Was hätte ich antworten sollen? Ich hätte mit Philipp von Hutten entgegnen können, der am 31. März 1539 an seinen Vater schrieb: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen. Ich hätte „Indien“ nur durch „Rio Meta“ ersetzen müssen.




Am Arauca

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Uferpromenade des Rio Arauca in Elorza, Venezuela, fotografiert im März 1998.




Orinoco backstage, revisited

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Diese Fotos ergänzen Orinoco backstage vom 09.08.2012. Die Fotos habe ich 1998 am Orinoco in Venezuela gemacht – auf der südlichen Seite bei La Arenosa. Wir setzten mit der Fähre über nach Cabruta. Der Orinoco ist in der Regenzeit hier so breit, dass man das andere Ufer kaum sehen kann. Ich war mit dem Bus unterwegs von Elorza im Süden nach Caracas – es war die letzte Reisewoche.




Kleinbourgeoisie, über Wasser

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Hier noch ein Bild von der venezolanischen Kleinbourgeoisie (1998). Der Besitzer des winzigen Ladens in Elorza, den ich hier schon einmal erwähnt hatte, war gebürtiger Italiener. Es ist mir bis heute schleierhaft, wie die sich finanziell über Wasser halten konnten.




El chefe oder: Da sprach der alte Häuptling der Indianer

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Der „Chef“ einer Gruppe von Guahibo in den südlichen Llanos (Ebenen) von Venezuela. Die Guahibo aka Sikuani aka Wayapopihíwi kann man als „nomadisierende Plainsindianer“ bezeichnen. Von ihnen gibt es nur noch weniger als 20.000. Ihr nordamerikanisches Gegenstück wären etwa die Arapaho.

Fotografiert 1998 im Guahibo-Territorium, einige Stunden mit dem Jeep südlich von Elorza nördlich des Rio Capanoparo (ein Nebenfluss des Orinoco).

Vgl. „Durch die Pampa“ (04.03.2021), „Der gottverlassene Landstrich, revisited“ (11.02.2020), „Mythos „Neu entdeckte Indianerstämme“ [Update] (23.07.2016), „Venezuela – eine gute Wahl“ (06.07.2013), „Burks bei den Wayapopihíwi“ (05.01.2011), „Venezuela | wahr und falsch“ (03.03.2008).

Ein schlammiger Fluß: der Rio Capanaparo. Ein alter Mann rudert den Reisenden schweigend an das andere Ufer. Wieder ein garpón. Aller Augen richten sich auf den chefe. Der erklärt in stockendem Spanisch: Das Feuer und die Viehzucht engen den Lebensraum der Guahibos immer mehr ein. Sie litten Hunger, weil sie nicht mehr jagen könnten. Die Regierung lobt sich im Ausland für ihre gut gemeinte, das heißt paternalistische Indianerpolitik. Sie bietet den Nomaden an, gratis in Reihenhaussiedlungen wohnen zu können wie die katholischen und assimilierten Indianer am Orinoco. Dort wären sie geschützt vor Übergriffen sowohl der kolumbianischen Guerilla als auch der Viehzüchter. Doch sie wollen nicht.

„Kein Stamm ist schwerer seßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben sie von faulen Fischen, Tausendfüßen und Würmern, als daß sie ein kleines Stück Land bebauen. Wir fanden daselbst sechs von noch nicht katechisierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie unterschieden sich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen schwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Missionen…Mehrere hatten einen Bart; sie schienen stolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu verstehen, sie seien wie wir.“ (Alexander von Humboldt)

Die ersten Weißen, die die Guahibos kennenlernten, waren Deutsche – im 16. Jahrhundert. Die Konquistadoren Georg Hohermuth von Speyer und Friedrich von Hutten zogen 1535 im Auftrag der Welser von Coro an der Küste nach Süden, bis in das Quellgebiet des Guaviare im heutigen Kolumbien. Mehrere hundert deutsche und spanische Landsknechte durchstreiften monatelang die Savanne, ausgemergelt vor Hunger und vergeblich auf der Suche nach einem Paß in die Anden, in das Land der Muisca, zum legendären El Dorado. Die Muisca zahlten mit Gold für die Kinder der Guahibos, erfuhren sie.

„Fiengent ain Cassicquen oder Obersten, ßo sagt, er wer auff der andern Seitten des Birgs gewest, gab uns groß Zeittung von Reichtumb. Vermochten aber mit den Pfferden nit hynuber…“ berichtet der fränkische Edelmann Philipp von Hutten am 30. Oktober 1538 aus Coro an den kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann in einem der ersten Briefe, den ein Deutscher aus Südamerika geschrieben hat.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das Dia nicht seitenverkehrt eingescannt hatte. Leider ist die Schrift mit der venezolanischen Flagge auf seinem Basecap nicht zu erkennen. Ich habe das Logo auch nicht gefunden.




Am Rio Arauca

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Die Hauptstraße (Avenida Bolivar) von Elorza im Süden Venezuelas am Rio Arauca, fotografiert 1998.




Dame un sonrisa, revisited

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Ein Mädchen aus Elorza im Süden Venezuelas, fotografiert 1998. Ich hatte hier im November 2020 schon ein Foto von ihr, zusammen mit ihrem Bruder. Kinder sind immer dankbare und unkomplizierte Fotomotive. Ich wohnte damals für eine Woche in einem Arme-Leute-Viertel in Elorza bei einer Dame, die mir Platz für meine Hängematte in ihrem „Garten“ angeboten hatte. Abends war nichts los außer dem, was man selbst anstellte. Alle Kinder spielten auf den Straßen, und ich war natürlich als einziger Ausländer im ganzen Ort eine Attraktion. Wenn ich morgens in Richtung Plaza ging, musste ich an einer Schule vorbei, und wenn die Kinder nicht in ihren Klassen waren, gab es immer ein großes Geschrei, wenn ich auftauchte, und alle riefen lachend hola, gringo!

Ich habe gestern gemerkt, dass ich viele Fotos aus Venezuela versehentlich in einen Ordner gebeamt hatte, der für Bilder gedacht war, die ich schon veröffentlicht hatte. Bei knapp 3.000 insgesamt aus ganz Lateinamerika von 1979 bis 1998 kann man schon mal die Übersicht verlieren. Das werde ich jetzt abarbeiten….




Ganz in Blau

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Elorza in den südlichen Llanos (Ebenen) von Venezuela, fotografiert 1998. Wenn ich mich recht erinnere (ich habe damals kein Reisetagebuch geschrieben, sondern für meinen Roman recherchiert), gab es irgendeinen „Tag der Streitkräfte“ oder etwas in der Art. Die Kleidung ist die dortige Schuluniform.




Agencias de Loteria und mehr

Agencias de Loteria

Straßenszene in Venezuela (1998) – leider weiß ich nicht mehr, wo ich das fotografiert habe. Ich tippe auf Elorza in den südlichen Llanos (Ebenen).




Durch die Pampa

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In den südlichen Llanos (Ebenen) von Venezuela, einige Stunden mit dem Jeep südlich von Elorza nördlich des Rio Capanoparo (ein Nebenfluss des Orinoco). Wir waren auf dem Weg zum Guahibo-Territorium. Auf der Fahrt ist auch mein liebstes Selfie entstanden. In der Regenzeit ist die Strecke nicht passierbar.

Ich liebe es, mit einem Jeep durch die Pampa zu brettern fahren (1998).

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Schwesterchen und Brüderchen

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Schwesterchen und Brüderchen aus Elorza im Süden Venezuelas, fotografiert 1998.




Chicas de Venezuela, revisitado

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Mädchen aus Elorza, Venezuela 1998 [anderes Foto der beiden chicas].




Iglesia Auxiliadora und Perverse

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Catedral de María Auxiliadora, Puerto Ayachuco, Venezuela (Februar 1998)

Ich schrieb vor sechs Jahren: „Ich sitze hinten im Jeep, der einem katholischen Pater aus Elorza gehörte, der aus Polen stammte und mit dem ich mich über die Situation der Guahibo unterhalten hatte – und der auch Klartext redete. Der Pater entschloss sich spontan, seinen Bischof in Puerto Ayacucho am Orinoco besuchen zu wollen, und ich wollte auch dorthin. Mit dem Flugzeug sind das nur 266 Kilometer, mit dem Auto aber mehr als 500 – wir waren den ganzen Tag unterwegs. Gekostet hat es mich nichts, und ein Mittagessen bekam ich auch ausgegeben.“

Chica
Mit dem Jeep der Kirche durch die Llanos zum Rio Meta

Puerto Ayacucho, 20.02.1998: Ein Ethnologe, mit dem ich ins Gespräch komme, sagt; Der „Vater“ sei nur eine öffentliche Funktion in Venezuela. Die Struktur der Familie werde durch die Frauen zusammengehalten. Wenn sich ein Mann zu sehr um die Kinder der Frau bemühe, die nicht die seinen seien, komme er in den Verdacht, „pervers“ zu sein. Die meisten Frauen machten ihre ersten sexuellen Erfahrung mit zwölf Jahren.

Ich notierte mir noch: Interessante Frage, wenn machismo bedeutet, dass die Familien irgendwie matrilinear sind…

Chica




Die Ohren der Frösche

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Während meiner Reise nach Venezuela 1998 – ich war allein unterwegs – habe ich kein richtiges Reisetagebuch geführt, sondern nur Notizen gemacht über Dinge und Fakten, die ich für meinen Roman Die Konquistadoren brauchte. Der spielt genau da, nur zwischen 1534 und 1539, in der Zeit der Eroberung des Landes durch deutsche und spanische Landsknechte. Die Konquistadoren zogen plündernd und mordend von Coro im Norden nach Südwesten, entlang der Anden, endlich über den Fluss Arauca weiter ins heutige Kolumbien.

Ich war nach sechs oder sieben Wochen und nach einigen Strapazen in Palmarito angekommen und von dort nach Amparo an der kolumbianischen Grenze gereist und hatte meine Recherchen so gut wie abgeschlossen. Der Rest der Reise war „Urlaub“, wenn man das so nennen kann.

Jetzt wollte ich nach Osten zum zum Rio Meta und zum Orinoco. Dorthin verirrt sich so gut wie nie ein Fremder. (Wie ich zum Rio Apure gelangte, habe ich hier vor zwei Jahren beschrieben.)

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In Amparo nahm ich einen Bus nach Elorza. Den (vgl. Foto unten) fand ich recht komfortabel, da ich 1979, 1982 und 1984 entweder per LKW oder Pickup gereist war oder fast immer in Bussen, die ausrangierte Schulbusse waren und für große Europäer daher nicht unbedingt bequem, zudem während der Fahrt meistens repariert werden mussten, wenn sie nicht ganz auseinanderfielen (wie 1982 ein Bus auf der brasilianischen Transamazonica). Ich war trotzdem gespannt, weil ich keinen blassen Schimmer hatte, was mich erwartete.

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Ich saß neben einer Schwarzen, die zahllose Tüten und Pakete und noch mehr Krempel um sich gestapelt hatte. Wir kamen natürlich ins Gespräch, weil ich Informationen über mein Reiseziel Elorza brauchte. Sie war bestimmt genauso neugierig, sie hatte noch nie einen Deutschen getroffen. Sie sagte mir, ich könne bei ihr im Garten meine Hängematte aufhängen, ich müsse ihr jetzt nur beim Tragen ihrer Sachen helfen.

So geschah es, es waren nur noch mehr Tüten, als ich gesehen hatte – sogar ein ziemlich ramponiertes Kinderfahrrad war dabei. Wir kamen an einem Sonntag genau gegen Mittag an, bei glühender Hitze. Mein Rucksack damals wog gut zwanzig Kilo und die Dame guckte mich fragend an. Ich ließ mich nicht lumpen und nahm die Tüten, Taschen und was es sonst noch gab, auch das Kinderfahrrad unter den Arm. Wir marschieren frohgemut los.

Elorza ist ein kleines Nest (heute 26.000 Einwohner). Ich dachte, dass es nicht weit sein könne. Das war aber nicht so. Sie wohnte in den „Slums“ im Süden des Ortes, einer ärmlichen Gegend mit roh gemauerten Häusern, meistens mit Wellblech gedeckt, oft ohne Strom und fließend Wasser. Ich weiß nicht mehr, wie lange der Fußmarsch war, nur, dass ich fast gestorben wäre. Ich war so nassgeschwitzt, als wäre ich in einen Fluss gefallen.

Ich konnte aber nicht aufgeben, denn vor den Häusern lungerten viele Leute herum, die Siesta machten oder in der Gluthölle dösten, und alle glotzten die kleine Lastenkarawane an. Die Frau kannte die meisten und plauderte angeregt auch noch ein wenig hier und da, während ich versuchte auf den Beinen zu bleiben und gute Miene zum anstrengenden Spiel machte. Sie musste unbedingt jedem erzählen, welch exotischen Kerl sie aufgegabelt hatte. Ich wurde besonders von einem Mann motiviert, die uns sah, offenbar alle seine Nachbarn herbeirief, auf mich zeigte und laut rief: „Mira, el toro!“ [etwa: Guck dir den Stier an!] Mein „Gepäck“ war gar nicht so schwer, nur unhandlich, aber die Hitze brachte mich fast um. Bei so einem „Kompliment“ musste ich natürlich durchhalten. Heute könnte ich mich kaputtlachen, aber damals fand ich das nicht lustig.

Die Hütte meine Gastwirtin war an der östlichen Seite einer nicht benannten Straße. Es gab nur einen Raum, der als Wohnzimmer, Küche und Kinderzimmer für ihre drei Sprößlinge diente. Das Grundstück war klein und hatte einen verwilderten Garten. Einen der minderjährigen Söhne habe ich nicht kennengelernt – er war gerade im Knast, und sie versuchte jeden Tag ihn herauszubekommen. Einen Mann hatte sie auch nicht, aber derjenige, von dem eines oder zwei der Kinder waren, hatte ihr wohl die Hütte geschenkt. Ein Bad existierte ebensowenig, nur ein Wasseranschluss für einen Schlauch auf einer Art Waschbecken aus Steinen. Man musste über einen Stacheldrahtzaun zu den Nachbarn klettern und dort sein Geschäft auf einem Plumpsklo verrichten, das mit Wellblech nach außen notdürftig abgeschirmt war (oberstes Foto).

Ich kann mich fast an jedes Detail erinnern, weil ich in einer Nacht Durchfall hatte, mich aus der Hängematte quälte und zu allem Überfluss in den Stacheldrahtzaun fiel, weil es trotz meiner kleinen Taschenlampe stockdunkel war, und blutete. (Irgendwo habe ich noch einen kleine Narbe davon.) Auf dem Plumpsklo erwartete mich ein unvergessliches Szenario: Hunderte kleiner Frösche saßen überall, sogar auf der hölzernen Klobrille, weil die „Toilette“ der einzige feuchte Fleck weit und breit war (es war Sommerzeit) Ich weiß heute noch, dass ich mich fragte, ob Frösche Ohren haben und durch Händeklatschen zu vertreiben wären. Irgendwie habe ich mir Platz geschaffen, ich weiß aber nicht mehr, wie.

Auf der Straße zum Hauptplatz war ein kleiner Laden mit einem ungemein freundlichen Ehepaar, das mich jedes Mal hereinwinkte, wenn ich vorbeikam, um ein Schwätzchen zu halten. Das Geschäft war so winzig, dass man sich kaum umdrehen konnte. (Die Ecke könnte an der Avenida Aeroperto sein – ich weiß noch, dass ich nach Süden fotografiert habe – im Hintergrund, wo die großen Bäume zu sehen sind, biegt die Via Caribe nach Osten ab.)

Der Inhaber kannte jede und jeden, und als ich ihm erzähle, ich wolle versuchen, zu den Guahibos zu gelangen, die Halbnomaden sind und mal hier und mal dort in den Llanos leben, fand er gleich eine Lösung. Er brüllte laut über die Straße: „Roberto, telefono!“ Der Gerufene kam herbeigerannt. Der Ladenbesitzer lachte sich kaputt und erklärte ihm, was ich wollte. Roberto Parra hatte einen Jeep und fuhr mich ein paar Tage später gratis zu den Guahibo am Rio Capanaparo, einfach, weil er nett und neugierig war, obwohl wir einen ganzen Tag unterwegs sein mussten.

Auf der halsbrecherischen Fahrt ist mein liebstes Selfie entstanden.

(Ich wollte etwas Politisches bloggen, aber ich habe ziemlich viel Zeit verplempert, um die Fotos aufzubereiten, die ich vor Jahren digitalisiert und archiviert hatte.)




Der gottverlassene Landstrich, revisited

Dieser Text erschien am 19.9.97 im Berliner Tagesspiegel – leider erheblich und sinnentstellend gekürzt.

San Fernando de Atabapo
San Fernando de Atabapo im venezolanischen Bundesstaat Amazonas (obwohl der Ort am Orinoco liegt).

Oberhalb der großen Katarakte fanden wir längs des Orinoco auf einer Strecke von 450 km nur drei christliche Niederlassungen, und in denselben waren kaum sechs bis acht Weiße, das heißt Menschen europäischer Abkunft. Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten einst Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben. (Alexander von Humboldt)

Wuchtiger Granit, von der stillen Kraft der Strömung rund geschliffen, versperrt den Weg. Den Orinoco aufwärts, oberhalb der unpassierbaren Stromschnellen: Die Trockenzeit hat den Pegel so weit fallen lassen, daß schwarze Felsbrocken sich unerwartet dort auftürmen, wo man vor einigen Tagen noch ohne Mühe passieren konnte. Der indianische Kapitän strahlt über das ganze Gesicht: Er darf zeigen, daß er jeden Quadratmeter des Flusses kennt. Das Steuer abrupt nach links und rechts, Außenbordmotoren röhren, die Passagiere stöhnen auf, die Bugwelle klatscht an die vorbeihuschenden Felsen, gerettet.

Wer von Puerto Ayacucho, der quirligen und stickigen Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, nach Süden reisen will, muß zunächst mit einem Lastwagen vorliebnehmen. Der bringt ihn an den Katarakten vorbei an den Oberlauf des Orinoco. Die Straße endet abrupt im Fluß. In einer Bretterbude verkaufen zwei Frauen gekühlte Getränke. Ein einsamer Ventilator surrt aufgeregt, aber vergeblich gegen die Hitze. Umsteigen in ein hoffnungslos überladenes Schnellboot. Die Fahrt nach San Fernando de Atabapo im tiefsten Urwald Venezuelas dauert vier Stunden.

Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört… Krokodile und Boa sind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecarim, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; sie hausen hier wie auf einem angestammten Stück Erde.

Das schrieb Alexander von Humboldt im April 1800, als er und sein Gefährte Bonpland im Auftrag der spanischen Krone die Region erforschten. Humboldt bewies, daß zwischen den größten Flußsystemen Südamerikas eine Verbindung besteht. Der Cassiquiare, den Humboldt als erster Europäer befuhr, zweigt vom Orinoco ab, östlich von San Fernando de Atabapo, und ergießt sich zwei Tagesreisen mit dem Kanu weiter südlich in den Rio Negro. Der wiederum mündet bei Manaus in den Amazonas. Das Gebiet am Oberlauf des Orinoco ist weitgehend unerforscht und gilt als letzte Heimstatt indianischer Völker, die sich dem Kontakt mit der Zivilisation weitgehend verweigern. Die Schilderungen Humboldts, ab 1805 unter dem Titel „Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents“ veröffentlicht, können noch heute als Reiseführer dienen.

Auf beiden Seiten lief fortwährend dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Osten schienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen an einer merkwürdig gestalteten Insel vorbei. Ein viereckiger Granitfels steigt wie eine Kiste gerade aus dem Wasser empor; die Missionare nennen ihn El Castillito.

Orinoco
„El Castillito“

San Fernando de Atabapo: ein verschlafener Ort mit 3000 Einwohnern. Eine Kirche. Ein Restaurant: der folgenlose Genuß des Tagesmenüs setzt eine tropentaugliche Darmflora voraus. Das einzige Hotel an der Plaza Bolivar: nur drei Zimmer, weit jenseits von mitteleuropäischem Standard und Komfort. Mittendurch eine Heerstraße für Ameisen und die in Volksliedern liebevoll besungenen Cucarachas. Am Abend schauen auch ein paar Kröten herein, die der kurze, aber um so heftigere Tropenregen unternehmungskustig macht. Hängematte und Moskitonetz gehörten zur Grundausstattung des Reisenden wie Toilettenpapier und Plastikfolie, um Papiere und Geld vor Feuchtigkeit zu schützen.

San Fernando de Atabapo

Das grandiose Panorama entschädigt: Eine Gewitterwolke dräut über dem satten Dunkelgrün des Urwalds, die letzten Sonnenstrahlen gleißen durch das kitschige Abendrot und lassen die Sandbänke weiß leuchten. Hier fließen drei Ströme zusammen: Guaviare, Atabapo und Orinoco. Der Guaviare, breiter als der Rhein, entspringt tausend Kilometer westlich in den kolumbianischen Anden und hat weißes Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seiner gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoco weit mehr gleicht. Von Süden ergießt sich der Atabapo in den Guaviare. Wassertemperatur: erstaunliche 37 Grad. Der sonnendurchglühte Granit heizt den Fluß auf. Er ist dunkel wie schwarzer Tee, aber klar bis auf den Grund. Die Färbung rührt von Gerbsäure, die Insekten abhält, ihre Eier zu legen.

Für Individualreisende ist die Region östlich und südlich von San Fernando Sperrgebiet – zum Schutz der Indianer. Um hier zu reisen, benötigt man eine schriftliche Erlaubnis der Indianerbehörde im Kultusministerium, des Innenministeriums in Caracas und der Distriktsverwaltung in Puerto Ayacucho. Aber die Behörden sind weit, und Papier zählt weniger als der menschliche Kontakt. Am oberen Orinoco gibt es zwei Dutzend illegale Goldminen. Der Kommandant der örtlichen Guardia Nacional kann die genauen Standorte auf der Karte zeigen. Wichtige Honoratioren des Ortes sind daran nicht ganz unbeteiligt, und der Schmuggel nach Kolumbien ist ebenfalls einträglich. Übermäßiger Aktivismus der Sicherheitskräfte würden den regen Bootsverkehr nur unnötig stören. Auch die kolumbianischen Grenzposten auf der anderen Seite des Guivare beobachten den Fluß, manchmal. Was gringos tun, interessiert sie nicht. Jede zweite Nacht sind in der Ferne Schußwechsel zu hören. Die Guerilla, sagen die Venezolaner.

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Der Autor in San Fernando de Atabapo

Clemente Guicho ist Curripaco – eine indianische Ethnie, die am Westufer des Atabapo lebt, aber äußerlich nicht von den Kreolen zu unterscheiden ist. Deshalb bleiben die Curripaco von Touristen auf der Suche nach Naturvölkern unbehelligt. Curripaco, ein Aruak-Dialekt, wird nur noch von 600 Menschen in rund dreißig Dörfern gesprochen. Guicho hat ein schnelles Boot, eine Vorliebe für amerikanische Dollar, kümmert sich nicht um Vorschriften und fährt gern den Atababo hinab, bis nach Javita kurz vor der brasilianischen Grenze.

Unsere Piroge bleib ein paar Minuten lang zwischen zwei Baumstämmen stecken. Kaum war sie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo mehrere Wasserpfade oder kleine Kanäle sich kreuzten, und der Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenste Weg war. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald. Das Klima in Javita ist ungemein regnerisch.

Doch die Wettergötter haben ein Einsehen. Keine Wolke trübt den Himmel, und am Abend kann der Reisende die Hängematte unter freiem Himmel aufspannen. Das Kreuz des Südens steigt langsam zum Zenit.

Es war eine der stillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdstrich so gewöhnlich sind. Die Sterne glänzten im milden planetarischen Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflächen der südlichen Halbkugel zu beleuchten schienen. Ungeheure Insektenschwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewachsene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte sich die gestirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergesenkt.

Elorza am Rio Arauca, südliche Llanos. Selten verirrt sich jemand nach Elorza. Nur die Fiesta im März, die toros coleados, zieht venezolanische Touristen an, die die Wildwest-Atmosphäre genießen wollen: breitbeinige Männer mit staubigen Stiefeln und Cowboy-Hut, schmelzender Gesang, untermalt von Gitarre und Harfe, Reiter, die versuchen, einen Stier möglichst schnell am Schwanz zu Fall zu bringen.

Am Ortsrand leben knapp hundert Guahibos, eng zusammengedrängt unter einem Wellblechdach und umgeben von Müllbergen. Die Guahibos sind Nomaden, die Mehrzahl stammt aus Kolumbien. Sie nennen ihre Wohnstätte garpón, „großes Haus“, und erhalten Sozialhilfe; einige Männer sprechen spanisch und verdingen sich für ein Almosen als Gelegenheitsarbeiter auf den umliegenden Farmen. Das gibt böses Blut: der Wahlkampf steht vor der Tür, und Lokalpolitiker haben Parolen ausgegeben, die frei übersetzt lauten: „Guahibos raus!“ und: „Arbeitsplätze zuerst für Einheimische!“

Pater Christobal ist Pole und aus Ostpreußen gebürtig. Sein klimatisierter Amtssitz nimmt die ganze Breite der Plaza Bolivar von Elorza ein. Als öffentliche Person könne er zwar nicht immer laut sagen, was er denke, aber seine kirchliche Autorität geltend machen. „Vor fünfzehn Jahren haben Viehzüchter und ihre Handlanger ein Massaker an den Guahibos verübt“, erzählt er, „es gab siebzehn Tote, auch Frauen und Kinder. Einige Überlebende hausen im garpón. Sie haben heute noch Angst. Die Schuldigen waren bekannt, wurden aber nicht bestraft.“

Guahibos
Guahibo, auch Wayapopihíwi genannt, im Süden Venezuelas, irgendwo in einem winzigen Dorf ungefähr hier. Das Stammpublikum wird auch mich erkennen.

Man erfährt, daß der örtliche Automechaniker Roberto Para vor einigen Jahren eine Anthropologin aus Paris zu den nomadisierenden Guahibos gefahren hat, die irgendwo in der Savanne leben. Bis zum Rio Meta, der Grenze zu Kolumbien, sind es rund 200 Kilometer, aber es gibt in diesem gottverlassenen Landstrich nur zwei aufgegebene Gehöfte. Die kolumbianische Guerilla macht das Gebiet unsicher, attackiert die venezolanischen Grenzposten und erhebt bei nächtlichen Überfällen von den Viehzüchtern „Kriegssteuern“.

Fünf Stunden mit dem rüttelnden Jeep durch die Savanne (vgl. Foto). Der Boden zeigte überall, wo er von der Vegetation entbößt war, eine Temperatur von 48 bis 50 Grad. Die Ebenen ringsum schienen zum Himmel anzusteigen, und die weite unermeßliche Einöde stellte sich unseren Blicken als eine mit Tang und Meeralgen bedeckte See dar. Im Norden stehen Rauchsäulen am Himmel – die Rancher nennen das „Flurbereinigung“.

Ein schlammiger Fluß: der Rio Capanaparo. Ein alter Mann rudert den Reisenden schweigend an das andere Ufer. Wieder ein garpón. Aller Augen richten sich auf den chefe. Der erklärt in stockendem Spanisch: Das Feuer und die Viehzucht engen den Lebensraum der Guahibos immer mehr ein. Sie litten Hunger, weil sie nicht mehr jagen könnten. Die Regierung lobt sich im Ausland für ihre gut gemeinte, das heißt paternalistische Indianerpolitik. Sie bietet den Nomaden an, gratis in Reihenhaussiedlungen wohnen zu können wie die katholischen und assimilierten Indianer am Orinoco. Dort wären sie geschützt vor Übergriffen sowohl der kolumbianischen Guerilla als auch der Viehzüchter. Doch sie wollen nicht.

Kein Stamm ist schwerer seßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben sie von faulen Fischen, Tausendfüßen und Würmern, als daß sie ein kleines Stück Land bebauen. Wir fanden daselbst sechs von noch nicht katechisierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie unterschieden sich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen schwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Missionen… Mehrere hatten einen Bart; sie schienen stolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu verstehen, sie seien wie wir.

Die ersten Weißen, die die Guahibos kennenlernten, waren Deutsche – im 16. Jahrhundert. Die Konquistadoren Georg Hohermuth von Speyer und Friedrich von Hutten zogen 1535 im Auftrag der Welser von Coro an der Küste nach Süden, bis in das Quellgebiet des Guaviare im heutigen Kolumbien. Mehrere hundert deutsche und spanische Landsknechte durchstreiften monatelang die Savanne, ausgemergelt vor Hunger und vergeblich auf der Suche nach einem Paß in die Anden, in das Land der Muisca, zum legendären El Dorado. Die Muisca zahlten mit Gold für die Kinder der Guahibos, erfuhren sie.

Fiengent ain Cassicquen oder Obersten, ßo sagt, er wer auff der andern Seitten des Birgs gewest, gab uns groß Zeittung von Reichtumb. Vermochten aber mit den Pfferden nit hynuber… berichtet der fränkische Edelmann Philipp von Hutten am 30. Oktober 1538 aus Coro an den kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann in einem der ersten Briefe, den ein Deutscher aus Südamerika geschrieben hat.

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Plaza von Santa Ana de Coro, gegründet 1527 vom Spanier Juan de Ampiés, der sich dazu die Erlaubnis des Kaziken Manaure holte. Die kleine Kathedrale, dem heiligen Franziskus geweiht, war noch im Bau, als Georg Hohermuth von Speyer und Philipp von Hutten 1528 auf diesem Platz standen.

Coro, im Nordwesten Venezuelas. Auf einem Platz, inmitten liebevoll restaurierter Kolonial-Architektur, steht ein Glaskasten. Darin ein schlichtes Holzkreuz. Die Legende sagt, hier sei 1528 die erste Messe der Stadt gelesen worden, und das Holz stammte von dem Baum, unter dem sich der spanische Konquistador Juan de Ampiés und der Caquetio-Kazike Manaure zum ersten Mal trafen. Ein Jahr später kam Ambrosius Dalfinger aus Ulm, um im Auftrag der Welser einen schwunghaften Handel mit afrikanischen und indianischen Sklaven aufzuziehen. Ganz privat suchte er El Dorado. Ihm folgten deutsche und spanische Glücksritter und die Pocken, die die Indianer dezimierten.

Eine Geschichte, die sich in Südamerika Dutzende Male in verschiedenen Variationen ereignet hat. Warum also das flaue Gefühl des Autors im Magen, auf der Plaza Bolivar zu stehen, vor der eintürmigen Kathedrale Coros? Hans Hauser ist eine literarische Figur, die zum Glück und zu Recht vergessen worden ist. „Mit den Konquistadoren ins Goldland“ hieß das Buch, erschienen im Jahr 1958 in Stuttgart, von einem ebenso vergessenen Autor: Blonde deutsche Männer sorgen in fremden Landen für Ordnung, bekehren heidnische wilde Indianer und erleben prächtige Abenteuer. Der Held ist frei erfunden, nicht jedoch die Nebenfiguren: der leutselige Ambrosius Dalfinger, der tapfere Georg Hohermuth von Speyer, der stolze Philipp von Hutten und der finstere Nikolaus Federmann, Gründer von Bogota.

„Was so durch kindliche Eindrücke, was durch Zufälligkeiten der Lebensverhältnisse in uns erweckt wird, nimmt später eine ernstere Richtung an, wird oft ein Motiv wissenschaftlicher Arbeiten, weiterführender Unternehmungen.“ Das schreibt Alexander von Humboldt über das Motiv seiner Reise. Und Philipp von Hutten schrieb am 31. März 1539 an seinen Vater: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen.

Die Zitate Alexander von Humboldts (kursiv) sind entnommen aus: „Eine südamerikanische Reise“, hg. v. Reinhard Jaspert, Berlin 1979, einer Auswahl u.a. aus Humboldts Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, (Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents), 36 Bände, 1806ff., (Nachdruck bei Brockhaus 1970).

Die Zitate Philipp von Huttens aus: Eberhard Schmitt und Friedrich Karl von Hutten: Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquistadors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen 1996.




Hände weg von Venezuela!

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Mädchen aus Elorza, Venezuela 1998

LowerClassMagazine: „Wie auch immer man zur Amtsführung des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro stehen mag, die Ablehnung des US-geführten Putsches in dem lateinamerikanischen Land sollte Minimalkonsens unter Linken sein.“

America21 hat einen ausführlichen Bericht zum Thema.




Mein liebstes Selfie

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Mit dem Jeep am Rio Meta (Llanos del Orinoco), Grenzgebiet Kolumbien-Venezuela, 1998, auf dem Weg von Elorza nach Süden zum Rio Capanaparo.




Am Rio Meta

rio meta

Das Foto (1998) zeigt den Rio Meta auf der venezolanischen Seite, nicht weit von Puerto Carreño in Kolumbien. Ich sitze hinten im Jeep, der einem katholischen Pater aus Elorza gehörte, der aus Polen stammte und mit dem ich mich über die Situation der Guahibo unterhalten hatte – und der auch Klartext redete. Der Pater entschloss sich spontan, seinen Bischof in Puerto Ayacucho am Orinoco besuchen zu wollen, und ich wollte auch dorthin. Mit dem Flugzeug sind das nur 266 Kilometer, mit dem Auto aber mehr als 500 – wir waren den ganzen Tag unterwegs. Gekostet hat es mich nichts, und ein Mittagessen bekam ich auch ausgegeben.

Wenigstens in meiner Phantasie muss ich mich von dem verlogenen Mist, den ich ständig in den Medien lese, erholen. Ich gäbe etwas darum, jetzt am Rio Meta zu sein…




Dame una sonrisa

elorza

In den letzten Tagen habe ich so viel Hässliches publiziert, jetzt etwas Schönes zur Abwechslung. Fotografiert in Elorza im Süden Venezuelas im Jahr 1998.




Momente der Vollkommenheit (Venezuela 98)

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Nein, Fotos aus Lateinamerika sind ist kein Biedermeier in dem Sinn, dass ich mich des Politischen nicht mehr annähme: „als typisch gilt die Flucht ins Idyll und ins Private“. Meine Reisen waren für mich wichtiger als die doppelte Zeit, die ich in Berlin verbrachte. Venezuela zumal ist die Basis für meinen Roman „Die Konquistadoren„, der eben dort spielt.

Vor sieben Jahren habe ich schon einmal über dieses Thema gebloggt, die meisten Leser werden sich nicht daran erinnern und die Fotos waren damals von sehr schlechter Qualität:

Der Bus fährt direkt nach Coro. Krachendes TV, daily soap auf venezolanisch, ich brauche nicht lange, um mich daran zu gewöhnen und trotzdem zu schlafen. Um kurz nach fünf rüttelt mich jemand – wir sind schon da. Eine Brise, irgendwo muss das Meer sein. Mit schweren Füßen durch schmale, holprige Straßen einer Vorstadt. Ich bin ganz allein. Hunde bellen mich an, ohne mich zu sehen. Ein zartes Blau im Osten. Endlich: die Plaza von Santa Ana de Coro, gegründet 1527 vom Spanier Juan de Ampiés, der sich dazu die Erlaubnis des Kaziken Manaure holte. Die kleine Kathedrale, dem heiligen Franziskus geweiht. Als Georg Hohermuth von Speyer und Philipp von Hutten 1528 auf diesem Platz standen, war sie noch im Bau. Sonnenaufgang. Ich sitze auf einer Bank und versuche mir vorzustellen: 400 deutsche Landsknechte und sächsische Bergknappen, die hier, genau an dieser Stelle, damals, vor fast 500 Jahren, aufgebrochen sind nach El Dorado. Ich schaue auf die Uhr. Es ist unfassbar. Von Berlin nach Coro in weniger als 48 Stunden.

Warum Momente der Vollkommenheit? Weil ich beim Anblick dieser tanzenden Mädchen heimlich geweint habe. Zum Glück war es dunkel, und das Publikum achtete nicht auf mich. Ich sah für einen Moment vollkommene Schönheit.

Kurz bevor ich in die Berge aufbreche, in die Sierra de San Luis: Kultur am Abend – consejo de la dansa. Der Gouverneur des Bundesstaates Falcón, die herrschende Klasse von Coro. Tanzgruppen aus der Karibik, sogar aus Guyana! Es ist ein komisches Gefühl – wahrscheinlich bin ich der Einzige, der schon einmal in Guyana war – ausser den Guyanern selbst. Ich bin schon wieder restlos glücklich. Die Menge drängt sich in einen Hof, Lachen und Lärmen. Die Band bleibt im Hintergrund, genau wie die ältere, drahtige Frau, die mit knappen und herrischen Händen die Tänzerinnen auf der Bühne dirigiert. Niemand könnte jemals mit Worten beschreiben, wie die jungen Frauen tanzen. Wenn es Engel gäbe, sähen sie so aus wie die Mädchen aus Coro. Sie schweben über dem Boden, nicht so artifiziell wie eine europäische Ballerina, rhythmisch, aber verspielt, nicht zu vergleichen mit dem verkrampften Getue der Boy- and Girlbands bei Viva und MTV. Es ist unirdisch schön. Man spürt pralle Erotik, aber überlagert von einer Unschuld, die rührend ist. Ich muss die Tränen zurückhalten. Vermutlich habe ich mit offenem Mund dagestanden. Die Mädchen lachen und flirten miteinander, während sie umherwirbeln. Ich versuche, die Atmosphäre mit dem Fotoapparat irgendwie einzufangen, werde aber sehr traurig, als ich später die Bilder sehe: zu dunkel und ohne Bewegung. Die Tänzerinnen von Coro: das ist einer der intensivsten Eindrücke, die ich in Venezuela hatte.

Das Mädchen vor dem Coca-Cola-Schild habe ich in einem Dorf am Orinoco aufgenommen. Ich war gerührt und musste schmunzeln, als sie noch schnell versuchte, ihre Haare irgendwie zu einer Frisur zu ordnen, bevor ich sie fotografierte. Oder das Mädchen in einem Laden in Tintorero – sie war vielleicht 12 Jahre alt, aber bediente mich perfekt wie eine Erwachsene, zuckte auch nicht mit der Wimper, als ich sie fragte, ob ich sie fotografieren könnte, sondern blieb cool hinter der Theke stehen und schaute direkt in die Kamera.

Das Kind ganz untern sitzt in meiner Hängematte, seine Mutter, bei der ich ein paar Tage im „Garten“ übernachten durfte, hatte es hineingelegt. Ein perfektes Bild, für das ich nichts arrangieren musste – ich habe einfach spontan auf den Auslöser gedrückt.