Unter Altlinken

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Telepolis (Teseo La Marca): Wer sich heute politisch links einordnet, muss sich einer ernüchternden Realität stellen: Mit der Identitätspolitik zerstören Linke gerade ihr eigenes Wertefundament. (…) Ich war einmal ein Linker. Ich sage es ohne Scham und ganz unbefangen, so wie man über private Dinge spricht, wenn sie schon längst hinter einem liegen. Wenn man nichts mehr damit zu tun hat. Links sein, das bedeutete für mich, für soziale Gerechtigkeit einzustehen, für Chancengleichheit, für Gleichberechtigung und, wo es sein musste, für Umverteilung. und, wo es sein musste, für Umverteilung. Von oben nach unten, versteht sich.

Einspruch, Euer Ehren! Wenn alle anderen bekloppt sind, heißt das noch lange nicht, dass man an der eigenen Meinung zweifeln müsste! (Ja, ich weiß, meine Sekten-Sozialisation schimmert wieder durch.)

Warum sollte ich kein Linker mehr sei, auch wenn die Partei, die sich hierzulande so nennt, mit „links“ so viel zu tun hat wie ein Stück Tofu mit Rindergulasch? Links sein bedeutet mitnichten, „für soziale Gerechtigkeit einzustehen, für Chancengleichheit, für Gleichberechtigung und, wo es sein musste, für Umverteilung.“

Das kommt davon, möchte man hinzufügen, wenn man aus dem Bauch argumentiert und nach Gefühl. Was soll denn „sozial gerecht“ sein außer etwas doppelte Gemoppeltem? Dann kann ich auch gleich sozioökologischnachhaltig sagen wie die Sprachblasenfacharbeiter aus der „Linken“. Im Kapitalismus ist nichts „gerecht“, wenn man die ersten 100 Seiten vom „Kapital“ verstanden hat. Ausbeutung ist ein Feature des System und kein Fehler, den man beseitigen müsste oder gar könnte.

Das gilt auch für die anderen moraltheologischen Begriffe „gleiche Chancen“ (wie soll das gehen?) oder Gleichberechtigung (vom wem? Kerlen und Weibern? Cissen und Transen und Ladyboys? Kapital und Arbeit? Verehrer höherer Wesen und Atheisten?). „Umverteilung“ ist das Schlimmste und führt nur zu Robinhoodisierung der Politik. Wir nehmen es den Reichen und geben es den Armen, die es dann versaufen oder anders sinnvoll verprassen wie George Best.

So nicht, um Rainer Barzel zu zitieren. Natürlich ist „links“ zu sein letztlich eine moralische Haltung, deren Wurzeln in der Kindheit zu suchen sind, in Begegnungen mit prägenden Personen, die Vorbild waren, auch aus Gründen, die den eigenen gar nicht entsprechen müssten.

Beispiel: Mein Großvater hat russischen Kriegsgefangenen Lebensmittel heimlich zugesteckt, obwohl das streng verboten war und ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Niemand sonst hat sich das getraut. Warum? Manchmal muss man eben den Mut haben, etwas zu tun, was die Mehrheit nicht kann und will, weil das gut ist und menschlich. Wer nur moralisch handelt, weil die Anderen einen dafür anerkennen und loben, ist nur ein Opportunist.

Zur Moral muss die Wissenschaft kommen und ein solides Fundament aus historischen Fakten. Man steht doch in einer Tradition und auf den Schultern der Alten. Das soll nicht mehr gelten, weil die heutigen Linken sich mehr um Sex und Hautfarbe und um alberne sprachpolizeiliche Vorschriften kümmern als um Klassenkampf oder weil Religion wieder als etwas gilt, dass man angeblich tolerieren müsste und nicht aktiv bekämpfen?

Raue Zeiten für Linke gab es schon oft. Wir leben doch hier noch bequem. Das vermutlich ist das Problem. Wenn die „kleinen Leute“ sich nicht bewegen, kann man nichts herbeibeschwören. Die „Linke“ hat den Kontakt zu denen, deren Lobby sie sein sollte, schlicht verloren. Das hat mir ihrer gegenwärtigen Klassenbasis zu tun. Was will man von Studentglottisschlaginnen erwarten oder von den moralisch unerbittlichen Guten, die sich mehr um „Flüchtlinge“ kümmern als um die Armut in der Nachbarschaft? Diese Attitude halte ich sowieso für politischen Sextourismus (um voll mikroaggressiv zu ein), um sich und der peer group zu zeigen, wie großartig man ist. Da gründe ich dann lieber ein Heim für gefallene Mädchen.

Die Konsequenz ist eine traurige Lücke in der linken Debattenlandschaft von heute: Menschlichere Produktionsbedingungen, gerechte Löhne, Ressourcenausbeutung und Überfischung durch westliche Konzerne im Globalen Süden, gerechtere Handelsbeziehungen oder Maßnahmen gegen Kindesmisshandlung sind Themen, die kaum noch vorkommen. Diejenigen, die keine Stimme haben, haben ihren wichtigsten Fürsprecher verloren.

Der Dichter Bertolt Brecht, nach heutigen Maßstäben ein wahrer Altlinker, mahnte seine Gesinnungsgenossen frühzeitig vor solchen Entgleisungen: „Sorgt doch, dass ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!“

Eine „Lücke in der linken Debattenlandschaft“? Dann sollte er vielleicht auf auf dem altlinken Blog burks.de vorbeischauen…