Unter Drahtziehern

Burg Altena
(Credits aller Bilder BurkS | Museum Burg Altena)

Bevor wir uns mit dem hier schon erwähnten Needham-Rätsel beschäftigen, welchselbiges unsere Kenntnisse weit vorantreiben wird (nein, es wurde noch nicht gelöst), müssen wir einen kleinen Ausflug in den Frühkapitalismus in Deutschland unternehmen, sozusagen als Addendum.

Das Museum der Burg Altena eignet sich hervorragend, um die Ausnahmen zu schildern, die die Regeln bestätigen. Museen beschäftigen sich vorwiegend mit den Hinterlassenschaften der herrschenden Klasse, hier denen des Feudalismus, weil die interessanter aussehen, weniger mit dem, was die Gesellschaft antreibt – der Ökonomie.

Warum also braucht man zum Beispiel in der Landwirtschaft einen Pflug? Und hat der Folgen für die Entwicklung zum Kapitalismus?

Der Einsatz eines Pfluges in der Landwirtschaft hat folgende wesentliche Vorteile:
Bodenauflockerung: Der Pflug lockert den Boden auf, wodurch er besser durchlüftet wird.
Unkrautbekämpfung: Beim Pflügen werden Unkräuter untergegraben und so bekämpft.
Durchmischung der Bodenschichten: Nährstoffe und Pflanzenreste werden gleichmäßig verteilt.
Verbesserung der Wasseraufnahme: Aufgelockerter Boden kann Wasser besser aufnehmen und speichern.
Förderung des Pflanzenwachstums: Die verbesserten Bodenverhältnisse schaffen optimale Bedingungen für die Saat.

Die wesentlichen Nachteile des Pflügens in der Landwirtschaft sind:
Erosion: Lockerer Boden ist anfälliger für Wind- und Wassererosion.
Bodenstrukturverlust: Häufiges Pflügen kann die natürliche Bodenstruktur schädigen.
Humusabbau: Pflügen beschleunigt den Abbau von Humus und Bodenlebewesen.
Hoher Energieaufwand: Der Einsatz von Maschinen zum Pflügen erfordert viel Energie und Kraftstoff.
Kosten: Anschaffung und Betrieb von Pflügen verursachen zusätzliche Kosten.

Der älteste bekannte Pflug in Deutschland ist der aus Friesland – dreieinhalb Jahrtausende alt. Auch die Römer hatten Pflüge. Das Gerät an sich ist also nichts Besonderes. Die Kombination macht es aber: Pferde als Zugtiere von Pflügen gab es zuerst in Nordwesteuropa.

ChatGPT: In Europa werden Pferde als Zugtiere für Pflüge seit etwa dem 8. bis 9. Jahrhundert systematisch eingesetzt. Vor dieser Zeit wurden hauptsächlich Rinder (Ochsen) zum Pflügen verwendet, da sie zwar langsamer, aber kräftig und ausdauernd sind. Die effektive Nutzung von Pferden als Zugtiere setzte sich erst durch, als technische Verbesserungen eingeführt wurden, insbesondere:

– Das Kummet (ein gepolstertes Zuggeschirr), das den Druck besser verteilte und das Atmen nicht behinderte.
Verbesserte Hufeisen, die die Tritte der Pferde auf harten oder steinigen Böden schonten.

Ab dem Frühmittelalter, besonders in Nordeuropa, begannen Bauern, Pferde verstärkt zum Pflügen einzusetzen, da sie schneller arbeiten konnten als Rinder. Diese Entwicklung trug wesentlich zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität im Hochmittelalter bei. [Wir hatten das schon ähnlich in „Energie, Masse und Kraft“ (04.04.2021)

Eisen? Hat jemand Eisen gesagt?

Sichel

Bäuerliches Leben

Während im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die Bauern die zahlenmäßig und wirtschaftlich stärkste Bevölkerungsgruppe bildeten, hatten sie für das Märkische Sauerland im Vergleich zur draht- und eisenverarbeitenden Handwerkerschaft eine eher geringe Bedeutung. Schuld daran waren die Hanglagen, die ein Abschwemmen der Humusschicht begünstigten. Die kaum nährstoffreichen Grauwackenböden erforderten eine intensive Düngung, die jedoch aufgrund der wenig betriebenen Viehwirtschaft nur mit Hilfe von Laub und Brandrodung zu bewerkstelligen war. Hauptsächlich angebaut werden konnte deshalb nur der genügsame Hafer, aber auch Roggen, hingegen fast kein Weizen, dessen Produkte ohnehin als Herrenspeise galten.

Wir erinnern uns, dass man in römischen Antike vorwiegend Weizenbrot aß, weil Roggen in Südeuropa nicht so gut gedeiht.

Bis weit in 18. Jahrhundert hinein kann für die hiesige Gegend keine exakte Trennungslinie zwischen den einzelne Schichten gezogen werden. Der Adel besaß neben seinem landwirtschaftlichen Grundbesitz Anteile an der Drahtindustrie, während der Drahtzieher zur Deckung seines Nahrungsmittelbedarfs nebenbei ein wenig Landwirtschaft betrieb, und der Bauer verdient sich ein Zubrot in der Drahtrolle, um so ein karges Einkommen zu erhöhen. (Credits: Museum Burg Altena)

Statt „Schichten“ sagt der marxistische Wissenschaftler „Klassen“, die exakt nach ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt werden. Aber so einfach ist es hier – also in der sauerländischen Mark – nicht. Der Feudaladel, dem Grund und Boden fast immer gehören, mimt schon den Bourgeois, also den Kapitalisten. Und Bauern sind gleichzeitig Proletarier.

Diese Grauzone ist der Ökologie geschuldet: Erstens gab das Land für Bauern nicht genug her. Zweitens: „Das Eisen wurde während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit durch mit Wasserkraft betriebene Hammerwerke hergestellt. Diese konzentrierten sich vor allem im ländlichen Bereich des Kirchspiels Lüdenscheid“ (Wikipedia: Drahtzieher). Es muss auch Wasser bzw. Wasserkraft vorhanden sein.

Im „Mikrokosmus“ des märkischen Sauerlands treffen also verschiedene Faktoren zusammen, die begünstigen, dass sich der Kapitalismus dort – auf noch niedrigem Niveau – sehr schnell entwickelte, schneller als etwa in Bayern oder Holstein.

Pflug

Feldarbeit und Flachsverarbeitung

Der Pflug ist ein sehr typisches bäuerliches Arbeitsgerät, das sich nur sehr reiche Bauern leisten konnten. Die Eisenteile und die notwendigen Zugtiere, wie Pferde und Ochsen, waren teuer. Kleinbauern mussten sich hingegen Pflug und Zuggespann ausleihen, wodurch sich ihre Abhängigkeit von den Reichen und Mächtigen noch vergrößerte. Um dies zu vermeiden, bildeten sich seit dem frühen Mittelalter Genossenschaften, deren gemeinsames Wirtschaften die bäuerliche Mentalität prägte. Der Ausbau von Flachs nahm in der autarken bäuerlichen Arbeits- und Wirtschaftsorganisation einen großen Stellenwert ein. Er war beispielsweise das Grundmaterial für die Bekleidung wie auch Teil des Arbeitslohns der Mägde. Die Verarbeitung von Flachs war reine Frauenarbeit. Die einzelnen Arbeitsschritte, angefangen von der Flachsernte über das Trocknen bis hin zur Verarbeitung bedeuteten ausgesprochen schwere Handarbeit. (Credits: Museum Burg Altena)

Ringelpanzer

„Hauptort für die Herstellung der Ringelpanzer war bis zu deren Verschwinden aus der Kriegsrüstung die Stadt Iserlohn. Für feinere Drähte ist später das benachbarte Altena, in der heute das Deutsche Drahtmuseum beheimatet ist, die „Drahthauptstadt der Welt“. Von der Burg Altena aus wurde der Handel mit dem begehrten Osemund geschützt.“ (Credits. Museum Burg Altena)

Das Osemundeisen eignete sich besonders zum Drahtziehen. Erst auf der Basis dieses Materials konnte sich die Drahtfabrikation in den Städten Lüdenscheid, Altena und Iserlohn entwickeln. Interessant, dass die diese kleine Industrie im voll entwickelten Kapitalismus im 19. Jahrhundert wieder verschwindet, da sie nicht wirklich für Massenherstellung taugt.

drahtzieher
Um zu verhindern, dass die Altenaer Drahtzieher infolge der durch Brand zerstörten Drahtrollen auswandern und ihre Lehre verbreiten, bestätigt Herzog Wilhelm der Freiherr* Altena das Privileg, dass kein Drahtzieher Altena verlassen und sein Handwerk an einem anderen Ort ausüben darf.

„Voll“ entwickelt heißt auch, dass niemand der Ware Arbeitskraft den Arbeitern vorschreibt, wo sie sich denjenigen anbieten, der ihre Ware – also ihre Arbeitskraft und nur die – nimmt (die im suggestiven Kapitalismus-affinen Neusprech merkwürdigerweise „Arbeitgeber“ genannt werden). Die Vorschriften, die etwa Handwerkern gemacht wurden (vgl. oben), nicht wegzuziehen, sind der Konkurrenz im Wege – so etwas wird heute dem Markt der Ware Arbeitskraft überlassen.

Belegschaft der Firma Carl Rahmede
Belegschaft der Firma Carl Rahmede, um 1880. „Dieses Foto zeigt, wie viele Kinder damals in einer Drahtfabrik in Altena arbeiteten. Dabei gab es schon Beschwerden der Handelskammern. Sie fürchteten einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, wenn der Einsatz der Kinder als billige Arbeitskräfte eingeschränkt würde.“ (Credits: Museum Burg Altena)

Damals kannte auch das sentimentale Herumlamentieren nicht. Kinderarbeit war billiger, also wurde sie genommen. Das war bei den Bauern im Spät- und Hochmittelalter auch nicht anders. Das Verbot der Kinderarbeit ist ein Produkt des Spätkapitalismus. (StandardwerkPhilippe Ariès: Geschichte der Kindheit, 1960, dt. 1975)

Belegschaft der Besteckschleiferei der Firma Carl Berg
„Belegschaft der Besteckschleiferei der Firma Carl Berg, 1897 (Reproduktion). Auf diesem Foto sind mehrere Kinder als Arbeiter zu erkennen.“ (Credits: Museum Burg Altena)

* Gemeint ist vermutlich Johann Wilhelm (Jülich-Kleve-Berg), da der „prominentere“ Wilhelm (Jülich-Kleve-Berg) schon 1592 gestorben ist.
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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)
– Mongolen, Ming und Moguln (Die Kinder des Prometheus Teil III) (09.03.2025)
– Abstrahierte ökonomische Universale, revisited (08.05.2025)
– Unter Drahtziehern (29.06.2025)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) (05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) (27.12.2020)